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5

Als Ilkar erwachte, hörte er draußen auf dem Gelände das vertraute Hämmern. Dem Geruch nach sollte es ein weiterer trockener Tag werden, und durch die sanft wallenden Vorhänge am offenen Fenster fiel gleichmäßiges Licht herein. Neben ihm regte sich Pheone und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Ilkar lächelte, wie er es seit fünf Tagen, seit dem Abend mit den Tests in der langen Halle, jeden Morgen tat.

Es war eine wilde Nacht gewesen. Sie hatten grob zurechtgeschnitzte und bemalte Holzblöcke aufgebaut, die an Wesmen-Lords, an frühere und gegenwärtige Mitglieder des Kreises der Sieben in Xetesk und an das dordovanische Quorum erinnerten. Reihum hatten sie die Puppen mit einer äußerst abwechslungsreichen Serie offensiver Sprüche mit Feuer und Eis zerstört. Naturgemäß wurden einige Sprüche besser vorbereitet und gewirkt als die anderen.

Zwanzig Magier hatten sich an den Schießübungen beteiligt und ihre Frustration abgearbeitet, die sich über Wochen aufgestaut hatte. Es war ein spektakulärer Anblick, wenn das magische Feuer an den Wänden abprallte oder wenn das Eis das Holz zerplatzen und in den Ecken des langen Raumes große Eiszapfen wachsen ließ, die gleich darauf wieder mit eng begrenzten Feuerstößen verdampft wurden, bis der Raum sich mit Nebelschwaden füllte. Immer wenn er nicht gerade selbst einen Spruch wirkte, baute Ilkar Schilde für diejenigen auf, die nicht ganz so gut zielten wie ihre Gefährten.

Ilkar hatte die ganze Zeit über Pheones Nähe gespürt, und während des Besäufnisses, das danach folgte, hatte er sie oft umarmt, und sie hatte den Kopf an seine Schulter geschmiegt. Seine Erinnerungen waren etwas verschwommen, aber er hörte noch ihr Gelächter und sah ihr strahlendes Lächeln und ihr offenherziges Hemd noch deutlich vor sich.

Der Sex im Alkoholrausch war hingebungsvoll und fantastisch gewesen, auch wenn er zugeben musste, dass ihm vieles entglitten war. Er war nicht sicher, wie lange es überhaupt gedauert hatte, aber das Gefühl, einen weiblichen Körper neben sich zu spüren, auch wenn es keine Elfenfrau war, hatte er sehr genossen.

Pheone hatte seine Sorgen beschwichtigt, sobald der Kater verscheucht war und ihre Köpfe wieder funktionierten. Elfen sollten sich eigentlich nicht mit Menschen einlassen, weil die unterschiedlichen Lebensspannen zwangsläufig zu Enttäuschungen führten, was allzu oft mit dem Selbstmord des fast immer länger lebenden elfischen Partners endete.

»Ich glaube, uns ist beiden klar, dass es nicht lange dauern wird«, hatte sie gesagt. »Aber im Augenblick brauchen wir uns. Genieße es und denke nicht zu sehr über das Morgen nach.«

Ilkar war nicht sicher, ob Pheone wirklich glaubte, was sie sagte. Jedenfalls verliefen die folgenden Nächte leidenschaftlich und waren körperlich erfüllend, auch wenn für eine tiefere emotionale Bindung die Perspektive fehlen mochte. Und sie sollte Recht behalten. Ihre sexuelle Beziehung änderte seine Sichtweise grundlegend. Er hatte sich so sehr auf den Wiederaufbau von Julatsa konzentriert, dass alles andere in den Hintergrund getreten war. Er hatte sogar unwirsch auf die gelegentlichen Besuche des Unbekannten reagiert, was unverzeihlich war. Pheone hatte ihn daran erinnert, dass er hin und wieder ausspannen musste, und wenigstens dafür liebte er sie, falls Liebe das richtige Wort war.

Mehr als das, er hatte begonnen, über den Wiederaufbau des Kollegs hinauszublicken und langfristig zu denken. Auch der Geist des Kollegs musste wieder erwachen. Es gab noch so viel zu tun, um wieder Magier nach Julatsa zu locken, damit das Kolleg erneut erblühen konnte. Er wusste, dass er eines Tages das Kolleg würde verlassen müssen, um draußen in der Welt dafür zu werben, dass seine magische Schule wieder lebte und atmete.

Im Augenblick aber schlief das Kolleg, und er war genau dort, wo er sein musste. Er beugte sich hinüber und küsste Pheones schlafendes Gesicht, dann sprang er aus dem Bett, lief über den kalten Steinboden und schnappte sich die grünen Hosen und das grobe wollene Arbeitshemd. Dazu zog er kräftige, halbhohe Stiefel an, fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs zerzauste Haar, und weil sich sein Hunger meldete, ging er direkt zum Refektorium, das auf der anderen Seite des Hofs lag.

Ein frischer Tag hatte begonnen, es wurde rasch wärmer. Die Morgendämmerung war vor einer Stunde vom Tageslicht abgelöst worden. Er betrachtete die Bauarbeiten, die sich in den letzten sieben Tagen auf das Dach der Bibliothek und ein neues Gebäude, von dem bis jetzt erst die Fundamente standen, konzentriert hatten. Wie immer blieb Ilkar einen Moment stehen und starrte das Loch an, in dem das Herz ruhte. Dort wartete die größte Aufgabe.

Eines Tages musste das Herz geborgen werden, und dann konnte man den sterblichen Überresten der Magier, die in ihm begraben waren – darunter auch der alte Elfenunterhändler Barras –, die letzte Ehre erweisen. Er sprach ein kurzes Gebet an die Götter, dass sie ihm die Mittel schenkten, die er dazu brauchte.

»Ilkar!« Er fuhr herum, als jemand seinen Namen rief. Er hatte die Stimme sofort erkannt. Der Besitzer kam durch die Lücke herein, wo früher das Nordtor gestanden hatte. Er führte sein Pferd am Zügel, und hinter ihm kam jemand, über dessen Anblick Ilkar sich sogar noch mehr freute.

»Denser!« Er lief zum Tor. »Bei den Göttern, heutzutage lassen sie einfach jeden hier herein.«

»Entschuldigung. Ich dachte, nach meinem letzten Besuch dürfte ich einfach eintreten.«

»Aber ja doch, das darfst du.« Die beiden alten Freunde umarmten sich. »Lass dich ansehen.« Ilkar trat einen Schritt zurück und betrachtete Densers Gesicht. »Ein bisschen verstaubt siehst du aus. Und hier und da entdecke ich eine Spur von Grau. Oh, und du müsstest dir mal die Haare schneiden lassen. Aber man kann dich noch erkennen.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist schön, dich zu sehen. Ich hoffe, du hast Hammer und Meißel mitgebracht.«

Denser lächelte. »Es tut mir Leid, von körperlicher Arbeit habe ich noch nie viel gehalten. Meine Pfeife habe ich aber dabei.«

»Ach ja, ich habe den penetranten Gestank schon vermisst.« Ilkar tätschelte Densers Oberarm und sah an ihm vorbei. »He, Unbekannter, das ist aber lange her.« Ilkar bemühte sich sehr, sein Lächeln zu halten, aber die Tatsache, dass diese beiden zusammen in sein Kolleg geritten kamen, konnte nur eines bedeuten. Etwas Übles, wahrscheinlich sogar etwas sehr Übles war geschehen.

Der Unbekannte kam zu ihm und gab ihm die Hand. Sein Griff war fest wie eh und je.

»Viel zu lange«, sagte er.

»Na schön.« Ilkar wandte sich wieder an Denser. Der Xeteskianer war müde, obwohl es früh am Morgen war, und er wirkte ungewöhnlich ernst. »Wie geht es denn Erienne und Lyanna?«

Schmerzen flackerten in Densers Blick, und er kniff ein wenig die Augen zusammen. Statt selbst zu antworten, drehte er sich Hilfe suchend zum Unbekannten um.

»Das ist der Grund dafür, dass wir hergekommen sind.«

Ilkar nickte, seine Befürchtungen hatten sich bestätigt. »Ich verstehe. Seid ihr hungrig? Wir können auch beim Frühstück reden.«

Das Refektorium war ein langes, niedriges Gebäude, in dem Tische und Bänke in Reihen aufgestellt waren. Da die meisten Magier und bezahlten Helfer schon ihre Arbeit aufgenommen hatten, war es im Augenblick recht ruhig. Ilkar deutete auf einen Ecktisch, und als die Gäste es sich bequem machten, ging er zur Essensausgabe und belud ein großes Holztablett mit Speck, Brot und einer Kanne Kaffee.

»Hier«, sagte er, als er sich zu ihnen setzte. »Greift zu. Wenn ihr wollt, gibt es noch mehr.«

Während sie aßen, berichtete Denser über Lyannas Fortschritte und ihre Albträume, über das zögerliche Quorum von Dordover und über das Verschwinden von Erienne und ihrer Tochter. Schließlich gab er Ilkar Eriennes Brief, den der Elf schweigend las. Mit jeder Zeile wurde sein Stirnrunzeln finsterer. Er gab ihn zurück, nachdem er ihn zweimal gelesen hatte, und schenkte den Gästen Kaffee nach.

»Wenn die sie als Erste finden, dann werden sie beide töten«, meinte Denser.

»Wer denn?«, fragte Ilkar.

»Die Dordovaner. Erkennst du das nicht?«

»Übertreibst du da nicht ein wenig? Es steckt mehr dahinter als eine einfache Verschwörung eines Kollegs. Es besteht ein Risiko für alle magischen Systeme in Balaia.«

»Nun fang du nicht auch noch damit an«, sagte Denser. »Lyanna ist unser aller Zukunft, nicht unser Tod und unsere Vernichtung. Die Dordovaner haben einfach nur Angst. Sie müssen lediglich richtig informiert werden. Es redet ja niemand von einer erzwungenen Rückkehr auf den Einen Weg, du meine Güte. Das kann sowieso kein lebender Mensch praktizieren.«

»Niemand außer Lyanna.«

Denser zuckte mit den Achseln. »Ja, niemand außer Lyanna. Möglicherweise. Hör mal, Ilkar, Vuldaroq hat kein Interesse daran, dass irgendjemand einen Magier ausbildet, der mehrere Disziplinen beherrscht. Er sagte mir, Balaia brauche keinen neuen Septern. Deshalb wird er sie töten, falls er sie nicht kontrollieren kann.«

»Dann willst du sie vor ihm finden?«, fragte Ilkar.

»Nein, ich will sie alle beide gefesselt an Dordover übergeben, damit sie dort auf dem Altar geopfert werden können«, entgegnete Denser.

»Ich wollte nur mal überprüfen, ob du deinen Humor völlig verloren hast.«

»Natürlich will ich sie finden.«

»Und was genau willst du dann tun?«, fragte Ilkar. »Das ist eine ernst gemeinte Frage.«

Denser sah ihn an, als sei er schwachsinnig.

»Ilkar, sie sind meine Familie. Ich muss sie beschützen.«

»Ich glaube, das verstehen wir gut«, schaltete sich der Unbekannte ein. Er legte das Brot weg, das er geschmiert, aber nicht gegessen hatte, und beugte sich vor. Ilkar musste lächeln. Der große Krieger hatte nichts von seiner Autorität verloren. »Aber du hast gerade deutlich gemacht, dass die Macht der dordovanischen Magie gegen uns angetreten ist. Was hoffst du nun zu erreichen?«

»Wenn nötig, will ich sie warnen. Oder irgendetwas organisieren. Ich weiß, dass Erienne und Lyanna bereits gut geschützt sind. Aber wir könnten sie noch weiter unterstützen. Wir könnten unsere Fähigkeiten in die Waagschale werfen.«

»Wer?«, fragte Ilkar.

»Der Rabe.«

Ilkar trank einen großen Schluck Kaffee und spürte, wie das starke, bittere Gebräu durch seine Kehle rann. Er hatte es geahnt, seit er den Unbekannten und Denser hatte zusammen durchs Tor treten sehen. Wenn der Rabe etwas ausrichten konnte, dann musste er helfen. Möglicherweise war es vergeblich. Wahrscheinlich sogar tödlich, falls Lyanna und Erienne tatsächlich in den Händen der Macht waren, an die Denser dachte. Aber was auch immer zutraf, er musste seinen Freunden begreiflich machen, wogegen sie angetreten waren.

»Denser, es gibt da etwas, das du wissen solltest.«

»Sprich weiter. Ich bin jetzt schon sicher, dass es mir nicht gefallen wird.«

»Wir haben spontane Mana-Entladungen am Himmel beobachtet. Blitze, flackerndes Licht, Regenschauer und so weiter. Nicht sehr viel, aber es war merkwürdig. Vor ein paar Tagen haben wir darüber geredet. Hast du mal was von der Tinjata-Prophzeiung gehört?«

Denser schüttelte den Kopf.

»Ich hatte bis vor kurzem auch nichts davon gehört, aber ich habe angenommen, du kennst sie vielleicht. Hast du dich näher mit der Spaltung beschäftigt?«

»Eigentlich nicht«, gab Denser zu. »Abgesehen von den in Xetesk umfassend dokumentierten Bedingungen, die nötig sind, um ein Kind mit dem entsprechenden Potenzial zu zeugen, glaube ich auch nicht, dass Erienne sich eingehend damit beschäftigt hat. Wer war dieser Tinjata überhaupt?«

»Nun, Erienne müsste den Namen eigentlich kennen. Er war der erste Erzmagier von Dordover.«

»Dann kennt sie seinen Namen«, bestätigte Denser. »Aber sie hat mir nie von ihm erzählt.«

»Ist ja auch egal. Wir können sie fragen, wenn wir sie finden. Der Punkt ist, dass Tinjata bei der Spaltung eine große Rolle gespielt hat. Er ließ sich entsetzliche Verbrechen an den Magiern des Einen Weges, den Al-Drechar, zu Schulden kommen und formulierte schließlich eine Prophezeiung, die auf einer Art Extrapolation der Mana-Theorie und der Dimensionsverbindungen beruhte. Die Grundlagen seines Wissens sind verschollen, aber er wollte jedenfalls eine Warnung an alle verbreiten, die glaubten, die durch die vier Kollegien vorgegebene Machtstruktur werde für alle Ewigkeit Bestand haben.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte Denser stirnrunzelnd.

»Ich habe mich umgehört. Erinnerst du dich noch an Therus? Er hat euch während der Belagerung in der Bibliothek geholfen. Nun, er hat überlebt. Er ist Archivar und hat sich mit den alten Schriften befasst und sich vor allem auf die Phase der Spaltung spezialisiert. Das schließt auch die Tinjata-Prophezeiung ein.«

»Und?« Denser bedeutete Ilkar, er möge weitersprechen.

»Nun ja, Therus’ Wissen ist unvollständig, weil die Dordovaner ihn nicht in ihre Bibliothek ließen, aber was wir bis jetzt haben, sagt eigentlich schon genug. ›Wenn die Unschuld den Elementen befiehlt und das Land bedrückt und zerrissen liegt, dann soll die Spaltung überwunden werden, und aus dem Chaos soll sich das Eine erheben, das niemand mehr besiegt.‹ Das ist ziemlich drastisch, oder?« Ilkars Herz schlug schneller, als er die Worte sprach. Allerdings vermochte er sich beim besten Willen nicht vorzustellen, wie Lyanna, ein kleines Kind, das er nie gesehen hatte, die Zerstörung Balaias verursachen sollte. Diese Vorstellung war einfach lächerlich.

Denser und der Unbekannte schwiegen. Der große Krieger dachte nach und aß sein Brot, der Xeteskianer starrte finster vor sich hin und verdaute, was Ilkar gesagt hatte.

»Glaubt Therus denn, die Lichtblitze hingen damit zusammen?« , fragte Denser. »Soll mein Kind diese ›Unschuld‹ sein? Ein Blitz, und das Ende der Welt ist nahe?«

»Denser, du weißt doch selbst, welche Hoffnungen du in Lyanna gesetzt hast. Vielleicht wird sie wirklich die Erste einer ganz neuen Art von Magiern sein. Es gibt da tatsächlich größere Zusammenhänge«, sagte Ilkar.

»Nun, falls das Quorum von Dordover an die Prophezeiung glaubt, dann dürfte jedenfalls klar sein, dass sie Lyanna unbedingt schnappen wollen«, sagte der Unbekannte. »Oder dass sie irgendwie versuchen, sie auszuschalten.«

»Du meinst also, Lyanna verkörpere laut Tinjata eine zerstörerische Kraft«, sagte Denser.

»Vielleicht ist sie auch eine Art Katalysator. Wir haben Blitze am wolkenlosen Himmel gesehen, und das ist ein höchst ungewöhnliches Phänomen. Die Geschichten, die erzählt werden, kennst du so gut wie ich. Flutwellen, Wirbelstürme, Gewitter, die mehrere Tage dauern … aber währenddessen kaum Blitzschläge. Therus sagt, all dies werde in der Prophezeiung beschrieben.

Wer sind denn eigentlich die Leute, zu denen Erienne deiner Ansicht nach gegangen ist? Was, wenn sie Lyanna überhaupt nicht ausbilden, sondern sie als Fokus benutzen wollen? Auch an diese Möglichkeit müssen wir denken.«

»Vergiss nicht, dass Tinjata unabhängig von den Fakten ein gewisses Interesse daran hatte, die Sache in möglichst finsteren Farben auszumalen«, sagte Denser.

Ilkar nickte. »Auch das ist wahr. Hör mal, ich sage ja nicht, dass wir Lyanna den Dordovanern oder sonst irgendjemandem  – abgesehen von Erienne und dir – einfach überlassen sollen.«

»Aber was willst du mir dann sagen?«, fragte Denser.

»Wir sollten das Gesamtbild im Auge behalten, während wir suchen. Auch wenn wir die Frage, ob die Prophezeiung der Wahrheit entspricht oder ob sie in diesem Fall überhaupt eine Rolle spielt, vorerst zurückstellen. Dordover wird jedenfalls von der Annahme ausgehen, dass sie zutrifft, und Dordovers Verhalten wird, wenn niemand einschreitet, die Kollegien entzweien. Das wollen wir alle nicht. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass Dordover und Lystern ihre Unabhängigkeit und Identität bedroht sehen, während Xetesk vor allem auf Machtgewinn aus ist und als dominierende Partei am Ende einen Zusammenschluss erzwingen könnte. Im Grunde kommt es nur darauf an, wer Lyanna kontrolliert. Und was Julatsa angeht, na ja …« Er lächelte Denser traurig an. »Wir erscheinen überhaupt nicht in der Gleichung, aber wir legen nicht weniger Wert als alle anderen darauf, dass unsere Magie und unsere Lehren erhalten bleiben.«

Denser legte den Kopf zwischen die Hände, strich sich übers Gesicht und redete durch die Finger weiter. »Ilkar, du gehst hier viel zu weit«, sagte er. »Sie ist ein Kind. Sie kann nichts allein tun.«

»Nach allem, was du mir erzählt hast, sind die Dordovaner offenbar anderer Meinung«, gab Ilkar zurück.

»Wir sind außerdem ziemlich sicher, dass sie nicht allein ist«, fügte der Unbekannte hinzu.

Ilkar seufzte und trank seinen Kaffee aus. »Hör mal, Denser, du musst Xetesk einen umfassenden Bericht über diese Sache erstatten. Du weißt selbst, dass du es tun musst. Bei den Göttern, ich glaube, sie haben dort noch nicht einmal erfahren, dass Erienne verschwunden ist. Ich will darauf hinaus, dass sie einen beträchtlichen Druck auf die Dordovaner ausüben werden, falls diese im Hinblick auf Lyannas Leben irgendwelche seltsamen Ideen aushecken sollten. Dadurch könnten wir mehr oder weniger unbehelligt nach deiner Familie suchen.«

»Offiziell jedenfalls«, sagte der Unbekannte. Er streckte die Arme über dem Kopf nach hinten, seine Schultermuskeln spielten, das Hemd spannte sich über dem mächtigen Brustkorb.

»Noch etwas«, fuhr Ilkar fort. »Diese Sache wird die Runde machen. Sogar hier bei uns hört man schon Gerüchte über Lyanna, obwohl sie derzeit nicht mehr als interessanter Klatsch sind. Bald wird es aber eine Menge Fragen geben. Vor allem, wenn die Kollegien sich nachhaltig ins Spiel bringen. Tinjatas Prophezeiung spricht von einer Rückkehr zum Einen Weg, und das macht den meisten Magiern – mich selbst eingeschlossen – große Sorgen.

Wir können uns keinen Konflikt leisten, also wollen wir möglichst vorsichtig vorgehen, ja?«

Denser zuckte mit den Achseln. Seine Mundwinkel zuckten. »Du hast ja Recht. Ich weiß, dass du Recht hast. Wahrscheinlich bin ich deshalb hierher gekommen. Ich brauche jemanden, der die Sache nüchtern betrachtet. Danke, Ilkar.«

»Es ist mir ein Vergnügen. Gut, ich würde vorschlagen, dass du einen Tag ausruhst, während ich hier meine Angelegenheiten regle und mich verabschiede. Dann reiten wir nach Dordover und dann nach Xetesk.«

»Warum nach Dordover?«, fragte Denser.

»Weil Therus nicht in Julatsa ist, und weil du ja vielleicht die Prophezeiung lesen willst. Dort werden die ursprüngliche Überlieferung und die Übersetzung aufbewahrt. Was natürlich voraussetzt, dass sie dich hineinlassen.«

»Irgendjemand muss Erienne gesehen haben, als sie floh«, sagte der Unbekannte. »Man muss nur die richtigen Fragen stellen. Hmm. Jetzt könnten wir Will oder Thraun brauchen. Die beiden kannten auch die Schattenseite von Dordover. Wie auch immer, ich denke, ihre Namen dürften uns ein paar Türen öffnen.«

»Da fehlt noch was«, wandte Ilkar ein.

»Hirad«, stimmte der Unbekannte nickend zu.

»Wir können ihn abholen, nachdem wir in Xetesk waren«, schlug Denser vor.

»Das wird nicht einfach«, warnte der Unbekannte. »Die Drachen sind schließlich immer noch hier.«

 

Hirad schaufelte mit dem Fuß Sand über das Feuer, das vor seiner mit Stroh gedeckten Steinhütte gebrannt hatte, und betrat den Choul. Es war kein idealer Ort für einen Drachen der Kaan. Der Wind heulte durch die vierzig Fuß breite Höhle und schleppte in den Wintermonaten eine Kälte herein, die selbst drei zusammenkauernde Drachen nicht ganz vertreiben konnten.

Sie brauchten eigentlich die Wärme und den Schlamm einer Behausung, die eigens für ihre Bedürfnisse gebaut war, doch dafür hätte Hirad Baumeister, Schmiede und Arbeiter holen müssen. Wenn es um die Retter Balaias ging, drehten sich viele Menschen jedoch einfach um und vergaßen, was die Drachen für sie getan hatten.

In gewisser Weise konnte Hirad es sogar verstehen. Einen halben Tagesritt entfernt war Baron Blackthorne immer noch damit beschäftigt, seine zerstörte Stadt wieder aufzubauen. Er hatte als Einziger Leute geschickt, die den Berg so bequem herrichteten, wie es eben möglich war. Wenigstens hatte Hirad inzwischen ein eigenes Dach überm Kopf, das von der Höhle der Drachen getrennt war, und einen angebauten Stall für sein ewig nervöses Pferd.

Hirad zündete eine Laterne an und drehte den Docht weit herunter. Nicht mehr lange, und der schwindende Ölvorrat würde ihn zwingen, nach Blackthorne zu reisen. Seine Angst, die Drachen allein zu lassen, und sei es nur für einen Tag und eine Nacht, nahm immer mehr zu. Eines Tages würden die Jäger zuschlagen, wenn er nicht da war.

Er betrat den Choul und zog seine Felle eng um sich. Es war eine für die Jahreszeit ungewöhnlich kalte Nacht, nachdem es fast den ganzen Tag geregnet hatte. Er sehnte sich nach einem warmen Gasthof mit einem brüllend heißen Feuer im Kamin, einem Bier in einer Hand und einer Frau im Arm. Doch er konnte nicht vergessen, was er Sha-Kaan zu verdanken hatte. Es schien allerdings so, als sei er weit und breit der Einzige.

Der Gestank der Drachen schlug ihm entgegen. Sie waren zweifellos Reptilien, und ihre Ausdünstungen mischten sich mit dem Geruch von Holz und Öl und einer sauren Note, die, wie er wusste, durch die in den riesigen Lungen verbrauchte Atemluft zu erklären war. Es war kein Geruch, den man ignorieren konnte, aber man konnte ihn ertragen. Hinter einer leichten Krümmung des Ganges, der von Blackthornes Männern erweitert worden war, betrat er eine niedrige Höhle mit einer gewölbten Decke, die Platz für zehn Drachen bot. Drei lagen im Zentrum, und ihre riesigen Körper versetzten Hirad nicht weniger in Erstaunen als bei der ersten Begegnung.

Auf den ersten Blick sah man einen Berg von goldenen Schuppen, der sich beim Atmen leicht bewegte und im Licht der Laterne schwach glitzerte. Auf den zweiten, wenn man den Docht der Laterne etwas höher drehte, erkannte man drei Kaan. Nos-Kaan und Hyn-Kaan lagen nebeneinander, sie hatten die Schwänze eingerollt und die Hälse nach innen gedreht. Vor ihnen wirkte Hirad wie ein Zwerg. Sie hatten die Flügel fest zusammengefaltet, die Krallen kratzten leicht über den Steinboden. Ihre winzigen Bewegungen gaben ihnen ein Gefühl von Geborgenheit und erzeugten etwas Wärme.

In ihrer Mitte, noch einmal mindestens ein Viertel größer als sie, lag Sha-Kaan, der Große Kaan seiner Brut. Er war freiwillig ins Exil gegangen, um zwei Dimensionen zu retten. Als Hirad den Choul betrat, hob er den Kopf, und die Bewegung lief als Welle durch seinen hundertzwanzig Fuß langen alternden Körper mit den trüb gewordenen goldenen Schuppen. Hirad trat zum Großen Kaan und blieb vor dem großen Mund stehen, der ihn im Ganzen verschlucken konnte.

»Ich hoffe, dir hat dein Mahl gemundet, Hirad Coldheart«, grollte Sha-Kaan. Seine Stimme war nur in Hirads Kopf zu hören.

»Ja, danke. Es war ein unerwarteter Festschmaus«, erwiderte der Barbar. Sha-Kaan hatte vor seiner Hütte ein Schaf abgelegt, das, abgesehen vom gebrochenen Hals, völlig unverletzt war.

»Wenn wir können, dann versorgen wir dich«, sagte Sha-Kaan.

»Der Bauer könnte möglicherweise Einwände haben, dass du ausgerechnet seine Herde ausgesucht hast«, meinte Hirad lächelnd.

»Ein kleiner Preis für unser ständiges Opfer.« Sha-Kaan wusste Hirads Humor nicht zu schätzen.

Das Lächeln des Barbaren verschwand, und sein Herz begann zu rasen, als ihm unangenehme Gedanken kamen. Er sah Sha-Kaan tief in die Augen und sah die tiefe Trauer und den großen Kummer nach dem erlittenen Verlust. Es war jene Art von unheilbarer Leere, unter der auch der Unbekannte litt, seit seine Verbindung zu den Protektoren abgerissen war.

»Was ist los, Großer Kaan?«

Sha-Kaan blinzelte langsam und atmete ein. Hirad spürte den Luftzug am ganzen Körper.

»Wir altern hier«, sagte er. »Diese Welt dämpft unser Feuer, sie trocknet unsere Flügel und lässt uns geistig verhungern. Die geistige Sphäre der Brut kann uns hier nicht unterstützen, weil wir keine Verbindung zu ihr haben. Du hast alles getan, was du tun konntest, Hirad, und unsere Dankbarkeit ist ungebrochen. Doch unsere Augen werden trüb, die Schuppen werden stumpf, und unsere Muskeln protestieren bei jeder Bewegung. Deine Dimension erschöpft uns.«

Ein eiskalter Schauer lief Hirads Rücken hinunter.

»Ihr sterbt?«, fragte er besorgt.

Sha-Kaans verblüffend blaue Augen reflektierten das Licht der Laterne, als er Hirad anstarrte.

»Wir müssen heim, Hirad Coldheart. Bald.«

Hirad biss sich auf die Unterlippe und verließ den Choul. Er war wütend, und er war frustriert. Er musste etwas unternehmen.

 

In der Wärme des folgenden Morgens spielte Lyanna nach einem Frühstück, das aus Früchten, Milch und Roggenbrot bestanden hatte, im Obstgarten. Sie sprang zwischen den Bäumen umher, sang für sich selbst und war bald in ein Spiel vertieft, das Erienne, die von einer Bank aus zuschaute, natürlich nicht verstand.

Es war eine stille, friedliche Nacht gewesen. Lyanna war nicht aufgewacht und erfrischt und voller Tagendrang aufgestanden. Erienne war froh, weil sie wusste, dass sie all ihre Kraft brauchen würde. Es war ein Frieden, der bald schon gestört werden sollte, und Erienne machte sich große Sorgen, als sie ihr kleines Mädchen beim Spielen beobachtete. Ihre Unschuld und ihre Kindlichkeit, diese Sorglosigkeit, all das sollte bald verschwinden, weil die Kräfte, die in ihr schlummerten, befreit und beherrscht werden mussten.

Am letzten Abend hatte sie allein im Esszimmer gesessen, Wein getrunken und nachgedacht, und sie war zu einer Einsicht gelangt, der sie sich nicht länger verschließen konnte. Lyanna würde sich unwiderruflich verändern, und es brauchte nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass die Veränderungen mit einem tödlichen Risiko einhergingen. Wenn die Ausbildung aus irgendeinem Grund scheiterte, dann würde Lyanna sterben.

»Komm her, meine Liebe.« Erienne streckte die Arme aus. Das Verlangen, ihr Kind zu umarmen, war so stark, dass es wehtat. Lyanna trabte zu ihr, und Erienne drückte sie an sich und wollte sie nie wieder loslassen. Doch bald schon sträubte Lyanna sich, und Erienne gab sie frei.

»Versprichst du mir, dass du brav bist und auf die Lehrerinnen hörst?«, fragte sie. Sie streichelte Lyannas Haare.

Lyanna nickte. »Ja, Mami.«

»Und du wirst alles versuchen, was sie dir vorschlagen?«

Wieder ein Nicken.

»Weißt du, das ist sehr wichtig. Und ich bin auch immer da, wenn du mich brauchst.« Sie sah Lyanna in die Augen. Die dordovanische Lehre hatte die Kleine in ihrem eigenen Tempo aufgenommen, auf ähnlich selbstverständliche Weise, wie sie gelernt hatte, mit Messer, Gabel und Löffel zu essen. Vielleicht ging es hier genauso leicht, aber Erienne bezweifelte es. »Bei den Göttern, ich frage mich, ob du überhaupt weißt, was hier geschieht«, schnaufte sie.

»Aber natürlich weiß ich das, Mami«, sagte Lyanna. Erienne lachte.

»Oh, Liebes. Es tut mir Leid. Natürlich weißt du es. Dann erkläre es mir doch bitte.«

»Die Lehrerinnen helfen mir, die bösen Dinge zu verscheuchen. Und sie öffnen die anderen magischen Türen, und dann zeigen sie mir, wie ich den Wind in meinem Kopf anhalten kann.«

Erienne starrte sie an, ihr Herz setzte einen Moment aus. Lyanna war viel zu jung, um eine so klare Vorstellung zu haben. Erienne hatte damit gerechnet, dass es ein langwieriger Lernprozess würde. Anscheinend hatte sie sich geirrt.

»Woher weißt du das alles?«

»Sie haben es mir gesagt«, erklärte Lyanna. »Sie haben es mir in der letzten Nacht gesagt.«

»Wann denn?«

»Als ich geschlafen habe.«

»Oh, sie haben im Schlaf mit dir gesprochen?« Erienne hatte auf einmal einen schalen Geschmack im Mund, und ihr Puls beschleunigte sich.

Die Tür des Obstgartens wurde geöffnet, und Cleress kam nach draußen. Sie strahlte, das Schlurfen des vergangenen Abends war verschwunden, und sie ging mit beinahe jugendlichem Schwung.

»Ist sie bereit?«, fragte sie fröhlich.

»Nun, anscheinend weißt du mehr darüber als ich«, sagte Erienne scharf.

»Was ist denn los?«

»Wenn ihr noch einmal im Schlaf in das Bewusstsein meiner Tochter eindringen wollt, dann werdet ihr so höflich sein, mir vorher Bescheid zu sagen. Ist das klar?«

Cleress’ Lächeln war jetzt etwas verkrampft. »Wir müssen sie vorbereiten, und es gibt viele Dinge, die sie nur übers Unterbewusstsein aufnehmen kann, aber nicht, wenn sie wach ist.«

»Cleress, du hast nicht zugehört.« Erienne stand auf und hielt Lyanna dicht neben sich. »Ich habe nicht gesagt, dass ihr es nicht tun dürft. Bei den Göttern, ich habe sie hierher gebracht, weil ich glaube, dass ihr genau wisst, was ihr tut. Ich will nur, dass ihr mich vorher unterrichtet. Niemand versteht Lyanna, wie ich sie verstehe. Manchmal muss man sie auch in Ruhe lassen.«

»Na gut.« Cleress sah sie finster an.

»Sie ist meine Tochter, Cleress. Das darfst du nie vergessen.«

»Ich verstehe.« Endlich nickte sie. »Wir waren sehr lange allein.«

»Dann lasst uns endlich beginnen.«