34
Es hatte ängstliche Momente in der Nacht gegeben. Der Rest des Nachmittags war unter schweren Wolken, starken Winden und gelegentlichen Güssen sowie den allgegenwärtigen Donnerschlägen und Blitzen rasch vergangen.
Sie waren den Dordovanern mehrere Stunden voraus, als der Abend kam, und noch etwa eine Stunde hinter der Meerulme. Jeder vernünftige Kapitän hätte längst befohlen, den Anker zu werfen, sobald sie in den Kanal zwischen den äußersten Inseln des Ornouth-Archipels eingefahren waren, doch dies war eine Möglichkeit, die Jevin nicht offen stand.
Die Meerulme wurde nicht langsamer, und Jevin konnte es sich nicht erlauben, das schlanke, schnelle Elfenschiff aus den Augen zu verlieren. Auch durften die Dordovaner, die ihnen folgten, nicht zu ihnen aufschließen. So musste seine Mannschaft eine schlaflose Nacht verbringen. Wer nicht unmittelbar damit beschäftigt war, das Schiff zu segeln, war an Backbord, Steuerbord, am Bug und am Heck als Wache eingeteilt. Bleilote wurden ausgeworfen und hinabgelassen, um festzustellen, wie viel Platz noch unter dem Kiel war. Die Wellen wurden kleiner, sobald sie die geschützten Gewässer erreichten. Die Ausgucke riefen ständig Lagemeldungen herunter.
Ren war die ganze Nacht auf dem Ruderdeck geblieben und hatte Jevin Hinweise auf sichere Durchfahrten gegeben und seine Nerven beruhigt, als sein Schiff der Meerulme folgte und dabei einer Felswand, vor der sich die tiefste Fahrrinne befand, gefährlich nahe kam.
Nachdem die Besprechung beendet war und die Magier sich ins Bett gelegt hatten, um ihre Mana-Reserven aufzufrischen, blieben Hirad, der Unbekannte und Darrick in der Kapitänskajüte sitzen, sprachen Verteidigungsstrategien durch und schätzten ihre Kräfte ein. Auf dem Tisch standen noch die Reste der Mahlzeit, und die drei Männer pickten darin herum und spülten mit einem leichten, mit Wasser verdünnten Wein nach.
Der Unbekannte war in Gedanken; er hatte das verletzte Bein ausgestreckt und massierte unablässig seine Hüfte, während er eine Grimasse schnitt.
»Es wird Zeit, dass du uns sagst, wie es aussieht«, meinte Hirad. »Wir müssen deine Verfassung in unserer Planung berücksichtigen.«
»Ich will Aeb auf meiner linken Seite haben«, erklärte der Unbekannte. »Davon abgesehen brauche ich keine besondere Behandlung, klar? Das können wir uns nicht leisten.«
»So leicht kommst du mir nicht davon. Sag mir, wie es sich anfühlt.«
»Steif und schwach«, gestand der Unbekannte. »Ich hatte nicht genug Zeit, um die Muskulatur wieder aufzubauen, deshalb ist im Augenblick nur das da, was Erienne geflickt hat. Es behindert mich, und auch wenn Erienne sagt, es werde sich geben, habe ich nicht die Bewegungsfreiheit, die ich gern hätte.« Er nagte an der Unterlippe. »Das Kämpfen wird nicht leicht.«
»Also?«
»Also werde ich das Zweihandschwert nicht benutzen. Ich habe nicht genug Kraft, um damit wirkungsvoll zuzuschlagen. Die Elfen haben einige Reserveklingen an Bord. Nicht ganz das, woran ich gewöhnt bin, aber wir haben keine Wahl. Ich werde in der linken Hand wohl einen Dolch haben.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, Hirad, es sieht so aus, als sei ich ein Schwachpunkt.«
Hirad zog die Augenbrauen hoch. Darrick konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
»Ein Schwachpunkt?«, entgegnete der General. »Du bist möglicherweise von ›besser als alle anderen‹ auf ›besser als die meisten‹ reduziert, aber das ist auch alles.«
»Wir können es im Moment sowieso nicht ändern«, ergänzte Hirad. »Sage mir, Unbekannter, nach allem, was wir von Ren und Erienne erfahren haben, wo liegen deiner Meinung die größten Probleme?«
Der Unbekannte blies die Wangen auf. »Nun, sie werden nicht von der Landestelle aus direkt den Weg hinaufstürmen, oder? Da dürften ohnehin Schutzsprüche eingerichtet worden sein; sie können fliegen und sind fähig, Schwertkämpfer über kurze Distanzen zu tragen. Daher müssen wir mit Angriffen aus allen Richtungen rechnen. Wenn wir nicht einige Zugänge des Hauses versperren können, werden wir überrannt. Und wenn wir das Haus nicht gegen ein magisches Trommelfeuer verteidigen können, dann ist sowieso alles zu spät.«
»Glaubst du, sie werden es zuerst mit Magie versuchen?« , wollte Hirad wissen.
»Ich würde es tun«, sagte Darrick. »Damit bringen sie das Leben ihrer Männer gar nicht erst in Gefahr, und möglicherweise erreichen sie schnell, was sie haben wollen.«
»Können wir das irgendwie verhindern?«, fragte Hirad.
»Das kommt darauf an, wie viele Protektoren du außerhalb des Hauses einzusetzen wagst«, erklärte Darrick. »Die Dordovaner rechnen vermutlich damit, dass wir irgendwo eine massierte Verteidigung aufbauen. Sie wissen, dass wir nur ein Schiff haben, und dadurch wissen sie, dass auch unsere Zahl begrenzt sein muss.«
»Allerdings haben sie keine Ahnung, auf welchen Widerstand sie auf der Insel selbst stoßen werden.«
»Das ist wahr, doch sie können rasch feststellen, dass es keine größeren Truppen dort gibt, sobald ihr Angriff beginnt«, sagte Darrick. »Wenn wir die Protektoren außerhalb des Hauses verstecken, könnten sie Magiergruppen angreifen, die gerade Sprüche wirken. Der Erfolg dieses Manövers hängt allerdings davon ab, wie viele Schwertkämpfer sie mitgebracht haben und welches Risiko wir aus ihrer Sicht darstellen.«
»Wie viele Protektoren würdest du von der Verteidigung des Hauses abziehen?«
»Höchstens acht. Aber es hängt stark vom Gelände ab. Sie müssen von oben ebenso wie vom Boden aus unsichtbar sein. Jedenfalls sollten wir diesen Schachzug ernsthaft erwägen.« Der General goss Wasser in seinen Kelch.
»Sonst noch etwas?« Hirad sah den Unbekannten fragend an. »Ich weiß, dass wir nichts als gegeben annehmen können, aber wir haben keine Zeit mehr, uns ratlos am Kopf zu kratzen, wenn wir angekommen sind.«
»Wir haben nicht sehr viele Möglichkeiten«, antwortete der Unbekannte. »Wir sollten unsere Kräfte nicht zersplittern, wenn es nicht unbedingt sein muss, aber Darricks Idee könnte nützlich sein, wenn wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben. Es hängt viel davon ab, in welcher Verfassung die Al-Drechar sind. Wir sollten es vermeiden, dass die Rabenmagier ihre Kräfte darauf verwenden, das Haus abzuschirmen, falls es so weit kommen sollte. Wir sollten uns eher darauf konzentrieren, die Schwertkämpfer draußen zu halten.«
Der Unbekannte schnaufte schwer und stand auf. Er zuckte zusammen, als er das Knie und die Hüfte belastete.
»Ich muss mich ausruhen. Vorher laufe ich noch etwas auf Deck herum, um mich zu lockern. Kommt jemand mit?«
»Ja, warum nicht?«, stimmte Hirad zu.
Darrick nickte und lächelte. »Dann lasse ich euch zwei mal besser allein. Ich werde eine Weile in meiner Koje rotieren und zu schlafen versuchen.«
»Wir sehen uns morgen Früh«, sagte Hirad. »Und versuch doch, mit nicht allzu vielen blauen Flecken aufzuwachen, ja?« Hirad wandte sich wieder an den Unbekannten. »Komm schon, alter Mann, lass uns die müden Knochen nach oben hieven.«
»Siehst du diese Faust hier? Die ist immer noch völlig in Ordnung. Ich bin sicher noch nicht so kaputt, dass ich dich nicht mehr umhauen könnte, Coldheart«, sagte der Unbekannte.
»Dazu musst du mich erst mal kriegen.«
Die beiden Freunde gingen aufs Deck.
In der Morgendämmerung wurde die Calaianische Sonne langsamer. Der Wind heulte um die Inseln von Ornouth und zerrte an den Bäumen, die auf den Hängen standen. Jevin musste die Segel reffen. Vor ihnen hatte die Meerulme bereits das Gleiche getan. Zweifellos würden die Dordovaner ihrem Beispiel folgen, wenn sie die unberechenbaren, wechselnden Böen in diesem Bereich bemerkten.
Sie segelten zwischen zwei größeren Inseln des Archipels durch einen breiten Kanal. Die Wolken hingen tiefer denn je und verhüllten die Hügel und Berggipfel, wallten träge und zähflüssig in die Täler hinunter und brachten immer mehr Regen mit. Das einzig Angenehme hier war der Seegang, der schwächer war als auf offener See. Die Wellen krachten zwar heftig auf die kahlen Ufer, und die Gischt wurde vom Wind verteilt, doch in den schmaleren Kanälen war es ruhiger.
Ren stand wie schon während der ganzen Nacht auf dem Ruderdeck und wandte keinen Moment den Blick vom Heck der Meerulme. Sie wartete auf ein Zeichen, dass sie in die Beiboote umsteigen sollten. Jede Stunde, die sie länger an Bord bleiben konnten, machte ihre Aufgabe ein wenig einfacher. Sie schätzte, dass sie immer noch eine ganze Tagesreise vor sich hatten, da sie inzwischen sehr langsam fuhren. Die Segeljollen waren bei dieser Witterung schwieriger zu bedienen, kämen aber wahrscheinlich etwas schneller voran.
Auf Deck standen Matrosen auf Freiwache, der Rabe und die Protektoren herum. Niemand außer dem Koch war noch unter Deck, und selbst er hatte Befehl, an Deck zu kommen, wann immer er seine Töpfe einen Moment allein lassen konnte. Jevin war sichtlich nervös und wollte, dass alle bereit waren, falls sie auf Grund liefen. Neben den Matrosen, die mit Bleiloten das Fahrwasser maßen, das ihren Rufen nach nur wenige Fuß tiefer war als der Kiel des Schiffs, standen Protektoren bereit, um unter Anleitung von Elfen sofort die Boote zu Wasser zu lassen.
Auf einmal bebte das Schiff und wurde stark abgebremst. Ein Knirschen lief schrecklich langsam unter ihnen den ganzen Kiel entlang und wurde verstärkt, als die Schiffsbalken die Schwingung übertrugen. Aller Augen suchten das Meer ab, die Matrosen mit den Loten schüttelten die Köpfe. Die Schwingungen setzten sich fort.
»Haltet sie gerade«, sagte Jevin mit gepresster Stimme. Er hatte die Reling so fest gepackt, dass seine Knöchel weiß anliefen.
Ren stand neben ihm und wartete, dass aus dem Schleifen jenes Knacken und Splittern wurde, das der Kapitän fürchtete. Eine Ewigkeit lang rutschten sie über den Meeresboden, manchmal schwer und manchmal von der leichten Dünung fast befreit. Doch es gab kein Splittern, und nirgends brach das Wasser durch ein Leck ins Schiff. Schließlich hörte das Knirschen auf.
Jevin wandte sich mit bleichem Gesicht an Ren’erei. Er schnaufte schwer.
»Das war Sand«, sagte er leise. »Aber beim nächsten Mal könnte es etwas anderes sein. Wie weit ist es noch?«
»Nicht mehr weit«, erwiderte Ren, obwohl sie es selbst nicht genau wusste. Auch sie zitterte. »Es wird schon gut gehen, wir können uns auf sie verlassen.«
»Vorausgesetzt, der Kapitän ist noch am Leben«, sagte Jevin. »Ich will das meiner Mannschaft nicht länger zumuten, und meinem Schiff auch nicht. Auf was für ein Zeichen wartet Ihr eigentlich?«
Ren wollte schon mit einem Achselzucken antworten, doch als sie wieder zur Meerulme blickte, begann sie zu strahlen.
»Das da«, sagte sie. »Das ist es.«
Selik stürmte aufs Ruderdeck, zwei seiner Handlanger folgten ihm.
»Ihr solltet einen guten Grund nennen können, warum Ihr den Kurs gewechselt habt«, knirschte er und versetzte dem Kapitän einen Stoß.
»Ihr habt die Kanäle gesehen, und Ihr habt gehört, wie die Tiefen gemeldet wurden«, entgegnete der Kapitän. »Wir kommen nicht ans Ziel, wenn wir geradeaus fahren.«
»Ihr lügt«, sagte Selik. »Ich sehe es in Euren schrägen Elfenaugen. Bringt das Schiff wieder auf Kurs. Glaubt Ihr denn, ich bin blind?«
»Nein, aber solange Ihr über die Durchfahrtstiefen des Kanals, den wir gerade verlassen haben, keine besseren Informationen habt als ich, würde ich vorschlagen, dass Ihr mich meine Arbeit tun lasst. Warum sollte ich Euch eigentlich in die Irre führen? Ich bringe Euch gern zur Insel. Ich freue mich darauf, dass Ihr dort bald bestattet werdet.«
Selik trat etwas zurück und dachte nach. »Ihr müsst mich für dumm halten«, sagte er leise. »Wie lange dauert es, bis wir wieder wenden?«
»Einen halben Tag«, sagte der Kapitän. »Es hängt vom Wind ab. Wenn Ihr mir nicht glaubt, dann tötet mich und steuert das Schiff selbst ans Ziel.«
Seliks Augen funkelten kalt.
»Das ist ein Zeichen?«, fragte Jevin.
»Ja«, sagte Ren. »Weil es eigentlich geradeaus geht. Wir müssten erst hinter der nächsten Insel wieder abbiegen.«
Jevin nickte. »Ich verneige mich vor Eurem Wissen. Was wollen wir jetzt tun?«
»Wenn Ihr könnt, dann segelt bis zu der Stelle, an der sie abgebogen sind. Dreht dort bei, dann setzen wir die Boote aus, die wir brauchen, und fahren weiter. Ihr könnt entweder der Meerulme folgen, bis Ihr ruhiges Wasser findet und Euch verbergen könnt, oder Ihr fahrt zurück. Ich kenne keinen anderen Weg aufs Meer hinaus. Ihr müsst es selbst entscheiden.«
»Was liegt da auf der Backbordseite?«
»Eine Insel hinter der anderen. Auf jenem Weg könnt Ihr Herendeneth nicht erreichen, aber Ihr werdet eine Tagereise entfernt eine Lagune finden, in der Ihr sicher ankern könnt. Dort könnt Ihr Euch verstecken und ausruhen. Aber haltet Euch dicht an der Küste auf der Steuerbordseite. Das Schelf fällt direkt vor der Küste der Inseln steil ab. Die Backbordseite ist voller Riffe, die knapp unter der Oberfläche liegen.«
Jevin nickte noch einmal. »Und was ist mit der Meerulme?«
»Ich weiß es nicht.« Ren war sichtlich besorgt. »Ich nehme an, er wird versuchen, die Schwarzen Schwingen so weit in die Irre zu führen, wie es überhaupt möglich ist. Er ist ein sehr tapferer Elf.«
»Ich werde tun, was ich kann.«
»Danke.«
Schweiß mischte sich auf der Stirn des Kapitäns mit dem Regen und der salzigen Gischt, während die Calaianische Sonne bis zu der Stelle durch den Kanal schlich, an der die Meerulme abgebogen war. Schließlich drehten sie bei und richteten den Bug aus, um dem anderen Elfenschiff zu folgen, das sich wieder von Herendeneth entfernte.
Das Deck war voller Männer und Elfen und Kisten mit Lebensmitteln. Die Protektoren standen an den Davits bereit, die aus dem Laderaum hochgeschafft und auf Deck eingerichtet worden waren. Sie hoben die Beiboote hoch, setzten sie in die Flaschenzüge und ließen sie an der Leeseite des Schiffs hinab. Dann kletterten sie rasch an den Netzen hinunter und nahmen die Ruder. Ihre Ausrüstung war vorn und hinten unter Planen verstaut.
Jevin hatte zwei Beiboote vorbereiten lassen, auf die sich die Protektoren verteilten. Darrick und Ren fuhren in einem Boot, und Thraun kam mit, auch wenn er noch im Tiefschlaf gehalten wurde. Hirad duldete in dieser Hinsicht keinen Widerspruch.
»Wenn wir alle sterben, dann sind wir wenigstens zusammen. Thraun muss dort sein, wo die Al-Drechar ihm helfen können«, sagte er.
Der Rabe fuhr in einer Segeljolle. Mehr als diese drei Beiboote konnte Jevin nicht entbehren. Er wollte mit seiner Mannschaft nicht ohne jede Fluchtmöglichkeit dastehen, falls sie Schiffbruch erlitten.
Elfen schwärmten auf die Jolle und setzten den Mast ein. Das Segel war bereit, blieb aber vorerst noch gerefft, und sie halfen dem Unbekannten herunter, der Mühe hatte, in den Netzen zu klettern. Die Schmerzen in der Hüfte trieben ihm die Tränen in die Augen. Er wollte sich nicht setzen und hielt sich am Mast fest, als sie segelten. Hirad wechselte besorgte Blicke mit Ilkar, als sie dem Unbekannten zuschauten. Sie setzten sich nach vorn; Ilkar war schon beim bloßen Gedanken an eine Seereise in einem kleinen Boot erbleicht. Denser übernahm die Ruderpinne. Er konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Erienne setzte sich zu ihm.
»Das alte vertraute Gefühl«, sagte er.
»Allerdings war die Bucht von Triverne verglichen mit dem hier ein Tümpel«, entgegnete Ilkar. »Trotzdem hat es sich bei deinen Manövern angefühlt wie raue See. Ich kann gar nicht glauben, dass wir dich noch einmal ans Steuerruder lassen.«
»Ich sehe hier keine anderen Freiwilligen.« Denser wandte sich an Erienne, die ihrerseits nach Herendeneth blickte. Sie hatte die Arme um den Bauch geschlungen; ihre Schultern waren angespannt.
»Wir sind bald da, Liebste«, sagte Denser.
»Ich weiß.« Erienne drehte sich halb zu ihm herum. »Ich habe sie so sehr vermisst, aber …« Sie brach ab und schluckte.
»Wir können immer noch hoffen«, sagte Denser, auch wenn er keinerlei Hoffnung mehr hatte.
»Nein, können wir nicht«, widersprach sie. »Wir wollen einfach nur sicher dort ankommen, und zwar möglichst schnell.«
Hirad stieß sie vom Schiff ab, sie verabschiedeten sich winkend von der Mannschaft, die ihnen zusah, und nahmen Fahrt auf. Der Unbekannte setzte das Segel, das sich rasch blähte. Sie folgten den Protektoren.
Der Kapitän der Meerulme hatte sie längst gesehen, bevor der Ruf ertönte. Er ging übers Ruderdeck nach hinten und beugte sich vor. Ein dordovanischer Magier spähte angestrengt ins Zwielicht. Selik eilte zu ihm.
»Verdammt«, murmelte der Kapitän. Er kehrte zum Rudergänger zurück und stellte sich neben ihn. »Verlasse das Deck. Wenn Seliks Magier sie gesehen hat, dann kommt er hoch und tötet mich. Du weißt, was du zu tun hast.«
»Aye, Käpten.«
»Vergiss nicht, das Eine muss überleben, und die Al-Drechar sind wichtiger als alle unsere Gefühle. Wir haben getan, was wir konnten.«
Der Kapitän drängte ihn zur Leiter, übernahm selbst das Steuerruder und schaute entschlossen nach vorn. Unter ihm eilte der Rudergänger übers Deck, um mit dem Bootsmann und dem Ersten Maat zu sprechen. Die beiden sahen in seine Richtung, nickten leicht und machten sich an die Arbeit.
Der Kapitän hörte rennende Füße. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und er packte das Steuerruder fester. Hände klatschten auf die Leiter, und Seliks Kopf erschien. Der Gesichtsausdruck beantwortete die stumme Frage des Kapitäns. Hinter ihm kamen zwei Magier und ein Handlanger. Selik schritt zum Kapitän, packte seine Kehle, schob ihn vor sich her und zog mit der freien Hand einen Dolch. Sein entstelltes Gesicht war vor Wut verzerrt.
»Nun sagt es mir«, verlangte er vom Kapitän. Er drehte sich über die Schulter um. »Du da, übernimm das Steuerruder und halte es so, wie es jetzt steht. Vorläufig jedenfalls.« Selik hob den Dolch höher, die Spitze war nur noch einige Fingerbreit vom rechten Auge des Kapitäns entfernt. »Redet.«
»Ihr habt Euch nicht einmal die Mühe gemacht, es zu überprüfen, was?«, entgegnete der Kapitän. »In Eurer Überheblichkeit habt Ihr geglaubt, ich gäbe einfach nach und ließe Euch das Heiligste in meinem Leben zerstören. Nun, meine Arbeit ist jetzt getan. Ihr habt Erienne verloren, und ich habe diejenigen, die fähig sind, Euch aufzuhalten, auf den richtigen Weg geführt, während wir in eine ganz andere Richtung segeln. Und währenddessen dreht sich die Welt ein wenig weiter, und Eure Hoffnungen, den Mord zu begehen, schwinden dahin.«
Selik sah ihn an, sein Mund stand offen, und etwas Speichel rann aus dem schlaffen, gefühllosen linken Mundwinkel. Er trat sogar ein Stückchen zurück, ließ die Dolchspitze jedoch, wo sie war.
»Man darf den Gerechten keinen Widerstand leisten«, flüsterte er. Ein fanatisches Funkeln entstand in seinen Augen. »Ihr habt alle lebenden Geschöpfe Balaias verraten.«
Der Kapitän konnte sehen, wie der Hass aufflammte. Die Hand spannte sich fester um seine Kehle, und der Dolch wackelte vor ihm. Die schimmernde Spitze suchte noch ihr Ziel. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
»Ihr kommt zu spät, Selik. Erienne wird mit ihrem Kind vereint sein, und sie werden Euch und alles, was Ihr verkörpert, vernichten. Wenn es das ist, was ich verrate, dann will ich Euch zustimmen. Also stoßt zu mit Eurem Dolch, Mann der Schwarzen Schwingen. Ihr könnt mir nicht mehr drohen, Ihr könnt mich nicht mehr verletzen.«
Selik sah sich über die Schulter um. Unter vollen Segeln und in ruhigem Wasser machte die Meerulme, vor den Stürmen geschützt, gute Fahrt. Wohin, das wusste nicht einmal der Kapitän, und es war ihm einerlei. Irgendwann würde sich der Meeresgrund dem Kiel entgegenheben, aber der Kapitän wäre dann schon nicht mehr am Leben und würde es nicht sehen.
Der Dolch kam noch näher. Der Kapitän zuckte nicht zusammen.
»Und wenn ich Euch töte, wird sich die Mannschaft natürlich weigern zu segeln, was? Ihr könnt mich nicht für dumm verkaufen«, sagte Selik.
Der Kapitän lachte. »Seht Euch doch um, Selik. Sie weigern sich jetzt schon. Ihr habt verloren, und ich habe gewonnen.«
Selik riss den Kapitän herum, damit er das Schiff überblicken konnte. Die Elfenmannschaft saß oder stand bewegungslos in der Takelage oder bei den Tauen und Stagen. Sogar die Schrubber und Eimer lagen unbeachtet auf dem Deck, und die Lote waren zusammengerollt worden. Kein Matrose rührte sich. Alle warteten.
»Wendet dieses verdammte Schiff!«, brüllte Selik. »Oder euer geliebter Kapitän stirbt.« Keiner bewegte sich.
»Euer Mann hat das Steuerruder«, sagte der Kapitän.
»Allerdings«, höhnte Selik.«Das hat er. Bringe uns in die Mitte des Kanals.«
»Aber …«
»Jetzt sofort! Das kann doch nicht so schwer sein. Dreh das Rad herum.« Der Kapitän sah zu, wie der Kämpfer der Schwarzen Schwingen das Steuerruder herumwarf. Die Meerulme folgte, und die Segel flatterten einen Augenblick wild, ehe sie den Wind aus der neuen Richtung wieder aufnahmen. Sie hätten getrimmt werden müssen, um den Wind wirklich auszunutzen. Der Kapitän musste sich nicht umdrehen, um zu sehen, was seine Mannschaft jetzt tat. Alle verließen ihre Posten und stellten sich unter das Ruderdeck oder kamen so nahe, wie ihre Besatzer es erlauben wollten.
»Geht wieder an die Arbeit!«, rief Selik.
»Niemand darf das Schiff ohne Erlaubnis des Kapitäns wenden«, sagte der Kapitän leise. »Sie werden keinen Finger rühren, wenn Ihr etwas befehlt.«
Doch Selik sah, wie die Segel sich wieder füllten und das Schiff die Wende vollendete. Das höhnische Lachen war wieder da. »Es sieht so aus, als brauchte ich Euch sowieso nicht mehr, mein guter Kapitän. Ich denke nicht, dass Eure Besatzung nur wegen irgendeiner altmodischen Vorschrift der Seefahrt ins Verderben rennen will. Ihr dagegen werdet nicht mehr die Gelegenheit bekommen, es herauszufinden.«
Als der Dolch nach oben stach und einen kleinen Moment lang ein scharfer Schmerz in seinem Kopf tobte, wusste der Kapitän, dass Selik ihm bald folgen musste, wenn die Götter der See ihn zu sich nahmen.
Sie würden ihr Urteil fällen und Vergeltung fordern.