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37

Hirad marschierte durch den halb eingestürzten Eingang des Hauses. Er war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Hinter ihm freuten sich Denser und Lyanna über ihr Wiedersehen. Der Unbekannte, dessen Hüfte nach der ungemütlichen Überfahrt schmerzte, ließ sich Zeit und humpelte langsam den Weg hinauf.

Unter Hirads Füßen knirschte das Glas, als er die große, muffig riechende Eingangshalle betrat. Rechts sah er gebrochene Balken und zerstörte Türen, also hielt er sich links.

»Ilkar?« Er ging einen langen, nassen Flur hinauf, zählte die Türen auf der linken Seite und sah sich rechts nach einem Obstgarten um. An geschützten Stellen lagen Laubhaufen, und er konnte Spuren der Zerstörung sehen, die auch in anderen Teilen des Hauses gewütet hatte. Über ihm tropfte Wasser durch die Löcher in der Decke, große Holzsplitter waren überall im Flur verteilt.

Vor ihm wurde eine Tür geöffnet. Ilkar trat heraus und kam ihm entgegen.

»Hirad, wir haben hier ein Problem.«

»Schön, dass du das auch schon merkst.«

»Nein, das hier meine ich nicht. Die Al-Drechar. Eine von ihnen ist tot, die anderen drei sind kurz davor. Wenn sie nicht einmal einen Teil des Gebäudes abschirmen können …«

»Genau«, sagte Hirad. »Hast du dich im Haus umgeschaut?«

»Ja, und es sieht nicht gut aus. Ich zeige es euch, wenn der Unbekannte und Darrick hier sind«, versprach Ilkar. »Wie weit sind die Protektoren hinter euch?«

»Eine Stunde, meint der Unbekannte.«

»Wie geht es ihm?«

Hirad kratzte sich am Kopf und sah sich über die Schulter um. »Gibt es hier etwas zu essen? Ich bin am Verhungern.«

»Klar doch.«

Ilkar führte Hirad in die Küche und versorgte ihn mit Suppe und einem Becher Tee. Der wundervolle Geruch von frischem Brot zog durch den Raum.

»Das Brot ist noch im Ofen, tut mir Leid«, sagte Ilkar. »Jetzt zum Unbekannten. Und keine Ausflüchte.«

»Also, es sieht nicht gut aus. Er wollte sich auf der ganzen Fahrt nicht setzen, und jetzt läuft er den Weg herauf wie ein alter Mann. Ich dachte, Erienne hätte ihn wieder in Ordnung gebracht, aber es sieht nicht danach aus.«

»Zum Teufel, Hirad«, entgegnete Ilkar scharf. »Vor sieben Tagen war er praktisch tot. Jetzt ist er auf den Beinen und läuft herum. Was willst du noch? Sie hat seine Hüfte wieder aufgebaut und Muskeln und Sehnen verbunden, aber sie ist keine Wunderheilerin. Die Arbeit ist alles andere als beendet, und er wird nie wieder der Alte sein, dazu waren die Schäden zu groß. Was du jetzt siehst, ist das Beste, was du im kommenden Kampf haben wirst, also finde dich damit ab. Die Frage ist allerdings, ob er sich damit abfinden wird. Das wüsste ich gern.«

»Hmm.« Hirad aß seine Mahlzeit. Es war eine wohlschmeckende dicke Gemüsesuppe und so nahrhaft, dass er das Brot kaum vermisste. »Ich weiß schon, was du meinst. Ich will einfach, dass er wieder der Krieger ist, den wir alle kennen, und das ist er nicht. Jedenfalls nicht im Moment.«

»Und da oben?« Ilkar tippte sich an den Kopf.

Hirad zuckte mit den Achseln. »Er will sich einreden, dass er wieder kämpfen kann wie früher, aber es ist ziemlich klar, dass das nicht geht. Ich glaube, das wird sein Selbstvertrauen beeinträchtigen. Deshalb hat er auch darum gebeten, dass Aeb links neben ihm steht. Ich meine, Darrick ist ein überdurchschnittlich guter Kämpfer, aber ein Protektor ist er nicht, oder?«

»Ja«, sagte Ilkar. »Die Frage ist nun, wie wir uns verhalten sollen.«

»Zuerst einmal sollten wir uns nicht anmerken lassen, dass wir uns seinetwegen Sorgen machen.«

Die Tür zum Ballsaal ging auf, und der Unbekannte trat ein.

»Dann solltet ihr besser leiser sprechen, denn sonst höre ich es«, sagte er. Ilkar schloss ergeben die Augen.

 

Darrick stand im Obstgarten und betrachtete den zusammengebrochenen Westflügel. Die Al-Drechar schlurften in Begleitung von Erienne, Lyanna, Ren’erei und den Elfen der Gilde hinter ihm her. Dort hinten war wenig Anlass zur Zuversicht, und vor ihm sah es nicht besser aus.

Das Licht verblasste rasch, und je näher die Nacht rückte, desto wahrscheinlich wurde ein Angriff. Deshalb war er direkt aus dem Beiboot nach oben gekommen, um das Haus in Augenschein zu nehmen. Zu seiner Überraschung hatte der Rabe die Verteidigung in seine Hände gelegt und überlegte unterdessen, wie man sich gegen die dordovanischen Magier verteidigen sollte. Es war eine Verbeugung vor seinen Fähigkeiten, aber trotzdem, sie waren der Rabe. Er konnte nicht leugnen, dass er stolz darauf war.

Nachdem er festgestellt hatte, dass es auf der Insel keinen anderen Schutz und keine andere Möglichkeit gab, jemanden zu verstecken, hatte er sich auf die Frage konzentriert, wie man das Haus verteidigen konnte. Einige Protektoren sicherten jetzt schon die Hintereingänge und die drei noch stehenden Gebäudeflügel. Die anderen bewachten den Haupteingang.

Er winkte Aeb, ihn zu begleiten, und ging durch den Obstgarten zum vorderen Teil des Hauses. Er betrachtete die wild durcheinandergeworfenen Ziegelsteine, den Dachschiefer, die Balken und das gekippte Dach, das auf unsicheren Fundamenten ruhte. Ein großer Teil des Gebäudeflügels war in eine Erdspalte gerutscht, aber hinter dem zerstörten Bereich standen noch die Mauern. Die beiden Männer gingen durch die verzogene Holztür in die große Eingangshalle, betrachteten die Arbeiten am Eingang und blieben vor einer Reihe von Türen stehen, die zum Westflügel führten.

»Hier«, sagte Darrick. »Das hier muss alles eingerissen werden. Sie sollen keine Möglichkeit mehr haben, von dieser Seite aus einzudringen. Schicke ein paar Männer zum anderen Ende und gehe dort auf die gleiche Weise vor. Unser Hauptproblem wird der Obstgarten sein, durch den sie vorstoßen können, dann die drei Ostflügel und das Dach des Ballsaales, wenn sie das Loch finden. Und natürlich dort.« Darrick deutete auf den Haupteingang. »Bei den Göttern, das wird nicht leicht.«

»Es soll geschehen«, sagte Aeb.

Sie gingen durch die Halle und dann den Gang hinauf und ließen den Obstgarten rechts liegen. Dort gab es drei Doppeltüren, von denen jede in einen der Gebäudeflügel führte, deren Anordnung Erienne an Insektenbeine erinnert hatte. Im ersten Gebäudeflügel befanden sich Räume, die zurzeit kaum benutzt wurden, im mittleren lebten die Al-Drechar, und der letzte diente den Mitgliedern der Gilde als Quartier. Dort gab es Durchgänge zum Ballsaal, zur Küche und zu den Lagerräumen, außerdem Nebenwege in andere Gebäudeflügel. Es war ein Durcheinander von Gängen, das Darrick Sorgen machte.

»Wir könnten die Decke einreißen«, schlug Aeb vor.

»Aber das versperrt nicht unbedingt auch den Zugang. Diese Gebäude hier stehen im Gegensatz zu denen auf der anderen Seite noch sicher. Die Angreifer können durch jedes Fenster und jedes Loch eindringen. Wir sollten das Haus nicht in Trümmer legen, wenn wir es nicht unbedingt müssen.« Er betrachtete Aebs teilnahmslose Maske. Die Augen des Protektors flackerten nicht, und er zuckte nicht mit den Achseln.

»Erst der Sieg, das Leben kommt später«, sagte er.

Sie liefen durch den Hauptflur des ersten Flügels. Links und rechts zweigten Türen zu Wohnbereichen, Esszimmern, Bädern und Räumen mit Quellen und überdachten Wasserbecken ab. Auch hier war es nach den Überschwemmungen und den Wassereinbrüchen durch die Löcher in der Decke nass, doch das Gebäude war noch intakt.

»Ich verstehe deinen Gedanken, aber wir haben eine Verantwortung denen gegenüber, die wir schließlich hier zurücklassen«, entgegnete Darrick. Mit jeder Biegung des Ganges nahm seine Verzweiflung zu. Weniger als dreißig Krieger, um ein Haus zu verteidigen, in dem mehrere hundert Platz finden konnten.

Sie liefen durch einen Wirtschaftsgang, der am äußersten Ende alle drei Gebäudeflügel miteinander verband und im Flügel der Gilde endete. Sie sahen sich rasch in den Durchgängen zur Küche und dahinter um und überprüften die Türen von der Außenseite. Dann kehrten sie in den Wirtschaftsgang zurück.

»Der hier«, sagte Darrick, »muss an zwei Stellen blockiert werden. Wir können es uns nicht erlauben, dass sie sich hier frei bewegen können.«

»Bei aller Mühe können wir sie nicht ewig aufhalten.«

»Ich weiß«, sagte Darrick. »Es geht eher darum, sie zu der Stelle zu locken, an der wir sie haben wollen, und uns dann zum nächsten Punkt zurückzuziehen. Es könnte ein langer Tag werden.«

Aeb nickte. »Sie müssen alle sterben.«

 

Die Dordovaner hatten sich auf Segeljollen und überfüllte Beiboote verteilt und rückten langsam, aber stetig zur Insel vor. Die Sonne war untergegangen, das Meer reflektierte das bleiche Mondlicht. Das Wetter hatte sich beruhigt, und da die Wolkendecke aufgebrochen und dünn war, fand Vuldaroq, dass die Dinge sich endlich in seinem Sinne entwickelten.

Doch wenn er sich umschaute und seine Augen verstärkte, um die Dämmerung zu durchdringen, dann musste er seinen ganzen Mut zusammennehmen, um nicht den Glauben zu verlieren. Am Horizont sah er noch den Umriss des führenden Schiffs, dessen Masten schief emporragten, eine Spiere war sogar ins Wasser getaucht. Er hatte immer noch das schreckliche Geräusch von Holz im Ohr, das knirschend über Stein rutschte, bis der Rumpf brach und das Wasser durchs zerstörte Schiff schwappte.

Die übrigen beiden Schiffe hatten eilig beigedreht, ihre Kapitäne hatten Befehle gebrüllt, als auf ihren Decks auf einmal Panik ausbrach. Sie hatten die Ruder herumgeworfen und enge Wenden nach Steuerbord versucht, doch der böige Wind hatte sie weitergetrieben. Dann kam es zu den gefürchteten Erschütterungen unter den Füßen, bis das Schiff ruckend anhielt und das Deck kippte.

Es hatte nicht viele Todesfälle gegeben, doch die ganze Streitmacht von Soldaten und Magiern musste eilig in Jollen und Beiboote umsteigen. Sie hatten alle noch vorhandenen kleinen Boote der ursprünglich aus sieben Schiffen bestehenden Flotte mitgenommen und somit Raum für etwas weniger als einhundertfünfzig Personen. Es reichte aus, aber Vuldaroq sah die Müdigkeit in den Augen der Kämpfer, die gezwungen gewesen waren, den größten Teil der Nacht bis zur Insel zu rudern. Seine Magier flogen abwechselnd neben den überladenen Booten her und vergeudeten dabei ihre wertvollen Reserven.

Wie auch immer, jetzt war er zuversichtlich. Sie würden die Insel eine Weile vor der Dämmerung erreichen und ein Lager aufschlagen, in dem sie ruhen konnten, um im ersten Morgengrauen die erbärmliche Verteidigung zu zerschmettern, die der Rabe mit seiner Hand voll Protektoren aufbieten konnte. Die Drachen waren verschwunden, und er hoffte, dass sie ohnehin keine echte Bedrohung darstellten. Sie waren verletzt und konnten durch konzentrierte Sprüche besiegt werden. Ohne ihr Feuer konnten sie nicht mehr viel Schaden anrichten.

Er wandte den Blick wieder nach vorn und konnte gerade eben die Insel in der Ferne ausmachen. Die außergewöhnliche Säule aus Mana-Licht war verschwunden, doch sie hatte ihren Zweck erfüllt, und da an den Ruderpinnen der Boote Elfen saßen, bestand keine Gefahr, dass sie zu nahe ans Ufer kamen oder irgendwo falsch abbogen.

Dennoch mussten sie einige Vorbereitungen treffen. Er winkte einem Magier, der neben dem Boot herflog.

»Es wird Zeit, dass unsere geschätzten Assassinen sich etwas betätigen«, sagte er. »Ich muss die Lage der Landestellen, die Positionen von Wächtern, Gebäuden und Zutrittspunkten wissen. Ich will wissen, wie das Gelände beschaffen ist, welche Richtung sich für unseren Angriff empfiehlt und ob es außer denen, die wir kennen, noch weitere feindliche Kräfte gibt.«

»Ja, mein Lord«, sagte der Magier, ein junger Mann mit ängstlichen Augen. »Wie viele wollt Ihr einsetzen?«

»Alle«, entgegnete Vuldaroq. »Und sagt ihnen, sie sollen nicht kämpfen, solange ihr Leben nicht in unmittelbarer Gefahr ist. Sie sollen unterhalb der Klippen fliegen und sich sofort tarnen, wenn sie das Land erreichen. Der Rabe soll nicht wissen, dass sie überhaupt dort waren.«

»Selbstverständlich, mein Lord.«

»Ausgezeichnet. Dann macht Euch an die Arbeit und ruht danach aus, Ihr seht etwas abgespannt aus«, sagte Vuldaroq, während er seine Gewänder glatt strich.

»Danke, mein Lord.«

Der Magier flog zu einem der Beiboote hinüber. Vuldaroq sah ihm nach. Er lächelte und stieß das Bein des Mannes vor ihm mit dem Fuß an.

»Fühlt Ihr Euch jetzt besser?«, fragte er. »Eigentlich solltet Ihr wohl lieber an Land bleiben. Das Segeln oder Fliegen bekommt Euch nicht.«

Selik drehte sich um. Sein Gesicht war kreidebleich, und er starrte den Magier böse an.

»Sorgt nur dafür, dass dieser Pott mich ans Ziel bringt, Dordovaner«, leierte er. »Und haltet Euren neunmalklugen Mund.«

Vuldaroqs Lächeln verschwand, und er beugte sich vor, damit niemand sonst ihn hören konnte.

»Ihr solltet lieber Eure Zunge hüten. Seht Euch doch um, Selik. So viele Möglichkeiten, einen Unfall zu erleiden.« Vuldaroq tätschelte Seliks Schulter. »Hmm … so viele Dordovaner. Und nur eine einzige Schwarze Schwinge.«

 

»Ich dachte, du bist der Meister-Taktiker«, sagte Hirad, als wieder einmal bedrücktes Schweigen in der Küche herrschte. Der Rabe, Ren, Darrick und Aeb saßen am Tisch vor geleerten Suppenschalen. Im Esszimmer schlummerte Lyanna, Arrin passte auf sie auf, und die anderen Elfen der Gilde kümmerten sich um die Al-Drechar, die wieder schliefen. Im Lagerraum, in dem Ilkar die Elfen gefunden hatte, war für Thraun ein Bett aufgestellt worden. Es war nicht ideal, aber so war er wenigstens in der Nähe und hatte es warm.

Draußen wurde das Wetter wieder schlechter. Der Wind frischte auf, und Regenböen peitschten gegen das Haus. Es war ein seltsam beruhigendes Geräusch, als es nach einer ruhigen Phase folgte, die den Dordovanern viel mehr geholfen hatte als den Verteidigern.

Niemandem war entgangen, dass die Wetterbesserung mit der Zeit zusammengefallen war, die Lyanna mit ihrer Mutter und ihrem Vater verbringen konnte, bis sie sich mürrisch damit abfand, dass sie zu Bett gehen musste.

Als die Nacht anbrach und die Protektoren im Haus patrouillierten und sich in der Nähe der Landestelle versteckten, erklärte Darrick den anderen Kämpfern, welch schwierige Aufgabe vor ihnen lag, und die Stimmung verschlechterte sich zusehends.

»Hirad, du könntest ruhig mal versuchen, etwas konstruktiver zu sein«, sagte Ilkar.

»Aber er hat uns gerade erklärt, dass das Haus praktisch nicht verteidigt werden kann.« Hirad zeigte mit dem Finger auf Darrick.

»Nein«, erwiderte Darrick geduldig. »Ich habe vielmehr gesagt, dass es nicht gebaut wurde, um Leute draußen zu halten. Es ist ein gastfreundliches Haus, offen und leicht zugänglich. Es ist keine Festung, und wir würden Tage brauchen, um es entsprechend herzurichten. Was ich vorschlage, ist die meiner Ansicht nach einzige Möglichkeit, Erfolg zu haben. Falls jemand andere Vorschläge hat, dann würde ich sie gern hören.«

»Du bist der Taktiker, das ist deine Sache«, knurrte Hirad.

»Und ich habe meinen Vorschlag gemacht«, erwiderte Darrick kühl.

»Dann erkläre ihn mir noch einmal, und zwar so, dass ich nicht wieder glaube, es sei ein reiner Selbstmordversuch.«

Der Unbekannte rutschte auf seinem Stuhl herum, und das Kratzen seines Stuhls war eine wohlüberlegte Störung des Wortwechsels.

»Es ist Nacht«, sagte er, und seine Stimme duldete keinen Widerspruch. »Wir wissen, dass jetzt jederzeit Spione oder Assassinen ums Haus schwärmen können. Ich will dich eines fragen, Hirad. Hast du einen besseren Vorschlag?«

»Nein, aber …«

»Dann halte den Mund. Denn wir müssen unsere Positionen abstimmen, dann müssen wir abwechselnd noch ein paar Stunden schlafen, und dann müssen wir den ganzen Tag kämpfen. Wenn wir nicht zusammenhalten, dann werden wir schnell abgeschlachtet, und ich habe nicht die Absicht, Eriennes großartige Arbeit an meinem Bein zu vergeuden. Trotz eurer Sorgen habe ich vielmehr die Absicht, morgen mehr Blut am Schwert zu haben als alle anderen zusammen.

Da wir gerade von Erienne sprechen: Ich will, dass sie und Denser ein abgelegenes Zimmer bekommen, das von Protektoren bewacht wird, damit sie das genießen können, was vermutlich ihre letzte Nacht zusammen ist.« Er sah Hirad scharf an, bis der Barbar sich zurücklehnte, ausgiebig seufzte und ins Leere starrte.

Ilkar sah es, wie er es schon hundertmal gesehen hatte. Er wusste, was Hirad bewegte, und der Unbekannte wusste es auch. Der Barbar wollte nur dafür sorgen, dass sie das Richtige taten. Allerdings brachte er seine Bedenken sehr ungeschickt zum Ausdruck.

»Ich will, dass wir siegen«, sagte Hirad. »Und es tut mir Leid, Erienne und Denser, aber ich will nicht, dass dies eure letzte Nacht ist, weil das bedeutet, dass wir morgen alle tot sind.« Er stieß den Stuhl zurück, schnappte seinen Pott und ging zum Wassertopf. Seine Stiefel tappten laut über den Steinboden.

»Ihr wisst, dass er Recht hat, oder?« Denser saß am Ende des Tischs und hielt Erienne im Arm, die den Kopf an seine Schulter gelehnt hatte.

»Aber wir streiten uns jetzt schon eine Stunde, und es gibt keinen besseren Weg.«

»Außerdem braucht er dringend etwas Unterricht in höflicher Konversation«, sagte Ilkar.

Das brach die düstere Stimmung, und sogar Hirad kicherte, als er seinen Becher auffüllte. Nur Aeb, der anwesend war, damit er alle Entscheidungen sofort seinen Brüdern mitteilen konnte, ließ sich nichts anmerken.

»Also gut«, sagte der Unbekannte und forderte Darrick auf, noch einmal die eilig gezeichnete Karte zu erläutern, die mit verschiedenen Besteckteilen beschwert war.

»Bereit, Hirad?«, fragte Darrick.

»Zu Befehl, Herr General.«

»Komm schon, wir müssen uns konzentrieren«, sagte der Unbekannte. »Wir dürfen keine Fehler machen.«

»Also gut«, begann Darrick. »Wie ich schon gesagt habe, werden wir unsere stärkste Verteidigung erst in der Morgendämmerung einrichten. Die Dordovaner sollen so wenig Informationen wie möglich bekommen. Wir können annehmen, dass ihnen die Lage des Hauses bekannt ist, sie kennen die Eingänge und könnten sogar ins Gebäude selbst eindringen, wahrscheinlich durch den Obstgarten. Aeb hat an jedem kritischen Eingang zwei Protektoren stationiert, und die Al-Drechar benutzen einen beweglichen Schild, der unter Tarnzauber eindringende Magier entdecken sollte.«

Er räusperte sich und beugte sich über die Karte.

»Wie ihr wisst, werden wir die letzte Verteidigungslinie in der Morgendämmerung hier in der Küche einrichten. Das ist aus mehreren Gründen sinnvoll. Diejenigen, die wir schützen, haben es hier warm und trocken, und wir haben freie Sicht auf alle Eingänge. Der einzige Weg, der von hier aus direkt nach draußen führt, wurde glücklicherweise blockiert, als der Westflügel zusammengebrochen ist. Die Lüftungsfenster«, er deutete nach oben zu sechs Fenstern, die der Tür zum Ballsaal gegenüberlagen, »sind deshalb die einzige schwache Stelle. Erienne wird, bevor sie sich heute Abend zurückzieht, einen Wachspruch auflegen, der den größten Teil der Schlacht über halten sollte. War das so richtig?«

»Ja«, sagte Erienne. Sie nahm den Kopf von Densers Schulter und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Es ist eine Sprengfalle, die nach außen gerichtet ist, damit hier drinnen niemand verletzt wird. Der Lärm wirkt gleichzeitig als Alarm.«

»Ich sollte noch erwähnen, dass wir die Fenster schwärzen werden, damit kein fliegender Magier hereinschauen kann«, sagte Darrick.

»Denkst du denn, dass sie gelegentlich mal hier reinschauen, wenn sie gerade irgendwohin unterwegs sind?«, meinte Ilkar. Seine Augen blitzten amüsiert.

»Natürlich«, sagte Denser, der den Scherz aufgriff. »Es ist schon oft vorgekommen, dass ich irgendwo herumgeflogen bin und zufällig irgendeine verzweifelte letzte Verteidigungslinie gefunden habe.«

Darrick klopfte auf den Tisch und bat um Aufmerksamkeit. »Wir wollen zu einfacheren Dingen zurückkehren wie etwa zu der Frage, ob wir den morgigen Tag überleben können. Jetzt zu den anderen Punkten. Ich habe drei Verteidigungsbereiche an den Stellen eingerichtet, an denen die Dordovaner höchstwahrscheinlich angreifen werden. Zuerst einmal der Haupteingang, dann die drei Seitenflügel und der Obstgarten. Das ist der größte und der nach außen hin am schwersten zu verteidigende Ort, doch der Zugang ins Haus ist schmal, und deshalb werden die Kämpfe auf engem Raum stattfinden.

Falls die Feinde durchbrechen sollten, ist der Ballsaal mit den Türen, die von den Gebäudeflügeln und dem Obstgarten dorthin führen, das erste Rückzugsgebiet. Der innerste Bereich sind das Esszimmer und die Küche, doch ich rechne damit, sie spätestens im Ballsaal endgültig aufhalten zu können. Haben das alle so weit verstanden?«

Die Zuhörer am Tisch nickten.

»Der Obstgarten bietet den Gegnern eine Möglichkeit, uns vom Haupteingang abzuschneiden«, sagte Aeb.

»Richtig, aber dort können nicht viele Gegner eindringen, solange nicht der Haupteingang oder die Flügel gefallen sind«, sagte Darrick. Er deutete zum Westflügel. »Da dieser Flügel hier zusammengebrochen ist, und da wir zusätzlich Barrikaden errichtet haben, um ihn abzusperren, führt der einzige unverteidigte Weg in den Obstgarten durch die Luft. Das bedeutet, dass dort nur Magier eindringen können, es sei denn, sie tragen Soldaten. Wie auch immer, die Anzahl kann nicht sehr groß sein, und damit sind sie angreifbar. Ren wird dort mit drei Elfen der Gilde stehen, die gut mit Pfeil und Bogen umgehen können. Wir müssen Jevin danken, dass er uns die Waffen zur Verfügung gestellt hat.«

Hirad beugte sich vor, und Ilkar konnte sehen, wie seine Begeisterung wuchs, als er endlich die Logik hinter Darricks Plan erkannte und sah, dass es funktionieren konnte.

»Wer kommt dann an welche Position?«, fragte Hirad.

»Fünf Protektoren bleiben jederzeit in der Küche«, sagte Darrick. »Der Rabe plus Aeb plus sechs weitere Protektoren werden den Haupteingang verteidigen. Wir müssen dort mit Angriffen durch Magie und Schwert rechnen. Das ist die Front, die am besten abgeschirmt werden muss. Zwei weitere Protektoren werden im Esszimmer und im Ballsaal patrouillieren. Ich rechne nicht damit, dass jemand durchs Dach des Ballsaales kommt, aber ich will mich auch nicht überraschen lassen. Ähnliches gilt fürs Esszimmer. Wir haben den Zugang vom kleinen Vorraum aus mit schweren Schränken, Ranken und Steinen blockiert. Auch die Fenster des Esszimmers und die Türen sind mit Wachsprüchen gesichert und mit vielen Möbeln blockiert. Wie ihr gesehen habt, ist der Zugang zum hinteren Teil des Hauses nach einem von Lyannas Wutanfällen sehr schwierig geworden.« Er lächelte Erienne und Denser an.

»Wir haben unser Kind gut erzogen«, sagte Denser. »Sogar ihre Wutausbrüche sind gut gezielt.«

»Schließlich werde ich mit den letzten zehn Protektoren die Türen der Gebäudeflügel bewachen, als Reserve zur Verfügung stehen und teilweise auch den Obstgarten sichern«, sagte Darrick. »Gibt es noch Fragen?«

Sie schwiegen und durchdachten den Plan.

»Die Kommunikation ist wichtig, deshalb habe ich die Protektoren aufgeteilt. Ich weiß, dass sie in einer Gruppe besser arbeiten, aber dieses Mal müssen wir wohl ihren zweiten Hauptvorteil nutzen.«

»Wir stimmen zu«, sagte Aeb. »Wir werden siegreich sein.«

»Wir sind eins«, flüsterte der Unbekannte.

Ilkar beschloss, die Bemerkung zu ignorieren, obwohl es ihm kalt über den Rücken lief. So viel Zeit war vergangen, und doch reagierte der Unbekannte immer noch unwillkürlich wie ein Protektor.

»Wird das alles in Kraft treten, nachdem die Dordovaner ihr erstes magisches Trommelfeuer losgelassen haben?«, fragte er.

»Ich habe den magischen Angriff bei unserer Verteidigung berücksichtigt, doch er berührt unsere Verteidigungsbereiche nicht, solange unser Schild nicht an einer entscheidenden Stelle durchbrochen wird«, sagte Darrick. »Die Al-Drechar glauben, dass sie einen ausreichend starken Schild aufbauen können, der allerdings nur ein begrenztes Gebiet abdecken kann. Die magische Bombardierung wird nicht sehr lange dauern, weil sie nur begrenzte Ressourcen haben, aber wir müssen damit rechnen, dass sie hart und gebündelt kommt. Ich habe die Al-Drechar gebeten, die Küche, das Esszimmer, den Ballsaal, die Flure und den Vordereingang zu schützen, wenn sie es können. Auch für die Seitenflügel wird es einen gewissen Schutz geben, aber der Bereich, den ich beschrieben habe, ist so groß, dass sie vorsichtig vorgehen müssen.«

»Noch Fragen?«, wollte der Unbekannte wissen. Die Zuhörer schüttelten die Köpfe. »Gut. Erienne, richte den Schutzzauber ein, und dann kannst du dich mit Denser zurückziehen. Ilkar, du gehst ins Bett. Ebenso Hirad und Ren. Darrick und ich übernehmen die erste Wache, die Protektoren werden abwechselnd wachen. Ich muss euch nicht eigens sagen, dass wir wachsam bleiben müssen, und wenn die Al-Drechar uns rufen, dann müssen wir springen. Also los, an die Arbeit.«

Doch der Rabe ging nicht sofort hinaus. Ohne dies abgesprochen zu haben, blieben sie sitzen, während die anderen sich zurückzogen. Tiefe Stille herrschte in der Küche. Eine Weile saßen sie mit gesenkten Köpfen da und dachten über das nach, was kommen würde und was es für sie alle bedeutete, besonders für Denser und Erienne.

»Es ist schwer, nicht wahr?«, sagte Erienne. Alle schauten sie an. Sie hatte wieder den Kopf an Densers Schulter gelehnt. »Wir haben in den letzten Tagen viel Zeit damit verbracht, uns darauf einzustellen, aber für euch ist es anders, und wir haben euch vernachlässigt. Es tut mir Leid.«

»Hör doch auf, Erienne«, sagte Ilkar.«Dir muss nichts Leid tun. Du tust etwas, für das normale Dankesworte völlig unzureichend sind. Es ist ein Opfer, von dem viele niemals erfahren werden, das aber allen nützen wird. Und ich kann nichts tun, als dir im Namen von ganz Balaia meine Bewunderung auszusprechen. Du stirbst, weil du versuchst, unzählige Menschen zu retten. Das ist außergewöhnlich, ganz außergewöhnlich.«

Er unterbrach sich, weil seine Stimme versagte. Denser lächelte.

»Danke«, sagte er.

»Das ist aber noch nicht alles, und das ist uns allen klar«, ergänzte der Unbekannte. »Erienne, du bist unsere Freundin. Du gehörst zum Raben. Und letzten Endes können wir dich nicht retten. Das schmerzt mehr als alles andere.« Hirad und Ilkar nickten. »Wir haben so viel durchgemacht, wir alle. Und wir haben auch früher schon Freunde verloren, aber dies ist schwerer als alles andere.«

Hirad spürte, wie sich aller Augen auf ihn richteten. Er zuckte mit den Achseln und stand auf. »Ich kann nicht viel sagen.« Er ging um den Tisch herum zu ihr. »Ich weiß nur, dass wir uns jetzt verabschieden sollten, weil wir morgen vielleicht keine Zeit mehr dazu haben.«

Er breitete die Arme aus. Erienne warf sich ihm entgegen und drückte ihn, und er erwiderte die Umarmung und drückte sie fest. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, und Ilkar konnte sehen, dass auch Hirad mit den Tränen rang. Sie hielten sich lange in den Armen, ehe er sie wieder freigab. Sie rieb mit einer Hand über seine Stoppeln.

»Du großer Kerl«, sagte sie. »Du brauchst keine Worte.«

»Komm schon«, sagte Denser. »Es ist Zeit fürs Bett.«

Erienne wandte sich nacheinander an den Unbekannten und Ilkar, umarmte auch sie und verabschiedete sich flüsternd vom großen Krieger. Als sie sich schließlich auch von Ilkar löste, sah sie ihm tief in die Augen.

»Ich weiß, dass du mit dem Einen Weg nicht einverstanden bist«, sagte sie leise. »Aber pass bitte auf mein kleines Mädchen auf, ja?«

»Auf sie und auf Denser«, sagte Ilkar. »Ich verspreche es.«

Erst als Denser und Erienne Arm in Arm die Küche verlassen hatten, ergriff Ilkar wieder das Wort.

»Kommt mit, ihr zwei. Ich will euch etwas zeigen.«

Sie folgten ihm in den Lagerraum, in dem Thraun schlief. Trotz der warmen Decken schauderte er gelegentlich. Sie versammelten sich an seinem Bett und sahen wieder das Gesicht des Mannes, von dem sie geglaubt hatten, es werde nie wieder hinter dem Wolfsgesicht zum Vorschein kommen. Es war ein langsamer Prozess.

»Was ist denn los?«, fragte Hirad.

»Nichts«, entgegnete Ilkar. »Ich wollte euch nur an etwas erinnern. Wir können Erienne nicht retten, aber wir können Thraun retten. Auch er gehört zum Raben.«

»Bei den Göttern, ich habe überhaupt noch nicht richtig darüber nachgedacht«, sagte der Unbekannte. »Wir waren so eingespannt, seit ich aufgewacht bin … es ist unglaublich, was? Dass er wieder da ist, meine ich.«

Er richtete sich auf, und Ilkar und Hirad drehten sich zu ihm um.

»Denkt doch nur mal darüber nach«, fuhr er fort. »Was muss ihm als Wolf durch den Kopf gegangen sein? Er war gezwungen, Dinge zu tun, die er nicht richtig verstehen konnte, auch wenn er wusste, dass sie richtig waren. Und er hat dabei seine Familie verloren.«

»Und dann ist er wieder zu uns gekommen«, sagte Hirad leise.

»Ja«, sagte der Unbekannte. »Zu uns. Erinnert euch doch, wie es war, als Will gestorben ist. Er wird sich auch für den Tod des Rudels die Schuld geben.«

»Er wird wohl noch etwas Zeit brauchen«, sagte Hirad.

»Aber wir werden da sein«, antwortete Ilkar.«Zusammen oder getrennt, wir haben es in den letzten Wochen bewiesen. Der Rabe ist immer da.«

Hirad lächelte, und Ilkar konnte sehen, dass für den Barbaren nie ein Zweifel daran bestanden hatte.

 

Der Magier-Assassine flog dicht über der Insel. Seine Gefährten waren schon gelandet und liefen unter Tarnzauber den Weg von einer versteckten Landestelle hoch, die vom Meer aus nicht zu sehen war. Er hatte beschlossen, das seiner Ansicht nach geringe Risiko der Entdeckung einzugehen. Unter sich sah und spürte er die verfallende Illusion, und wenn er durch die Barriere hineinschaute, sah er das weitläufige, stark beschädigte Haus.

Im Zentrum standen Bäume. Ringsum war freies Gelände, hinten ein von Wasser überspülter Felssturz, der vom Haus selbst aufgehalten worden war.

Hier gab es eine große Macht, und seine Instinkte warnten ihn, nicht tiefer zu fliegen. Man würde ihn bemerken, im Mana-Spektrum ebenso wie mit dem Auge. So kreiste er knapp innerhalb der Illusion, ohne ein Licht oder eine Bewegung zu entdecken. Einem zufälligen Beobachter wäre das Haus verlassen erschienen. Er fragte sich beinahe, ob es nicht sogar so war. Doch auf der Insel gab es keinen anderen Ort, an dem man sich aufhalten konnte.

Noch einmal flog er über das Haus, prägte sich mögliche Zugangspunkte ein und kehrte zur Flotte zurück. Er vertraute darauf, dass die anderen Magier seiner Sekte unentdeckt blieben, während sie das Gelände gründlich erkundeten.

Es war nicht leicht, aber sie würden siegen. Sie mussten. Die weitere Existenz der dordovanischen Magie hing davon ab.