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11

Eine Tagesreise nördlich von Arlen fand Selik endlich ein Ventil für seine Wut und seine Frustration. Der Ritt zur Stadt, in der er sich, wenn die Berichte zutrafen, mit dem größten Teil seiner Schwarzen Schwingen einquartieren musste, war in brütendem Schweigen und unangenehm verlaufen.

Das Wetter war äußerst wechselhaft, und er war entweder durchgefroren oder durchnässt gewesen. Der Wind hatte ihn öfter, als er sich erinnern konnte, beinahe vom Pferd gefegt, und schließlich hatte ihm ein Hagelschauer Hautfetzen aus dem Gesicht gerissen.

Immer noch glaubten die meisten Menschen in Balaia, dies seien nur Kapriolen des Wetters. Sie hatten nicht begriffen, was dahintersteckte. Warum sollten sie sich auch Gedanken machen? Schließlich hatten die Magier den Verstand der Menschen die meiste Zeit so gut im Griff, dass die Wahrheit wie etwas erschien, das an Ketzerei grenzte. Er jedoch konnte nachts nicht ruhig schlafen. Die Magie erzeugte all dieses Chaos im Land. Sie war ein Krebsgeschwür, das ausgemerzt werden musste.

Vuldaroq hatte ihm ausführliche Erklärungen zur Tinjata-Prophezeiung gegeben und ihm erklärt, dass die Hexe und das Kind die Einzigen waren, denen man Vorwürfe machen musste, doch Selik wusste, dass dies keineswegs zutraf. Wenn die Magie selbst das Problem war, dann hielten alle Magier zusammen wie Pech und Schwefel. Die Zeit der Nachsicht den Kollegien gegenüber war jedoch vorbei.

An den Grenzen von Easthome verlor er endgültig die Geduld. Es war eine kleine bäuerliche Gemeinde mit etwa einhundertfünfzig Familien. Der Ort lag nahe genug an Arlen, um noch vom blühenden Handel der Hafenstadt zu profitieren. Die schwer arbeitenden Menschen bestellten das Land schon seit Generationen, sie konnten sich von den Erträgen ernähren und die Überschüsse auf Arlens geschäftigen Märkten verkaufen; ihr Getreide wurde sogar nach Calaius geliefert. Aber nicht in diesem Jahr.

Als der Spätnachmittag allmählich in den Abend überging, ritt Selik mit seinen acht Gefolgsleuten ins Dorf ein, um noch einmal Quartier zu nehmen, ehe sie sich am folgenden Tag mit den übrigen Schwarzen Schwingen in Arlen trafen. Während sie sich dem Ort näherten, konnten sie sehen, welches Unglück Easthome getroffen hatte. Das Getreide war flachgedrückt, Zäune und Hecken waren aus der Erde gerissen, Scheunen und Bauernhöfe ohne Dächer, Ställe zusammengebrochen.

An einem Bauernhaus zügelte Selik sein Pferd vor einem Mann, der auf seinen zerstörten Acker starrte und kaum auf die Männer achtete, die vor ihm anhielten. Selik stieg ab, und jetzt endlich drehte sich der Bauer zu ihm um. Unglauben und Verzweiflung standen ihm ins Gesicht geschrieben. Er war ein junger Mann, noch nicht einmal dreißig, mit kräftigem, muskulösem Körper, hellem Haar und eckigem Kopf.

»Was ist geschehen?«, fragte Selik.

Der Bauer sah ihn an, dann betrachtete er die Männer, die auf den Pferden sitzen blieben.

»Schwarze Schwingen?«, fragte er. Selik nickte. »Seid Ihr gekommen, um den Wind davon abzuhalten, so heftig zu wehen? Lasst uns das lieber allein regeln. Wir wollen keinen Ärger.«

»Wir wollen Euch auch keinen Ärger machen«, nuschelte Selik. Er versuchte sogar zu lächeln. »Hat der Wind dies hier angerichtet?«

Der Bauer nickte. »Ist gestern erst aus heiterem Himmel aufgekommen. Der Himmel war blau. Wir haben alle unsere Ernte verloren. Einige sogar Tiere und ihre Häuser. Ich gehöre hier noch zu den Glücklichen, falls man das so ausdrücken kann.« Er drehte sich wieder zu seinem Acker um. »Ich meine, es ging uns gut hier, und … wir haben auch noch Korn im Speicher, damit können wir uns selbst durchbringen, aber sonst niemanden. Vor vier Tagen sind jedoch mehr als hundert aus Orytte gekommen, die alles verloren haben.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Selik, auch wenn er sich gut vorstellen konnte, was passiert war. Der Bauer bestätigte seine Gedanken.

»Das Meer hat die Stadt genommen«, sagte er. »Die Überlebenden erzählen, die meisten Einwohner seien ertrunken. Wir hätten sie lieber nach Arlen geschickt, aber sie wollen nicht wieder ans Wasser. Das könnt Ihr sicher verstehen. Also haben wir sie aufgenommen, aber jetzt können wir sie nicht mehr ernähren. Nicht mehr lange, jedenfalls.«

Selik sah sich zu seinen Männern um, die den Wortwechsel verfolgt hatten. Einige schüttelten den Kopf. Selik schnaufte. Auf einmal tat seine Brust wieder weh, wo die Kälte so tief eingedrungen war. Das Gefühl diente nur dazu, seine Entschlossenheit zu stärken.

»Was wollt Ihr denn nun tun?«, fragte er nicht unfreundlich.

Der Bauer deutete mit dem Daumen zum Dorfzentrum. »Da hinten im Gasthof findet gerade eine Versammlung statt. Die Leute sind sehr wütend. Sie wollen Antworten hören, bevor sie im Winter verhungern. Anscheinend will Evansor sich an die Kollegien wenden und um Hilfe bitten. Die sind doch reich genug, oder?«

»Und wer ist Evansor?« Auch in diesem Fall wusste Selik schon vorher, wie die Antwort lauten würde.

»Unser Magier«, bestätigte der Bauer.

»Euer Magier«, spuckte Selik. »Von denen ist doch nichts Gutes zu erwarten.« Der Bauer erschrak ob dieses heftigen Ausbruchs. »Bei den Göttern, Mann, sie sind die Ursache von alledem. Glaubt Ihr wirklich, dies alles habe natürliche Ursachen? Ein Wirbelsturm aus heiterem Himmel, Orytte im Meer versunken? Die Magie ist daran schuld.«

Der Bauer runzelte die Stirn. »Nun ja, wir haben Gerüchte gehört, aber Evansor …«

»Evansor, ja«, sagte Selik kalt. Er wollte sich den Mann persönlich vornehmen und ihn als den Verräter entlarven, der er zweifellos war. »Sehr überzeugend ist er und zweifellos sehr verständnisvoll.« Er beugte sich vor. »Aber einem Magier zu glauben bedeutet, das eigene Leben in die Hände eines Mörders zu legen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und schwang sich wieder auf sein Pferd. »Warum seid Ihr eigentlich hier und nicht beim Treffen?«

»Weil ich nach meinem Land sehen muss. Und weil es dort Ärger geben wird, bevor der Abend vorbei ist.«

»Oh, ja, es wird Ärger geben«, sagte Selik. »Aber dieser Ärger ist der Beginn von etwas, das richtig ist.«

 

»Und was tun wir, falls wir sie finden?«, fragte Hirad.

Die Rabenkrieger hatten, nicht lange nachdem sie den Dornenwald verlassen hatten, Halt gemacht und waren abgesessen. Jetzt hockten sie nebeneinander auf einem Hügel, auf dem der Wind ihnen ins Gesicht heulte und den Geruch von Blut und Tod vertrieb, und teilten sich einen Wasserschlauch, bevor sie das letzte Stück bis nach Greythorne ritten. Sie wollten einige Stunden nach Einbruch der Nacht dort eintreffen.

Der Unbekannte setzte den Schlauch ab und trieb den Stöpsel mit der Handkante in die Öffnung.

»Gute Frage. Aber was meinst du mit ›falls‹?«

»Nein, eigentlich meinte ich ›wenn‹«, berichtigte Hirad sich. Er sah seinen Freund an. Sein kurz geschnittenes Haar war stumpf unter dem trüben Himmel, und seine Augen verrieten, dass er in Gedanken ganz woanders war.

Ilkar kicherte. »Gut, dass du dein Vertrauen in unsere Fähigkeiten nicht verloren hast, Hirad.«

»Eigentlich ist es doch nur ein Job wie jeder andere.« Er zuckte mit den Achseln. »Mit Bezahlung können wir kaum rechnen, aber trotzdem, was wir übernehmen, das erledigen wir auch. Meine Frage ist allerdings damit noch nicht beantwortet. Wie ich es sehe, sind die Hexenjäger, die Dordovaner, die Xeteskianer und die Götter mögen wissen wer sonst noch hinter dem Mädchen her. Wo ist sie in Sicherheit?«

»Ich nehme an, genau dort, wo sie sich gerade befindet«, sagte Ilkar ein wenig ungehalten.

»Das ist doch gar nicht so schlecht«, meinte der Unbekannte. »Wir müssen auch nicht unbedingt etwas mit ihr tun. Vielleicht reicht es, wenn wir uns vergewissern, dass sie in Sicherheit ist. Lyanna ist Densers und Eriennes Tochter, das dürfen wir nicht vergessen.«

»Ganz so einfach ist das nicht, Unbekannter«, knurrte Ilkar. »Du weißt das auch. Du kannst es nicht einfach so abhandeln, als suchten wir nach irgendeinem kleinen Mädchen. Das ganze Durcheinander ist doch durch das entstanden, was sie ist und was sie repräsentiert. Sieh dich um. Bei den Göttern, sieh dich selbst an. Sieh dir an, was sie tut, ohne es überhaupt zu wollen.«

Sie sahen sich um. Über ihnen hingen dichte, dunkle Wolken, die schnell über den Himmel wanderten, eine Unheil verkündende Masse. Wenn der Regen irgendwann begann, würde es eine wahre Sturmflut werden.

»Willst du Lyanna wirklich anlasten, dass es bewölkt ist?«, fragte Hirad. »Ich muss schon sagen, das finde ich ein wenig weit hergeholt.«

»Hirad, die Beweise sind erdrückend«, sagte Ilkar.

»Wirklich? Ein alter Magier macht vor zweitausend Jahren eine Prophezeiung, und jetzt behauptet ihr, er hätte Lyanna gemeint?« Hirad schüttelte den Kopf. »Hör mal, ich weiß ja, dass wir in der letzten Zeit ungewöhnliches Wetter hatten, aber …«

»Ungewöhnliches Wetter?«, keuchte Ilkar. »Wir müssten in ein paar Wochen unter warmer Herbstsonne die Ernte einbringen. Stattdessen haben wir Erdbeben und Wirbelstürme, und ich habe vergessen, wie die Sonne aussieht. Bei den Göttern, Hirad, in den Balan-Bergen hat es so heftig geregnet, dass ich dachte, mir würde der Kopf wegschwimmen. Du kannst doch nicht behaupten, das sei normal.«

Hirad zuckte mit den Achseln. »Na gut, es ist nicht normal, aber nichts, was du gesagt hast, lässt darauf schließen, dass es mit Lyanna zu tun hat. Ich meine, es könnte doch jeder sein.«

»Wer denn?«, fauchte Ilkar.

»Er hat Recht, Ilkar«, schaltete sich der Unbekannte ein. »Das ist alles nur Theorie.«

»Aber in Julatsa hast du doch gesagt …«, begann Ilkar.

»Ich sagte, dass Dordover an die Tinjata-Prophezeiung glaubt. Und jetzt scheint es, als seien die Schwarzen Schwingen auf diesen Zug aufgesprungen, was eigentlich kein großes Wunder ist. Deshalb will ich Erienne und Lyanna finden. Um ihnen zuvorzukommen. Das heißt aber nicht, dass ich selbst daran glaube.«

Ilkar hielt inne und dachte nach. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar. »Ich kann Euch jetzt wohl nicht überzeugen, aber ihr werdet es schon sehen. Ich will nur, dass ihr mir in diesem Punkt vertraut. Lyanna ist ein unschuldiges Kind, aber dieses Chaos ist durch magische Kräfte entstanden, und ich glaube, dass sie der Brennpunkt ist, genau wie man es auch in Dordover sieht. Ich kann geradezu riechen, wie das Mana uns umspielt, und das ist nicht das, was das Mana normalerweise tut. Wenn wir Recht haben, dann gibt es Auswirkungen auf das gesamte System der Kollegien. Man muss es richtig anpacken.«

»Was heißt das denn?« Der Unbekannte war sichtlich skeptisch.

»Das weiß ich noch nicht. Es ist einer der Gründe, warum ich hier bin. Als Julatsaner fürchte ich das, was sie symbolisieren könnte. Ich weiß, dass es euch jetzt wahrscheinlich einerlei ist, aber Lyanna und die Al-Drechar könnten ohne weiteres eine Rückkehr zur Dominanz von Xetesk unter der Verkleidung des Einen Weges einleiten. Das wäre für uns alle schlecht.«

»Und besonders für Julatsa, nicht wahr, Ilkar?«, sagte der Unbekannte. »Aber du hast Recht, das spielt im Moment keine Rolle. Es kommt jetzt vor allem darauf an, Lyanna und Erienne zu finden, richtig?«

Ilkar zögerte, ehe er antwortete. »Wie ich schon sagte, ganz so einfach ist das nicht.«

»Dann erkläre mir doch, was daran so verdammt kompliziert sein soll«, verlangte der Unbekannte. Hirad erschrak, als er sah, wie verärgert der große Krieger war.

»Ich habe es doch gerade eben erklärt«, fauchte Ilkar. »Niemand will, dass ihr etwas zustößt, aber ich bin nicht sicher, wovor wir sie überhaupt beschützen oder retten sollen. Und ich weiß nicht, wie man sie davon abhalten kann, dieses Chaos zu veranstalten. Denser glaubt, die Dordovaner wollen sie umbringen, und das nehme ich ihm sofort ab. Die Hexenjäger können wir vergessen. Sie sind nicht zahlreich oder stark genug, um sie wirklich zu bedrohen. Aber ich nehme an, auch Xetesk verfolgt selbstsüchtige Ziele, und das bedroht mein Kolleg. Besonders, da wir im Augenblick so geschwächt sind. Die Al-Drechar wollen sich selbst erhalten, und ich bin nicht sicher, ob das etwas ist, das wir unterstützen sollten.«

»Wo bleibt dabei Lyanna?«, fragte Hirad. »Es kommt mir so vor, als sei sie in deiner kleinen Rechnung für Balaia so oder so entbehrlich.«

»Ja, Ilkar, vielleicht solltest du dich für die eine oder für die andere Seite entscheiden.« Die Augen des Unbekannten waren kalt, sein Körper gespannt.

Ilkars Ohren zuckten, und er nagte an der Oberlippe, während er nachdachte. »Ich will das magische Gleichgewicht von Balaia erhalten. Ich glaube, das ist für alle das Beste, nicht nur für Julatsa. Ich denke, Lyanna sollte nicht nach Dordover, nach Xetesk oder zu irgendeinem anderen Kolleg zurückkehren. Sie sollte von den Al-Drechar unterwiesen werden, damit sie die Ausbrüche kontrollieren lernt, die diese katastrophalen Folgen haben, aber weiter sollte es nicht gehen. Eine Rückkehr zum Einen Weg darf es nicht geben. Niemals.«

»Und wenn Denser oder Xetesk oder wer auch immer nicht deiner Meinung sind?«, fragte der Unbekannte. »Wenn sie nun beschließen, dass Lyannas Ausbildung ihren natürlichen Verlauf nehmen soll?«

Ilkar zuckte mit den Achseln und schaute in die Wildnis. Vor ihnen lag leicht gewelltes, von Heidekraut bedecktes Moor.

»Du siehst es wirklich so, nicht wahr? Verdammt, ich habe es geahnt.« Der Unbekannte sprang auf und machte einen Schritt auf Ilkar zu. Auch Hirad stand auf und stellte sich zwischen sie.

»Immer mit der Ruhe«, sagte er und hob beschwichtigend eine Hand. »Was will er tun?«

Der Unbekannte starrte an ihm vorbei zum Elf. »Er würde sie am liebsten tot sehen.«

»Er würde sie umbringen?«

»Nein, das wohl nicht. Aber ich glaube, er würde niemandem in den Weg treten, der sie töten will. Oder, Ilkar?«

Ilkar drehte sich nicht um.

»Siehst du?« Das Gesicht des Unbekannten brannte, und Hirad konnte nicht zur Seite treten. »Sie ist nur ein kleines Mädchen, du Bastard. Und sie ist Densers Tochter. Wie konntest du nur an so etwas denken? Bei den Göttern, ich habe mehr von dir erwartet, Ilkar.«

Hirad hätte sich gern umgedreht, aber er hatte Angst vor dem, was der Unbekannte als Nächstes tun mochte. Ihm wurde beinahe übel bei der Einsicht, dass dieser mächtige Kämpfer in diesem Augenblick eine echte Gefahr für Ilkar darstellte. Hinter ihm ergriff Ilkar das Wort.

»Du kennst mich gut genug, Unbekannter. Vielleicht bin ich es, der dich falsch verstanden hat.«

»Ich bin Vater, Ilkar. Und ich verstehe, was Denser jetzt durchmacht.«

»Er ist ein alter und guter Freund von mir, und ich will nicht, dass ihm, Erienne oder Lyanna etwas zustößt. Doch sie ist ein Kind des Einen, das wird mir von Tag zu Tag klarer. Die Tinjata-Prophezeiung hat sich bis jetzt als erschreckend zuverlässig erwiesen. Jedenfalls glaube ich das. Lyannas Nacht hat gerade erst begonnen, Unbekannter, und das kann für uns alle den Untergang bedeuten, wenn sie nicht kontrolliert wird. Oder wenn sie nicht aufgehalten wird. Und ich kann nicht sehen, dass irgendjemand tatsächlich in der Lage ist, sie zu kontrollieren. Die Al-Drechar haben es gewiss nicht geschafft, oder?«

Hirad spürte, wie sich der Unbekannte entspannte. So konnte er es riskieren, sich umzudrehen und Ilkar anzuschauen, der sitzen geblieben war. Der Gesichtsausdruck des Elfen und seine verzweifelten Augen zeigten, dass er zutiefst an das glaubte, was er gesagt hatte.

»Übertreibst du da nicht ein wenig?«, fragte er. »Und was meinst du mit ›Lyannas Nacht‹?«

»Nein, Hirad, ich übertreibe nicht. Es sei denn, du nennst den zerstörten Dornenwald übertrieben. Das war, soweit wir wissen, ganz sicher kein einmaliger Sturm, der schnell vorbei war. Pass auf, wenn ein Magier lernt, den Fluss des Mana aufzunehmen, dann gibt es eine normalerweise kurze Phase der Dunkelheit für den Magier. Die Sinne sind noch nicht koordiniert, und das Bewusstsein wendet sich nach innen, während das Mana auf den Kopf einstürmt. Es ist, als stündest du mitten in dunkelster Nacht in einem Sturm. Deshalb spricht man von der ›Nacht‹ eines Magiers. Die Magier, die ihre Ausbildung in den Kollegien bekommen, können sich ins Mana-Bad zurückziehen, wo sie den normalerweise überwältigenden Fluss des Mana lenken und beherrschen können. Lyanna hat nur die Al-Drechar, die offenbar nicht fähig sind, sie gegen die Erweckung oder uns vor Lyannas Ausbrüchen abzuschirmen. Ihre Nacht könnte lange dauern. Ich muss einräumen, dass auch dies meine persönliche Überzeugung ist, aber ich bin sicherlich von uns am besten fähig, darüber zu urteilen.«

»Und du glaubst, es wäre besser, wenn sie stirbt?«

»Verdammt, Unbekannter, nein!« Ilkar stand auf. »Es kann dazu kommen, aber ich will ganz sicher nichts damit zu tun haben.«

»Denser wird nichts hiervon erfahren«, warnte der Unbekannte.

Ilkar schüttelte den Kopf. »Es würde mich sehr wundern, wenn er nicht schon längst darüber nachgedacht hätte. Er ist ein Magier, und er ist kein Dummkopf. Ihm ist bewusst, was er und Erienne erschaffen wollten, und wenn ihr mich fragt, dann hatte er leider großen Erfolg.«

»Dann sollten wir besser zu ihm gehen, nicht wahr? Es klingt, als brauchte er unsere Hilfe.«

Die drei alten Freunde saßen auf und ritten nach Greythorne. Ihr Schweigen war so griesgrämig und düster wie der Himmel über ihnen.

 

Selik lauschte einige Momente lang den wütenden Stimmen im Gasthof, ehe er die Türen aufstieß und hineinmarschierte. Seine Gefolgsleute blieben dicht hinter ihm, einer passte draußen auf die Pferde auf. Drei Männer standen an der gegenüberliegenden Theke und hatten sich der Menge von etwa fünfzig Leuten zugewandt, die auf Stühlen und Tischen saßen oder an Wänden und Balken lehnten. Der Gasthof war mit Laternen beleuchtet und hatte eine niedrige Decke, Pfeifenrauch hing schwer über den Köpfen der Gäste im schlecht gelüfteten Raum. Der süße Tabakduft überdeckte den Geruch von Dünnbier und Wein.

Sein lauter Auftritt zeitigte die gewünschte Wirkung. Die Leute verstummten und drehten sich zu ihm um. Selik ging ruhig zur Bar und drängte sich zwischen die drei Männer. Der Mann, den er für Evansor hielt, war nun rechts von ihm, die beiden älteren Bauern auf der linken Seite. Der Magier war jung und schlank, er war offenbar nicht an körperliche Arbeit gewöhnt, und seine Kleidung war aus feinem Tuch, das nicht für die Feldarbeit taugte.

Selik betrachtete gelassen die Versammlung. Einige Teilnehmer hatten Angst, andere waren viel zu wütend, um sich groß über das zu sorgen, was er repräsentierte. Die meisten sahen ihn einfach nur an und warteten, was er zu sagen hätte. Wunderbar. Mit erhobenem linken Zeigefinger brachte er einen der älteren Farmer zum Schweigen und ergriff das Wort.

»Ich bin Selik. Einige von euch haben sicher schon von mir gehört und wissen, welche Aufgabe ich mit meinen Gefährten für euch übernommen habe.« Er deutete auf seine Männer, die sich im Gasthof verteilt hatten. »Ich habe die Zerstörung eurer Felder gesehen, und ich habe gehört, dass Ihr jetzt sogar noch weitere hungrige Mäuler füttern müsst. Ich habe Mitgefühl mit euch allen.«

Der Magier neben ihm gab ein leises, missbilligendes Schnauben von sich. Selik ignorierte ihn vorerst. Er warf die Kapuze zurück und wartete auf die Laute von Abscheu und Mitgefühl.

»Ihr könnt sehen, was die Magie mir angetan hat, und jetzt habt ihr selbst üble Erfahrungen gemacht.« Er hob eine Hand, als die ersten Stimmen laut wurden. »Ich weiß, ihr versteht es nicht, aber euer Magier versteht es. Nicht wahr, Evansor?« Der Magier zuckte zusammen, als sein Name fiel. »Denn dies war kein natürlicher Wind, nicht wahr? Die Magie hat euer Dorf zerstört.« Selik tat so, als sei er überrascht. »Ach, hat er euch das etwa nicht erzählt? Nun, vielleicht will er es jetzt nachholen?«

Selik wandte sich an Evansor. Die Zuschauer folgten ihm. Es ging leichter als erwartet. Evansor verzog das blasse Gesicht zu einem schiefen Lächeln. Er hob beschwörend die Hände.

»Meine Freunde, die Schwarzen Schwingen hassen die Magie. Lasst euch nicht beirren. Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen. Beispielsweise die Frage, wie wir den Winter überleben können, wenn das Wetter nicht besser wird.«

Er hatte ein paar beschwichtigt, aber Selik war bei weitem noch nicht fertig. »Ihr seid der Frage ausgewichen. Ein einfaches Ja oder Nein reicht aus. War der Wind, der den Lebensunterhalt dieses Dorfes zerstört hat, natürlich oder nicht?« Selik dämpfte seine Stimme. »Kommt schon, Evansor, Ihr seid hier unter Freunden, das habt Ihr selbst gesagt. Beantwortet die Frage.«

Evansor betrachtete die Zuschauer. Selik konnte sehen, wie er sich innerlich wand. Das Netz zog sich zusammen. Das Schweigen wurde drückend, und mit jedem Herzschlag wurden die Leute misstrauischer.

»Ich … ich habe Magie im Wind gespürt«, sagte er. »Aber … aber …«

»Aber Ihr habt es nicht für nötig gehalten, diese Leute zu unterrichten, dass der Unrat, den Ihr Magier erzeugt, dieses Dorf zerstört hat?« Er wandte sich an die Zuschauer. Die Bandbreite der Mienen reichte von Verwirrung bis zu rotgesichtiger Wut. Er konnte sehen, wie seine Männer einigen Zuschauern etwas zuflüsterten. »Was sagt ihr nun dazu?«

»Ich verstehe es nicht«, antwortete einer. Andere stimmten ein.

»Was versteht ihr denn nicht?«, sagte Selik. »Der Wind, der eure Ernte vernichtet hat, ist durch magische Kräfte entstanden, es war nicht der Wille der Götter. Und dieser ›Freund‹ hier wollte nicht, dass ihr es erfahrt. Glaubt ihr denn, die Überschwemmung in Orytte war eine Naturkatastrophe? Oder die Ereignisse in Denebre? Oder an einem Dutzend anderen Orten, die ich nennen könnte? Die Magie zerfetzt euer Land, und ihr sitzt hier und fragt ihn, was ihr tun sollt. Ihr werdet verhungern, und er und seine Leute sind die Ursache.« Er hörte, wie die Zuschauer mit den Füßen scharrten und murmelten. Nahe, er war ganz nahe daran. »Würdet ihr etwa den Teufel nach dem Ausweg aus der Hölle fragen?«

Selik hörte jemanden »Nein« sagen, das Gemurmel wurde lauter, sogar einige wütende Stimmen waren zu hören, die Antworten forderten. Einer der älteren Bauern zu seiner Linken brachte die Leute zum Schweigen.

»Er geht zu weit damit«, sagte der Mann halb flehend. »Er marschiert hier herein und versprüht sein Gift. Evansor ist unser Freund.«

»Euer Freund?« Selik breitete theatralisch die Arme aus. »Wer braucht denn einen Freund, der einem die Wahrheit verschweigt, wenn es ihm passt? Der Geld nimmt, wenn er die Ratten aus den Scheunen und die wunden Stellen von euren Händen vertreibt, während ihm sein verfluchtes Kolleg wichtiger ist als ihr? Glaubt mir, er ist euch nicht treu ergeben. Keinem von euch. Fallt nicht darauf herein wie ich. Passt auf, dass euer Gesicht nicht eines Tages so aussieht wie meines.« Selik sprach jetzt lauter. Er hatte sie gepackt, das wusste er. »Diese Karikatur von einem Mann ist das Problem, nicht die Antwort. Und das Problem muss ausgerottet werden!«

Er knallte seine Faust in die Handfläche und starrte Evansor an. Das Murren der Menge wurde wieder lauter. Der Magier hatte schreckliche Angst, und Selik wusste, dass er sprechen und sich selbst dem Untergang weihen würde.

»Bitte, meine Freunde«, sagte er. Er musste schreien, um sich verständlich zu machen. »Ich bin doch nicht euer Feind, ich kann euch helfen.«

»Ja, indem du verschwindest.« Ein Mitglied der Schwarzen Schwingen hatte es gerufen, aber das war den Leuten egal. Die Menge brüllte jetzt.

»Raus! Raus! Raus!«

»Bitte!« Evansor flehte die Leute an, seine Blicke irrten durch den Raum.

Selik packte ihn am Kragen.

»Rührt mich nicht an, Schwarze Schwinge, sonst …«

»Was denn?« Seliks Stimme brachte ihn zum Schweigen. »Sonst legst du mich um, wie deine Magie das Getreide dieser braven Leute umgelegt hat? Welcher Spruch soll es denn sein? Feuer oder Eis?«

Selik zog ihn enger an sich und stieß ihn zur Menge hinüber. Aus dem Nichts kam eine Faust von einer Schwarzen Schwinge und traf den Magier am Kinn. Sein Kopf flog zurück, und er taumelte. Die Menge brüllte jetzt, aber niemand wollte den Anfang machen. Evansor gingen allmählich die Nerven durch, und Selik lächelte, als er sah, wie sich die Augen des Magiers wütend verengten und dann ins Leere blickten, als er einen Spruch vorbereitete.

»Er will einen Spruch wirken!«, rief jemand, abermals eine Schwarze Schwinge.

Selik deutete auf zwei seiner Männer. Sie stürmten vor. Evansor wirkte den Spruch. Es war ein Kraftkegel, der heftig genug war, um die Männer zurückzuwerfen. Sie prallten gegen die Zuschauer, die hinter ihnen standen.

»Aus dem Weg. Ich will Euch nichts tun«, rief Evansor. »Bitte.«

Eine Flasche flog quer durch den Schankraum und verfehlte Evansor um Haaresbreite.

»Er hat mir den Arm gebrochen!«, stöhnte ein Mann. Jetzt gab es kein Halten mehr.

Selik trat gewandt zur Seite, als sie kamen. Er ließ den Fuß stehen, um einen Mann zum Stolpern zu bringen, der gegen die Vorderen prallte und sie damit noch weiter antrieb. Wahrscheinlich hatten sie den Magier nur packen und zur Grenze des Dorfs befördern wollen, um ihn wegzujagen, aber Seliks Männer waren im Mob, und nachdem der erste Schlag sein Ziel gefunden hatte, war es um Evansor geschehen.

Die alten Bauern bemühten sich verzweifelt, die Leute aufzuhalten, doch inzwischen prasselte Schlag auf Schlag auf den hilflosen Magier herunter. Sein Flehen und seine hilflosen Schreie gingen im Gebrüll der Menge unter. Die Leute hatten ein Ventil für ihre Wut gefunden und bestraften den Unschuldigen.

Ein Stuhlbein traf Evansor mitten im Gesicht und brach ihm die Nase. Stiefel trampelten und traten ihn, ein Messer blitzte und wurde ihm ins Herz gestoßen. Sie schlugen ihn noch lange, nachdem er gestorben war.

Der Kommandant der Schwarzen Schwinge sammelte seine Männer um sich, als der Ausbruch von Hass so schnell verflog, wie er gekommen war. Die Dorfbewohner wichen zurück, entsetzt über das, was sie getan hatten. Schockierte Stimmen erhoben sich, im Hintergrund weinte eine Frau.

Selik ging lächelnd zur Tür des Gasthofs und drehte sich noch einmal um.

»Der Weg der Gerechten ist mit dem Blut der Bösen getränkt«, erklärte er den versammelten Bauern, die nur zu gern eine Rechtfertigung für den Mord hören wollten, den sie gemeinsam begangen hatten. »Dies ist ein großer Tag für Balaia. Die Magie hat unser Land schon viel zu lange ins Unglück gestürzt. Es ist Zeit, dass wir uns wehren. Sagt es allen, die ihr trefft. Wir werden uns nicht mehr den Magiern unterwerfen.«

Damit verließ er frohgemut den Gasthof. Sein Zorn war besänftigt. Die Hexe sollte die Nächste sein.

 

Lyanna verstand es nicht. Es tat weh, und sie wollte, dass es nicht mehr wehtat. Die alten Frauen hatten ihr versprochen, dass die Albträume aufhörten, aus denen sie immer so verängstigt aufwachte. Sie hatten ihr auch versprochen, dass der Wind aufhörte, der in ihrem Kopf wehte.

Aber so war es nicht.

Zuerst hatten sie es ja noch geschafft, aber jetzt war Mami fort und suchte ihren Vater, und nun sah es aus, als würden sie mit jedem Tag älter. Sie liefen langsamer, ihre Augen waren drinnen und draußen dunkel. Deshalb waren sie auch so gereizt.

Die Albträume waren wieder da, und der Wind tobte in ihrem Kopf und tat ihr weh, und manchmal hatte sie das Gefühl, es sei auch tagsüber dunkel. Bisher hatten die alten Frauen ihr immer geholfen, wenn es anfing. Sie wünschte, Mami wäre da, an die sie sich kuscheln und die sie halten konnte, wenn sie weinen musste.

Lyanna schaute durch die Bäume im Obstgarten zum blauen Himmel hinauf. Die Blätter an den Zweigen tanzten vor ihren Augen, als winkten dort kleine Kobolde. Sie lächelte. Vielleicht redeten die Kobolde mit ihr. Ephy und die anderen hatten nie Zeit. Sie waren dauernd mit ihrer stinkenden Pfeife beschäftigt.

Einen Augenblick hörte der Wind in ihr auf. Es war eine Erleichterung. Sie dachte angestrengt daran, und die Zweige des nächsten Baumes bogen sich zu ihr und brachten ihr die Kobolde näher, mit denen sie reden konnte.

Ja, das war ein schönes Spiel.

 

Cleress nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife. Der Rauch vom Kraut breitete sich in ihrem hinfälligen, müden Körper aus, besänftigte die Muskeln und betäubte die Gicht, die ihr linkes Kniegelenk verbog und anschwellen ließ.

Myriell, die neben ihr saß, war auf ihrem Stuhl in sich zusammengesunken. Die Erschöpfung war ihr deutlich anzusehen. Bald konnte sie schlafen, wie es Aviana schon tat. Nur Ephemere wachte im Augenblick über das Kind, das sie so schnell zerstörte.

Sie hatten Lyannas Kräfte völlig falsch eingeschätzt – oder vielmehr, sie hatten die Kraft unterschätzt, die nötig war, um eine so unausgeglichene Erweckung abzuschirmen. Das Mädchen verfügte nicht nur in magischen Dingen über eine unbändige Energie. Die Kleine war reizend, wurde aber mit jedem Tag fordernder. Ihre Stimmungen wechselten zwischen Freude und Staunen, Furcht und Trübsal.

Cleress musste sich immer wieder vor Augen halten, dass Lyanna nur ein kleines Kind war, obwohl das Mana nach der ungeschickten dordovanischen Erweckung mit großer Kraft, aber ungeordnet durch ihren Kopf tobte. Ein kleines Kind lebte in seiner ganz eigenen Welt, es hatte Ansprüche, und man trug Verantwortung. Da Erienne vorübergehend nicht greifbar war, mussten die vier alten Frauen die Rolle der verständnisvollen Großmutter annehmen. Auch Ren’erei war abgereist, und Lyanna wurde mit den anderen Elfen der Gilde nicht recht warm, doch sie vertraute den Al-Drechar, die allerdings schon seit Jahrzehnten keinen Umgang mehr mit Kindern gehabt hatten.

Also machten sie Fehler, und der schlimmste war wohl die Annahme, Lyanna könne sich jederzeit und ohne weiteres mit sich selbst beschäftigen, wenn sie spielen wollte. Sie überwachten zwar ihr Bewusstsein und den Fluss des Mana um sie herum, aber das war, wie Cleress wusste, nicht das, worauf es wirklich ankam. Doch sie mussten ausruhen, und die Versuchung, jede sich bietende Gelegenheit zum Ausspannen zu ergreifen, wann immer sie nicht aktiv lehrten oder Lyanna abschirmten, war unwiderstehlich.

Cleress nahm noch einen langen Zug aus der Pfeife, vergewisserte sich, dass sie gut brannte, und reichte sie an Myriell weiter. Sie musste ihrer Schwester das Mundstück zwischen die Lippen schieben, damit diese überhaupt bemerkte, dass sie an der Reihe war.

»Wie spät ist es?«, murmelte Myriell, bevor sie den Rauch inhalierte.

»Zu früh, um sich ganz und gar dem Lemiir in der Pfeife hinzugeben, Myra. Die Sonne sinkt hinab, aber bis zur Nacht ist noch viel Zeit.«

»Nicht unbedingt für das Kind.«

»Nein«, stimmte Cleress zu.

Myriells knappe Bemerkung erinnerte sie an ihre Sorgen. Sie unterstützten einander und gaben sich gegenseitig Kraft, sie versorgten sich körperlich und geistig, so gut es ging. Doch die große Frage blieb, ob Lyanna wenigstens eine Spur von Selbstbeherrschung lernte, ehe es endgültig zu spät war, das Mädchen zu unterweisen, zu kontrollieren und zu beschützen.

Cleress machte sich auf das Schlimmste gefasst.

Cleress, im Obstgarten, sofort. Ephys Stimme ertönte in ihrem Kopf und schreckte sie auf. Ihr Herz raste.

»Es gibt Schwierigkeiten, Myra. Bleib hier. Ich rufe dich, wenn wir dich brauchen.«

»Hoffentlich nicht«, murmelte Myriell.

Cleress kam mühsam auf die Füße und humpelte eilig zum Obstgarten. Das Lemiir war nicht stark genug, um die Schmerzen zu lindern, die durch ihr Bein und ihren Rücken schossen, sobald sie das gichtige Knie belastete.

Sie lief durchs Esszimmer und den Ballsaal, die Sorge beschleunigte ihre Schritte, und Ephemeres Angst hallte in ihrem Kopf nach.

Ephy stand am Eingang des Obstgartens und starrte hinaus. Als Cleress zu ihr kam, wusste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Mitten im Garten saß Lyanna in ihrem blauen Lieblingskleid im Schneidersitz. Sie hatte die Arme ausgestreckt und schaute nach oben, ein verzücktes Lächeln verklärte ihr Gesicht. Rings um sie bewegten sich die Bäume, wie sie es wollte. Ganze Äste bogen sich zu ihr, die Blätter rauschten, Blüten öffneten sich, winzige Früchte wechselten die Farben.

Wie in einem Tanz, zu dem Lyanna die Choreografie schrieb, bewegten sich acht oder neun Bäume, wackelten mit den Ästen, nickten mit den Kronen und drehten sich. Doch Cleress beobachtete wie gebannt vor allem die Blätter. Als wehe ein böiger Wind über ein Kornfeld, neigten sie sich hierhin und dorthin, wie es unter natürlichen Bedingungen nie möglich gewesen wäre. Die Gleichförmigkeit ihrer Bewegungen war hinreißend, die dunkelgrünen Oberflächen und die silbernen Unterseiten blinzelten wie zehntausend Augen, als sie sich anmutig auf ihren schlanken Stängeln bogen. Dabei machten sie Geräusche wie mit kleinen Stimmchen, sie flüsterten und lachten fröhlich.

Zwischen alledem saß Lyanna, und nur ihre Lippen bewegten sich lautlos, als ob …

»Sie redet mit ihnen«, keuchte Cleress.

»Ja«, stimmte Ephemere zu. »Oder sie versucht es. Die Fantasie eines Kindes kennt keine Grenzen, und Lyanna hat die Macht, in die Wirklichkeit umzusetzen, was sie sich erträumt. Das Problem ist nur, dass sie flackert. Sie wird Kopfschmerzen haben, wenn sie fertig ist.«

»Und in Balaia gibt es einen weiteren Sturm«, meinte Cleress. Sie stellte ihre Augen aufs Mana-Spektrum ein und erkannte, was Ephemere meinte. Die Mana-Gestalt, die Lyanna unbewusst benutzte, um die Bäume zu beeinflussen, war ein erstaunliches Spinnennetz, aber ringsherum schossen dunkelbraune Mana-Speere davon und erzeugten Wirbel und Strömungen, die an Größe und Kraft gewannen, während sie sich entfernten. Es waren flackernde Leuchtfeuer für jeden, der sie suchte und ihr etwas antun wollte.

Lyanna hatte keine Ahnung, was sie tat, aber die Nachwirkungen waren in ganz Balaia zu spüren, wo sie geboren war und wo ihre Mana-Stärke verwurzelt war. Cleress vermochte sich kaum auszumalen, welche Probleme das Flackern verursachte, aber sie wusste, dass der Zerfall eines gebündelten, jedoch ungerichteten Mana-Impulses von dieser Größenordnung normalerweise erschreckende Naturgewalten nach sich zog.

In einem Punkt hatte Tinjata trotz seiner senilen Geschwätzigkeit vor vielen tausend Jahren zweifellos Recht gehabt. Ein erwecktes Kind des Einen konnte in weniger als einem halben Jahr ganz Balaia verwüsten. Es lag bei den noch lebenden Al-Drechar, diese Katastrophe abzuwenden, indem sie das Kind an den schlimmsten Exzessen hinderten, bis es alt genug war, die Kräfte, die es in sich trug, zu verstehen und zu meistern. Wenn dies dem Mädchen nicht gelang, dann blieb den Al-Drechar nur noch eine letzte Möglichkeit, die viel zu schrecklich war, als dass sie auch nur darüber nachdenken durften.

Nicht zum ersten Mal verfluchte Cleress die Dordovaner, die etwas aufgerührt hatten, in das sie sich niemals hätten einmischen dürfen.

»Was soll ich tun, Ephy?«

»Geh zu ihr und rede mit ihr. Höre dir an, wie sie es beschreibt. Ich decke das Flackern ab und überwache die Mana-Gestalt.«

Cleress nickte und betrat den Obstgarten. Obwohl die Nachmittagssonne ihr warmes, gelbes Licht verströmte, hatte die Umgebung etwas Gespenstisches an sich. Die Vögel sangen nicht mehr, und das Knacken der Zweige und Äste, die unter Lyannas Kontrolle standen, klang befremdend in der windstillen Luft.

Aus der Nähe konnte Cleress sehen, dass Lyannas Augen zwischen den Blättern hin und her sprangen. Ihre Lippen bewegten sich, ihr Lächeln wurde schmaler und breiter, als freute sie sich über die Antworten, die sie auf ihre Fragen bekam. Ihre ausgestreckten Arme zitterten vor Anstrengung, und sie runzelte die Stirn, weil sie Mühe hatte, die Mana-Gestalt aufrechtzuerhalten. Sie wurde müde.

Cleress kniete sich neben sie und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Lyanna, kannst du mich hören?« Trotz des Lemiir war ihre Stimme weich.

»Meine Freunde sind hier, Clerry, schau nur.« Lyanna hörte nicht auf, nur ihre Stimme klang vor Anstrengung etwas abwesend.

Cleress sah sich um und musste lächeln, als sie erkannte, warum Lyanna so gefesselt war. Die Äste neigten sich im Bogen zu ihr und berührten beinahe ihr Gesicht, streichelten ihre Arme und verflochten sich ineinander wie die Tentakel eines freundlichen Meeresbewohners. Die Zweige hatten keine steife Rinde mehr, sondern waren geschmeidig wie Gliedmaßen.

Dazwischen tanzten und raschelten die Blätter, bogen und wanden sich und erzeugten mit ihren kleinen Bewegungen beinahe musikalische Klänge. Es war ein wundervoller Anblick. Cleress beobachtete Lyanna und fragte sich, was das kleine Mädchen sich wohl dazu vorstellen mochte.

»Sind es gute Freunde?«, fragte Cleress. »Sie sind hübsch.«

»Ja, sie sind gute Freunde, aber sie können nicht mit dir reden, weil du sie nicht verstehen kannst.«

»Oh, ja. Was sagen sie dir denn?«

»Dass böse Leute kommen, aber auch gute Leute, die uns helfen wollen. Und du bist ganz müde, und das liegt an mir, aber das ist schon in Ordnung.«

Cleress war sprachlos. Sie schaute zu Ephemere, doch ihre Schwester befand sich in tiefer Konzentration; sie hatte die Augen geschlossen und die Hände in Hüfthöhe vorgestreckt.

»Woher wissen sie das denn? Sie müssen sehr klug sein.«

Lyanna nickte, und die Blätter raschelten, als wollten sie applaudieren.

»Sie wissen es, weil es sich so anfühlt, ist doch klar.«

Die alte Al-Drechar hätte beinahe erschrocken gekeucht. Lyanna fühlte die Kommunikation in den Nuancen des Mana-Stroms. Einen Teil hatte sie wahrscheinlich auch aus den Gesprächen mit Erienne entnommen, aber der Rest wurde irgendwie aus den wilden Kräften, die in ihrem Kopf tobten, ausgefiltert. Es konnte nicht anders sein. Allerdings musste dieser Vorgang ungeheuer anstrengend und gefährlich sein. Sie konnte nur hoffen, dass Ephemere das Flackern kontrollierte.

»Haben deine Freunde dir sonst noch etwas gesagt?« Cleress fürchtete beinahe die Antwort.

Wieder nickte Lyanna. Dieses Mal verschwand das Lächeln, und ihre Augen wurden feucht.

»Es wird bald dunkel, und ich werde sie lange nicht mehr sehen. Und ich könnte mich verirren, aber ihr werdet mir helfen.«

»Oh, Lyanna, Liebes«, sagte Cleress. Ihr Herz war voller Kummer. »Sage Lebewohl zu deinen Freunden. Ich fürchte, die Nacht kommt bald.«