21
Darrick preschte ins Lager der Lysternier und rief Izack. Der Kommandant kam aus der Dunkelheit gerannt, als der General vom Pferd sprang.
»Izack, gebt Alarm. Die Truppe muss schneller im Sattel sitzen und reiten als jemals zuvor. Schickt eine Nachricht an die Dordovaner, dass sie ja nicht in die Nähe der Meerulme kommen sollen. Wenn Ihr die dordovanischen Magier findet, dann sagt ihnen, dass sie nicht mehr mit uns reiten dürfen.«
»Sir?« Izack runzelte die Stirn.
»Später. Wir müssen zur Meerulme. Ich fürchte, es wird eine Menge Ärger geben.«
»Sir!« Izack machte kehrt und rannte los. Darrick sah, wie er einen jungen Soldaten zur Glocke schickte und seinen Männern befahl, zu den Koppeln zu laufen. Zelttüren klappten auf, Pferde wieherten und schnaubten, Metall klirrte, und überall waren drängende Rufe zu hören.
Darrick drehte sich um und rannte ebenfalls zur Koppel, um sich ein frisches Pferd zu besorgen. In diesem Moment war er nur einer unter einigen hundert Männern, die es eilig hatten.
Die Koppeln sahen aus wie das leibhaftige Chaos, doch Darrick wusste, dass dem nicht so war. Alle Pferde waren nach präzisen Regeln untergestellt, und jeder Mann konnte sein Pferd ohne Mühe und Behinderungen finden. Ganz in der Nähe brüllte Izack, der irgendwie schon wieder vor ihm war, neue Befehle.
»Aufgesessene Kavallerie, verlasst die Koppeln und sammelt euch in Trupps am Sammelpunkt eins. Eins!« Er hob einen Arm und streckte einen Finger aus, um es auch denen zu übermitteln, die ihn nicht hören konnten. »Los jetzt, Lystern, los!«
Darrick grinste. Das würde den dordovanischen Magiern überhaupt nicht passen, falls sie es gehört hatten. Die Magier hatten sie hochmütig bewacht und gegängelt und glänzten im Moment, wie er bemerkte, durch Abwesenheit. Falls sie überhaupt noch etwas Vernunft besaßen, hatten sie sich längst abgesetzt.
Er wich den tänzelnden letzten Pferden aus, denen die Sättel aufgelegt wurden, und den Reitern, die mit wehenden Mänteln zum Sammelpunkt unterwegs waren, und lief weiter. Sein persönlicher Stallbursche hielt sein Reservepferd schon bereit. Die Stute sah im Fackelschein tadellos aus, das Fell glänzte, sie hatte schon erwartungsvoll den Kopf gehoben, Zaumzeug und Trense waren poliert wie immer. Der General bedankte sich mit einem Nicken, sprang in den Sattel, steckte die Füße in die Steigbügel und setzte das Pferd mit den Hacken in Bewegung. Im Sprung überwand er den Zaun der Koppel und galoppierte zum Sammelpunkt, wo Izack schon mit den Leuten haderte.
»Das ging mir noch nicht schnell genug«, klagte der erfahrene Hauptmann, dem Darrick blind vertraute.
»Bei den Göttern, Izack, ich bin froh, dass Ihr nicht mich kommandiert. Wenn man bedenkt, dass Ihr die Leute aus dem Tiefschlaf geweckt habt, war das vermutlich ein Rekord.«
»Trotzdem haben wir keine Zeit zu verschwenden.«
Darrick sah, wie sich seine Männern zum Sammelpunkt begaben. Die letzten tauchten gerade auf. »Sorgt für Ruhe.«
»Zuhören«, rief Izack und hob beide Arme über den Kopf. »Der General spricht.« Die Reiter verstummten sofort.
»Dies wird kein Angriff auf offenem Feld gegen einen klar erkennbaren Feind. Wer in den letzten Jahren mit mir in die Schlacht gezogen ist, wird sich an die Erregung erinnern, die sich im Kampf einstellt. Dies hier muss ruhiger verlaufen. Wir werden durch enge Straßen reiten und kommen an den Häusern Unbeteiligter vorbei, die keinesfalls verletzt werden dürfen.
Wir werden schnell reiten, müssen aber trotzdem vorsichtig sein. Wir lassen die Waffen in der Scheide, bis wir im Hafen angelangt sind und der Befehl zum Angriff gegeben wird.
Ich weiß nicht genau, was wir am Hafen sehen werden, aber vergesst nicht, dass einige, die unsere Verbündeten zu sein scheinen, möglicherweise keine Verbündeten sind. Wir reiten, um ein Kind vor seinen Mördern zu retten. Die Unschuldigen müssen überleben. Lystern, wir reiten!«
Mit einem Aufschrei setzte sich die Kavallerie in Bewegung und begann den schnellen Ritt nach Arlen.
Hirad hatte sich nach Norden gewandt und die Wölfe von den südlichen Wegen nach Arlen fern gehalten. Er verfolgte keinen bestimmten Plan, wollte aber jedenfalls so nahe wie möglich am Hafen herauskommen. Was er allerdings ein paar Meilen außerhalb von Arlen beobachten konnte, hatte ihn erschüttert.
Aus einem Lager, in dem die Feuer noch hell brannten, zogen hunderte Fußsoldaten und Reiter zum kleinen Hafen. Wahrscheinlich waren es Dordovaner. Westlich von ihnen, unermüdlich rennend und sich rasch nähernd, wanderte ein dunkler Fleck durch die von fahlem Mondlicht erhellte Landschaft.
Schweigend und beängstigend wie eine schwarze Decke strömten sie übers Land. Sie brauchten keine Laternen und keine Pferde, sie brauchten keine Rast. Wenn sie in Arlen eintrafen, würde die Hölle losbrechen. Die Protektoren. Wenn sie einen Auftrag bekommen hatten, dann führten sie ihn rücksichtslos aus und machten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte.
Hirad kannte nur einen einzigen Mann, der sie aufhalten konnte, doch er wusste nicht, wo er war. Er wurde irgendwo gefangen gehalten. Vielleicht war er bei den Dordovanern, doch bis er die eingeholt hätte, wäre es zu spät. Er beschloss, ein Risiko einzugehen und einen Bogen zu schlagen, bis er einige Meilen nördlich von Arlen weitere Lagerfeuer fand.
Thraun und das Rudel folgten ihm, als er ins Lager ritt. Es war beinahe verlassen, überall waren Zeichen eines hastigen Aufbruchs zu sehen. Die Zelteingänge waren nicht ordentlich gesichert, Feuer brannten ohne Aufsicht herunter, Waffenständer waren hastig geleert worden, einige sogar umgekippt. Er bemerkte nur zwei Männer. Sie standen am Hauptfeuer, über dem noch mehrere dampfende Kessel hingen. Die Speere hatten sie neben sich in den Boden gerammt, um sich die Hände am Feuer zu wärmen, während der Wind an ihren Mänteln zerrte.
Da er Thraun ohnehin nicht überreden konnte, außerhalb zu warten, ritt er einfach mitten hinein und vertraute darauf, dass die Wölfe nicht angriffen, solange er es nicht tat. Außerdem verliehen die fünf Wölfe hinter ihm seinen Fragen den nötigen Nachdruck.
Die Soldaten bemerkten ihn erst sehr spät, weil der rauschende Wind die Geräusche überdeckte und der grelle Feuerschein dunkle Schlagschatten warf. Als sie endlich auf ihn aufmerksam wurden, waren ihre Reaktionen komisch und vorhersehbar zugleich. Sie packten die Speere, wichen aber gleichzeitig zurück, als ihnen bewusst wurde, was da auf sie zukam. Sie wechselten einen Blick und schätzten die ihrer Ansicht nach hoffnungslose Situation ein. Zum Weglaufen war es zu spät, aber wenn sie kämpften, konnten sie nicht gewinnen.
Hirad zügelte sein Pferd und sprang herunter. Er spürte mehr, als dass er sah, wie Thraun ihm zum warmen Feuer folgte. Die Soldaten sagten nichts, sondern starrten an ihm vorbei zu den Wölfen.
»Ja, sie sind beeindruckend, was?«, sagte er, die Hand auf den Schwertknauf gelegt. »Aber sie sind nicht gefährlich. Nicht unbedingt.«
»Wollt Ihr was?«, fragte einer.
»Gut geraten. Der Rabe. Wo ist er?«
Erkennen flackerte in ihren Gesichtern, doch zugleich runzelten sie die Stirn.
»Wir haben gehört, Ihr wärt getötet worden«, sagte der zweite Soldat. Beide waren junge Männer. »Von Wölfen.« Er deutete auf Thraun.
»Wer das erzählt hat, der hat sich geirrt. Wo ist nun der Rabe?«
»Man hat sie nach Arlen gebracht. Ins Gefängnis.«
Hirad nickte bedächtig. Der Rabe saß im Gefängnis. Eine Demütigung, die er selbst mit heraufbeschworen hatte. Er schluckte seinen aufkommenden Ärger hinunter.
»Und Darrick? Wo ist eigentlich die Kavallerie? Angenommen jedenfalls, meine Vermutung ist richtig, und ihr kommt aus Lystern. Das Lager ist zu ordentlich, um von Dordovanern aufgebaut zu sein.«
»Es gibt Ärger in Arlen.« Wieder wechselten sie einen Blick. Hirad verstand. Immerhin waren sie Darricks Männer.
»Hört mal, ich weiß ja, dass ihr eure Befehle habt, aber egal, wie es auszusehen scheint, am Ende wollen wir alle das Gleiche. Sagt es mir. Ich werde dem General nicht verraten, woher ich es weiß, aber es könnte mir helfen, eine Menge eurer Kameraden zu retten, und ich habe keine Zeit, jetzt mit euch zu streiten.«
Sie zögerten einen Augenblick, dann zuckte einer mit den Achseln, und der andere ergriff das Wort.
»Die Kavallerie ist zum Hafen geritten. Der General glaubt, es habe einen Verrat gegeben. Er will die Meerulme sichern.«
»Ist das alles?«
Die beiden nickten, aber Hirad war schon wieder in Bewegung. Er drehte sich um, packte die Zügel seines Pferds und wandte sich noch einmal an die beiden Soldaten, als er sich in den Sattel schwang.
»Bei den brennenden Göttern, es ist noch viel schlimmer, als ihr glaubt. Die Dordovaner kommen von Süden, und die Protektoren sind direkt hinter ihnen. Wenn ihr Darrick eine Botschaft schicken könnt, dann unterrichtet ihn. Ihr wisst ja, wohin ich will.« Er ließ sein Pferd die Hacken spüren. »Thraun, komm mit.« Er ritt im Galopp aus dem Lager, und die Wölfe folgten ihm.
Ren’erei wollte rufen und Erienne wissen lassen, dass sie alles tun werde, um die Magierin aus Seliks Gewalt zu befreien, doch sie wusste, dass sie besser still bleiben sollte. Alles andere hätte sie die Freiheit und vielleicht auch das Leben gekostet.
Die Schwarzen Schwingen hatten die Meerulme blitzschnell übernommen, und Ren’erei verfluchte sich selbst, weil Erienne in diese scheußliche Lage geraten war. Sie hatte jedoch so große Angst gehabt, und sie über Bord zu werfen, schien die einzige Lösung zu sein.
Ren’erei hörte Eriennes Schreie, als Selik sie aufs Deck zerrte. Sie betete, dass Tryuun überlebt hatte und aufpassen konnte. Der arme Tryuun, seine Furcht war sicher fast so groß wie die von Erienne.
Doch Ren’erei musste sich um dringendere Probleme kümmern. Das Wasser war kalt und wurde vom rasch auffrischenden Wind aufgewühlt. Die Gischt brannte in ihrem Gesicht. Das Leder zog schwer an ihrem Körper, und ihr Schwert, obschon leicht geschmiedet und der besseren Beweglichkeit wegen auf den Rücken geschlungen, vergrößerte noch ihr Gewicht und machte es ihr schwer, sich mit Wassertreten an der Oberfläche zu halten. Sie musste rasch nachdenken und die beiden verfügbaren Möglichkeiten gegeneinander abwägen.
Das Heck der Meerulme war wie bei allen Elfenschiffen leicht überhängend gebaut, doch man konnte, wenn man es richtig anfing, durchaus an dieser Seite hinaufklettern. Ihr wollte allerdings kein einleuchtender Grund einfallen, es zu versuchen. Allein konnte sie das Schiff nicht befreien, und während sie herumsaß und auf irgendeine Chance wartete, konnte sie leicht geschnappt werden, woraufhin sie Erienne als Gefangene würde Gesellschaft leisten müssen.
Also schwamm Ren’erei fort und entfernte sich vom Heck der Meerulme, um ein Stück abseits im sicheren Fischereihafen wieder an Land zu gehen. Dort war sie außer Sichtweite der Schwarzen Schwingen. Es war klar, was sie planten. Erienne und die Meerulme gaben ihnen die Möglichkeit in die Hand, Lyanna zu erreichen.
Die Frage war allerdings, wie viel sie bereits wussten. Es war erschreckend, dass sie die Meerulme so leicht hatten einnehmen können. Ren’erei musste annehmen, dass sie in groben Zügen über das Ziel des Schiffs informiert waren oder mindestens wussten, dass es im Süden lag. Schließlich war der Verfall des Schirms der Al-Drechar der Grund dafür, dass sie hierher gereist waren, und ein kluger Magier war sicher fähig, die Störungen im Fluss des Mana richtig zu deuten.
Ren’erei kraulte mit kräftigen Zügen durchs Hafenbecken und glitt, ohne sich zu verausgaben, rasch durchs unruhige Wasser. Ein Stück vor sich sah sie schon den Fischereihafen, dessen aus Stein und Holz gebaute Liegehalle den relativ empfindlichen Jollen und Kuttern Schutz und ruhiges Wasser zum Ankern bot, seit die Stadt Arlen gegründet worden war. Selbst auf dem normalerweise ruhigen Wasser des Sees erzeugten die böigen Winde, die manchmal als Stürme von den Bergen herunterkamen, gelegentlich hohe Wellen und trieben die Fischereiflotte in einen sicheren Unterschlupf.
Am Ende des Wellenbrechers beschloss sie, bis ans Ufer zu schwimmen, statt im Windschatten der Hafenmauer über den Kies zu laufen. Der Wind fegte scharf übers Wasser und konnte sie im Nu bis auf die Knochen auskühlen, wenn sie jetzt schon an Land ging. Als sie die dümpelnden Fischerboote sah, dachte sie an die Besitzer, die vermutlich eine schlaflose Nacht verbrachten und zu den Göttern der Meere beteten, dass die Boote unbeschädigt die Nacht überstanden.
Ein Stückchen vor dem Ufer musste Ren’erei wieder an Erienne und die Meerulme denken. Die Besatzung konnte den Schwarzen Schwingen die Überfahrt nicht verweigern, und man konnte sie nicht einmal sehr lange aufhalten. Lyannas Nacht hatte begonnen, und Balaias Schicksal hing davon ab, dass Erienne, Denser und Ilkar möglichst schnell nach Herendeneth kamen, um die hinfälligen, geschwächten Al-Drechar zu unterstützen. Die Zeitnot führte jedoch zwangsläufig auch die Schwarzen Schwingen zur Insel. Die Lösung, die sie im Auge hatten, durfte jedoch keinesfalls verwirklicht werden. Das Eine musste überleben.
Die Schwarzen Schwingen hatten freilich ein Problem. Sie brauchten die Elfen, um sicher durch die Gewässer um Herendeneth zu gelangen, und die Elfen wollten, dass Erienne überlebte. Selik hatte also nicht die unumschränkte Kontrolle über das Schiff, und deshalb hatten sie noch eine Chance. Die zweite Möglichkeit war also die einzige, die Ren’erei tatsächlich noch offen stand. Sie musste den Raben finden und dazu ein Schiff, mit dem sie der Meerulme nach Herendeneth folgen konnten. Wenn möglich, mussten sie sogar früher dort ankommen, und dann konnten sie nur noch hoffen, irgendwie zu siegen.
Als sie aus dem Wasser stieg und schaudernd im windigen Hafen stand, hörte Ren’erei die Befehle der Elfen weithin hallen. Sie hörte donnernde Hufe, die sich rasch näherten, und sie sah von Südwesten her Lichter kommen. Sie rannte nach Norden hinter den Fischmarkt in Richtung des Jahrhundertplatzes und fragte sich, ob ihr nun nicht ohnehin alles aus der Hand genommen wurde. Andererseits spielte dies keine Rolle. Sie musste es wenigstens versuchen, und dies bedeutete, dass sie zunächst den Raben finden musste.
Erienne hatte nach kurzer Zeit nicht einmal mehr die Kraft zu schreien. Selik hatte einfach vor ihr gestanden, sein widerliches Lächeln aufgesetzt und gewartet, bis sie sich verausgabt hatte. Jetzt sah sie sich von Furcht, Selbsthass und Hoffnungslosigkeit übermannt, und ihre Knie wurden weich. Sie hatte ein schreckliches Gefühl im Bauch, eine Vorahnung von Qualen und eine aufkommende Furcht, die sich immer mehr ausbreitete und Wellen von Übelkeit durch ihren ganzen Körper jagte. Sie zitterte, die Tränen rannen ihr über die Wangen, ihre Kehle war wund vom Schreien, und sie wehrte sich nicht einmal mehr, als Selik sie auf die inzwischen wieder unnatürlich stille Meerulme zurückzog.
Selik hielt sie im Nacken fest und zerrte sie übers Deck. Seine Fingerspitzen lagen auf ihrer Kehle, und jedes kleine Zucken eines Fingers war eine Drohung. Auf dem Hauptdeck stieß er sie unter dem Johlen der Schwarzen Schwingen in den Fackelschein. Sie stolperte, stürzte aber nicht, und orientierte sich, so gut sie konnte.
Die Decksplanken waren mit Blut bespritzt, die Elfen standen mit gesenkten Köpfen und von Schwertern bewacht auf Deck, die Gestürzten lagen, wie sie gefallen waren, einige zuckten sogar noch. In der Nähe umklammerte einer den Bolzen einer Armbrust, der aus seinem Oberschenkel ragte. Sein schmales Gesicht war bleich und vor Schmerzen verzerrt, und seine Versuche, die starke Blutung einzudämmen, wurden von den Schwarzen Schwingen teilnahmslos beobachtet. Da stand sie nun und konnte wegen der Verletzungen, die Lyanna ihr zugefügt hatte, nicht einmal mehr einen Spruch wirken, um den Mann zu heilen.
Auch auf anderen Schiffen gingen jetzt die Lichter an, nachdem die Besatzungen vom Kampflärm im Hafen geweckt worden waren. Erienne konnte nur hoffen, dass ihnen andere Matrosen und die Leute aus der Stadt zu Hilfe kämen. Das war alles, woran sie sich noch klammern konnte. Dies, und dass Ren’erei das Richtige tat und nicht etwa versuchte, ohne Hilfe allein wieder an Bord zu gelangen.
Erienne richtete sich auf, wandte sich an Selik und nahm ihr letztes bisschen Selbstbewusstsein zusammen.
»Jetzt habt Ihr, was Ihr wollt. Nun helft den Verletzten, bevor ihr Tod die Schuld vergrößert, die Ihr ohnehin schon auf Euch geladen habt.«
Selik kam kopfschüttelnd zu ihr. »Aber, aber, Erienne. Ihr seid doch wohl kaum in einer Position, Forderungen zu stellen, nicht wahr?«
»Ihr braucht eine Mannschaft, um das Schiff zu bewegen, oder?« Erienne hörte, wie die Worte über ihre Lippen kamen, doch sie erkannte die Stimme, die sie sprach, nicht als ihre eigene. Die Stimme zitterte, nichts vom üblichen Selbstvertrauen und der gewohnten Stärke war mehr vorhanden. Sie konnte sich kaum auf Selik konzentrieren, der da vor ihr stand. Sein zerstörtes Gesicht und der keuchende Atem bezeugten, was sie ihm angetan hatte, und doch hatte er überlebt, und die Galle in ihrem Hals schmeckte bitter. Sie hatte es damals nicht geschafft, ihn zu töten, und nun war sie in seiner Gewalt.
Sie sah den Hass in seinen Augen. Einen tiefen, brütenden, schwärenden Hass. Er ging in Wellen von ihm aus. Mehr als sechs Jahre lang hatte er sie verfolgt, dies war nun offensichtlich. Die meiste Zeit über hatte sie in Sicherheit im Kolleg von Dordover gesessen und nicht an ihn gedacht. Warum sollte sie auch? Bei den Göttern, sie hatte ihn doch getötet, oder? Doch da stand er nun vor ihr, ihre Nemesis, er hatte sie ganz und gar in seiner Gewalt, und das war es, was sie wirklich ängstigte. Jetzt waren die Schwarzen Schwingen zum zweiten Mal in der Lage, ihre Familie und ihr Leben auszulöschen, und schon der Gedanke versetzte ihr einen schmerzhaften Stich in der Brust. Sie sah keine Möglichkeit, die Schwarzen Schwingen und vor allem Selik aufzuhalten.
Welche Chancen hatten sie denn noch? Er würde sie jetzt nicht mehr gehen lassen. Wenn sie sich rundheraus weigerte, verurteilte sie Lyanna und vielleicht ganz Balaia zum Tode. Wenn sie sich ihm fügte, wäre das Ergebnis das gleiche. Sie saß in der Falle und konnte nichts tun, außer auf Zeit zu spielen, während sie die Scharfrichter geradewegs zu ihrem Kind führte. Sie schluckte schwer und war nahe daran, ohnmächtig zusammenzubrechen. Es verschwamm ihr vor Augen, und sie schwankte.
»Nun?«, quetschte sie heraus.
»Ich habe nicht die Absicht, sie sterben zu lassen, Erienne.« Er rief einen seiner Männer mit einem Fingerschnippen zu sich und winkte ihn zu einem der gestürzten Elfen, dessen Blutverlust lebensgefährlich schien. »Eine wirkungsvollere Hilfe unter Beteiligung von – wie soll ich es ausdrücken? Unter Beteiligung von magischen Kräften ist jedoch schon unterwegs.«
»Wie bitte?« Alles stürzte wieder auf Erienne ein. Sie erinnerte sich an die Zeit als Gefangene in der Burg der Schwarzen Schwingen. Sie hatte dort erfahren, dass einige Magier Verrat geübt hatten und den Hexenjägern halfen. Ihr war bei diesem Gedanken übel geworden, und jetzt verstärkte er nur noch ihre Hoffnungslosigkeit.
Selik lächelte, sein gelähmter Mund verzerrte sich gehässig. »Bewertet es nicht als Verrat, geschätzte Magierin. Seht es als Hilfe. Schließlich wollen wir ja alle dieses Chaos beenden, das die unkontrollierte Magie Eurer Tochter ausgelöst hat.«
Erienne ging auf ihn los und wollte ihm mit bloßen Händen die Haut vom grässlichen Gesicht kratzen, doch er hielt sie mühelos auf.
»Rührt sie ja nicht an«, knirschte sie. »Wagt es nicht, ihr irgendetwas anzutun.«
»Ich? Erienne, Ihr missversteht mich. Ich habe wirklich nicht die Absicht, auch nur ein Härchen auf dem zweifellos hübschen Kopf Eurer Tochter zu krümmen. Auch kein anderer Mann der Schwarzen Schwingen wird ihr etwas tun. Es gibt andere, die wissen, was für die Mana-Kreatur, die Ihr in die Welt gesetzt habt, das Beste ist, und ich will dies gern ihren fähigen Händen überlassen.« Er zog sie nahe an sich, und seine Finger gruben sich tief in ihre Oberarme.
»Wollt Ihr wissen, warum ich noch lebe? Auch nachdem Euer Spruch mein Fleisch vereist hat? Eure Rabenfreunde haben mich in den Keller geworfen, wo ich mit meinen Gefährten verwesen sollte. Sie hätten mich im Turm verbrennen lassen sollen, wo ich im warmen Blut Eurer Söhne lag.«
Als ihre Jungs erwähnt wurden, sackte sie innerlich zusammen und sah das Gemetzel vor sich, als sei es erst gestern gewesen. Die blicklosen Augen, die aufgeschlitzten Kehlen und das rote Blut. Das dunkelrote Blut, das überall war.
»Nun, ich bin noch nicht fertig mit den Malanvai. Es gibt noch eine, die ich haben will, und das seid Ihr. Und jetzt seid Ihr mein, solange ich beschließe, Euch am Leben zu lassen. Wenn Ihr tot seid, kann ich wieder leben, ohne Euren verfluchten Schatten über mir zu spüren. Denkt darüber nach, Erienne Malanvai, und genießt Eure letzten Tage.«
Er drehte sich abrupt um. Auf dem Schiff war es still, und sie konnte trotz der Tränen sehen, dass alle sie anstarrten. Ein Gedanke ging ihr immer und immer wieder durch den Kopf. Sie war verloren, doch Lyanna musste überleben.
»Ihr tut mir Leid, Selik. Ihr seid nichts als ein Lakai für andere, die Euch weit überlegen sind«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Und wenn Ihr Euch jemals an dem Ort blicken lasst, an dem meine Tochter lebt, dann werden die Al-Drechar Euch so leicht auslöschen, wie man eine Fliege zertritt. Ihre Macht ist größer als alles, was Ihr Euch überhaupt ausmalen könnt.«
Selik stieß sie in Richtung der Luke zum hinteren Unterdeck.
»Glaubt das nur, wenn Ihr wollt. Meine Informanten haben allerdings das Flackern des Mana gesehen, und sie sind äußerst beunruhigt. Offenbar sind Eure wundervollen Al-Drechar nicht mächtig genug, um Eure Tochter zu kontrollieren. Außerdem wird es meiner Ansicht nach Zeit, dass wir zwei uns unter vier Augen über die Al-Drechar unterhalten.«
Die hintere Luke wurde geöffnet, als er sie weiter in diese Richtung stieß. Sie hob den Kopf und sah dem Kapitän der Meerulme in die Augen. Die Erniedrigung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Hinter ihm hatte sich ein Mann der Schwarzen Schwingen aufgebaut, der dem Elf das Schwert an die Kehle hielt. Er stieß es weg.
»Verletzt sie auf irgendeine Weise, und Ihr werdet nirgendwo landen, außer auf dem Grund des Südmeeres.«
»Wagt ja nicht, mir zu drohen, Elf. Ihr seid besiegt.« Selik blieb nicht stehen.
»Das ist keine Drohung. Ohne uns könnt Ihr den Weg nicht finden, und das wisst Ihr auch. Wenn Erienne verletzt wird, dann werden wir eher sterben, als Euch auch nur eine Seemeile weit zu befördert. Das ist ein Versprechen.«
Jetzt blieb Selik stehen und stieß Erienne zu einem seiner Männer hinüber. »Bring sie nach unten. In ihre eigene Kabine, falls sie dort unten ist. Und jetzt zu Euch, Elf. Ich schließe das folgende Abkommen mit Euch. Solange diese Hexe auf dem Schiff ist, soll sie körperlich unversehrt bleiben. Wenn Ihr es aber wagt, noch einmal so mit mir zu reden, dann lasse ich Euch vor den Augen Eurer Mannschaft verbluten, ehe ich Eure Überreste an die Haie verfüttere. Meiner Ansicht nach sind danach immer noch genug Leute übrig, um das Schiff zu steuern. Verstanden?«
Eriennes letzte Wahrnehmung war, dass Selik dem Kapitän einen Stoß vor die Brust versetzte, eine verächtliche Geste für den stolzen Elf, die in ihr schon wieder die Galle hochsteigen ließ. Als sie nach unten geschoben wurde, hörte sie noch einmal seine Stimme.
»Und jetzt macht Eure Mannschaft bereit, auf meinen Befehl hin auszulaufen. Wenn unsere Gäste kommen, werden wir sofort aufbrechen. Es ist ein weiter Weg nach Ornouth, nicht wahr, Kapitän? Und deshalb ist mir jede Verzögerung zuwider.«
Erienne brach in Tränen aus. Er wusste so viel, aber woher wusste er das alles? Und welches Kolleg hatte sie verraten? Als sie die Kabine betrat und auf Selik wartete, fürchtete sie, die Antwort bereits zu kennen.