14
Der Rabe marschierte zielstrebig ins Zentrum von Greythorne zurück. Über die Richtung konnte es keinen Zweifel geben. Die Ideen, Ahnungen und Vermutungen der Rabenkrieger hatten sich bestätigt. Erienne war nach Süden gereist, hatte Hilfe gefunden und die Al-Drechar getroffen. Allerdings nicht in Balaia.
Denser war nachdenklich, aber entschlossen aus der Kommunion erwacht. Der Zorn des vergangenen Abend war verraucht, und er gab ihnen nur eine sehr knappe Zusammenfassung des Austauschs, weil er möglichst schnell aufbrechen wollte. Der Unbekannte wollte allerdings zuvor noch die Lage einschätzen – einmal im Hinblick auf die Unterstützung für die Not leidenden Überlebenden in der Stadt, andererseits aber auch in Bezug auf die mögliche Bedrohung durch die eingetroffene Kavallerie.
Sie wollten die Stadt nach der Mittagsstunde verlassen, wenn alles gut verlief. Da Erienne je nach Wind und Gezeiten in der Flussmündung vermutlich am nächsten Morgen in Arlen eintreffen würde, wollte Denser auf keinen Fall länger warten. Auch so musste Erienne noch zwei Tage allein bleiben. Denser hatte ihr geraten, an Bord der Meerulme zu warten, und damit wiederholt, was die Elfen der Gilde ihr ohnehin schon empfohlen hatten.
»Wie ich bereits sagte, haltet die Augen offen. Wir haben alle möglichen Gerüchte über Mobilisierungen in den Kollegien gehört und wissen nicht, wer sich mit wem verbünden mag, falls überhaupt. Vertraut niemandem. Und vergesst nie, dass ihr nicht einmal in ein und demselben Kolleg zwei Magier findet, die das Gleiche denken.«
»Was bedeutet das?«, fragte Hirad.
»Das bedeutet, dass wir keinesfalls Lyanna als Erste finden sollen, wenn es nach Dordover geht«, erklärte der Unbekannte. »Wir sollen Dordover zu ihr führen, und dann wollen sie das Kind ins Kolleg zurückschaffen und wahrscheinlich umbringen. Reicht dir das?«
Hirad nickte. »Ich passe auf.«
»Gut.«
Es war nur ein kurzer Marsch durch die Ruinen bis zum Zentrum der zerstörten Stadt, die, sofern man überhaupt davon reden konnte, gerade wieder unter Schmerzen zum Leben erwachte. Über den Hauptplatz wehte der Geruch von Haferbrei, aus Wasserkesseln stieg Dampf auf. Trupps von Männern und Frauen machten sich stumm an ihr grausiges Tagewerk, und das Stimmengewirr im Zelt verriet, dass gerade die Aufgaben für den Tag verteilt wurden.
Der Unbekannte Krieger hielt einen aus einer Gruppe von Männern auf, die ihre Schaufeln geschultert hatten. »Ich habe gestern Abend Kavallerie gehört. Wisst Ihr, woher die Soldaten kommen?«
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Von Westen. Von einem Kolleg.«
»Von welchem denn? Dordover?«
Wieder ein Kopfschütteln. »Ich bin nicht sicher. Lystern, glaube ich.«
Der Unbekannte nickte und ging weiter zum Zelt.
»Gute Neuigkeiten«, meinte Ilkar.
»Falls es zutrifft«, warnte der Unbekannte.
»Wirst du jemals aufhören, skeptisch zu sein?«
»Wirst du jemals aufhören, ein Elf zu sein?« Der Unbekannte lächelte.
»Irgendwie kommt es mir so vor als, hättest du das schon einmal gesagt.«
»Ganz sicher.«
»Aber der Mann hatte Recht, als er Lystern genannt hat. Schau nur«, sagte Hirad. Er deutete zum Zelt. Im Eingang stand ein großer junger Mann in der verstärkten Lederrüstung der Kavallerie und redete mit Gannan. Er hatte sich einen dunkelgrünen Mantel um die Schultern gelegt, der am Nacken einen goldenen Besatz hatte, und das braune Lockenhaar flatterte in der Brise, die ohne Unterlass durch Greythornes Straßen wehte. Er war offensichtlich müde, seine Schultern waren etwas eingesunken, aber er war nicht zu verwechseln.
»Darrick«, sagte der Unbekannte.
Die Rabenkrieger eilten über den Platz zu ihrem alten Freund, der nicht aufmerkte, als sie kamen. Sein Gesicht war halb abgewandt.
»Na bitte«, sagte Hirad. »Das ist doch mal ein Gesicht, das man in schlimmen Zeiten gern wieder sieht.«
Darrick fuhr herum und betrachtete staunend die vier Gefährten. Dann lächelte er.
»Aber warum treffen wir uns immer, wenn die Zeiten schlecht sind, Hirad?« Das Lächeln verschwand, und sein Gesicht war ernst wie immer, als er ihnen nacheinander die Hand schüttelte. »Ich hätte nicht damit gerechnet, den Raben noch einmal vereint zu sehen. Die Lage muss schlechter sein, als ich dachte.«
»Wir helfen nur einer Freundin«, sagte Ilkar. »Alte Gewohnheiten legt man nicht mehr ab, du kennst das ja.«
»Ja, ich weiß.«
»Und was bringt die Kavallerie von Lystern nach Greythorne?« , fragte der Unbekannte.
»Befehle«, antwortete Darrick. »Einige meiner, äh, meiner Vorgesetzten hielten es für nötig, unsere ohnehin schon starken Kräfte in Arlen zu verstärken.«
»Ohnehin schon starke Kräfte?« Denser wurde sichtlich nervös.
»Hört mal, ich rede ja nicht mit Dummköpfen. Die Kollegien haben Truppen mobilisiert, und die Wahrscheinlichkeit, dass es in Arlen Ärger gibt, ist hoch.«
»Dann weiß jemand, dass Erienne morgen dort ankommt, was?«
»Hirad!«, zischte der Unbekannte leise, aber nicht wenig erbost.
»Nein, das wissen sie nicht«, sagte Darrick. Unwillkürlich sah er sich über die linke Schulter um, wo ein Mann sich über einige Papiere beugte.
»Aber jetzt wissen sie es. Gut gemacht, Hirad«, fauchte Denser.
»Was ist denn los mit dir? Wir reden hier mit Darrick.« Doch Hirads Tonfall verriet, dass er sehr wohl wusste, welchen Bock er geschossen hatte.
»Glaubst du denn, Lystern habe ihn und seine Kavallerie ohne entsprechende Begleitung geschickt?« Der Unbekannte sah ihn finster an. »Bei den Göttern, Hirad, manchmal frage ich mich wirklich, was du im Kopf hast.«
»Können wir nicht woanders reden?«, schlug Ilkar vor.
Denser nickte knapp und marschierte über den Platz zu den improvisierten Stallungen.
»Es tut mir Leid«, sagte Hirad achselzuckend. »Ich dachte doch nicht …«
»Nein, das hast du wirklich nicht getan«, entgegnete der Unbekannte. »Kommt schon, es ist Zeit für eine kleine Änderung unserer Pläne.« Er sah Darrick tief in die Augen, und der General nickte fast unmerklich. »Danke.«
Er drehte sich um und ging mit Denser hinaus ins schwache Sonnenlicht. Ilkar und Hirad folgten ihm.
Tendjorn richtete sich auf und sah dem Raben hinterher, der sich rasch entfernte. Rechts von ihm stand Darrick äußerlich unbewegt, aber mit blitzenden Augen. Der dordovanische Magier konnte die Verärgerung des Generals spüren und fand sie sogar beruhigend. Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen.
»Behaltet es für Euch«, warnte Darrick ihn. »Ihr werdet sie tun lassen, was sie tun müssen.«
Tendjorn schnaubte empört. »Gefühlsduselei könnt Ihr Euch nicht erlauben«, sagte er. »Sie haben getan, was wir von ihnen erwartet haben. Sie haben Erienne gefunden. Jetzt kommen wir auch ohne sie zurecht.«
»Was genau soll das heißen? Wenn Ihr den Raben benutzt habt, dann werdet Ihr dafür büßen. Nicht durch meine Hand, sondern durch ihre. Ihr solltet meine Worte nicht vergessen.«
»Als sie vor fünf Jahren auf den Drachen geritten kamen und uns vor den Wesmen gerettet haben, hätte man ihnen zutrauen können, dass ihnen nichts unmöglich ist. Aber jetzt? Schaut sie Euch an, General. Sie sehen aus wie das, was sie sind. Über die Blütezeit hinaus. Ihr seid doch ihr Freund. Vielleicht solltet Ihr Euch daher auch wie ihr Freund benehmen.«
»Wie bitte?«
»Ich werde gleich mit Gorstan in Arlen Verbindung aufnehmen«, sagte Tendjorn ohne Rücksicht auf Darricks zunehmende Wut. »Wir werden Erienne schnappen, sobald das Schiff anlegt. Ich erwarte von Euch, dass Ihr bereit seid, mit einer Truppe, die Ihr für ausreichend haltet, dorthin zu reiten, sobald Ihr Eure Lageeinschätzung in Greythorne vorgenommen habt.«
»Und der Rabe?«
»Man wird dafür sorgen, dass er keinen Ärger macht. Das könnt Ihr selbst tun, oder es wird von den Kräften erledigt, die schon in Arlen sind. Wie auch immer, sie dürfen nicht mit Erienne Verbindung aufnehmen.«
Darrick sah ihn an und biss die Zähne zusammen. Sein Gesicht verriet, was er empfand, doch er entfernte sich schweigend, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Tendjorn weidete sich an seinem Unbehagen.
»Ach ja, General?« Darrick blieb mit dem Rücken zum Magier stehen. »Wir wollen in Arlen kein Blutvergießen, oder? Wie ich schon sagte, die Rabenkrieger sind Eure Freunde. Ich will doch hoffen, dass Ihr richtig entscheidet, damit – wie soll ich es ausdrücken? Damit das Wohlbefinden Eurer Freunde nicht beeinträchtigt wird.«
Der General ging weiter.
Thraun hatte die Fährte der Männer, an die er eine unscharfe, aber starke Erinnerung hatte, verfolgt. Er war mit dem Rudel nach Greythorne getrabt, und nun bedrängten ihn weitere beunruhigende Erinnerungen und lenkten ihn ab. Das Rudel blieb vorsichtig ein ganzes Stück hinter ihm.
Wie ein Wachtraum war es, wenn ihn die Bilder blitzartig durchzuckten. Auf zwei Beinen stehen. Ein Freund, den er als Rudelbruder gekannt hatte. Große Wesen mit Flügeln und eine unbeschreibliche Angst, die vom Himmel ausging. Aber so bekam er wenigstens die Gewissheit, dass er die Menschen, denen er folgte, früher einmal gekannt haben musste.
Außerdem waren sie stark und gut, dachte er.
Das Rudel blieb abseits des Weges, den die Menschen mit ihren Tieren benutzten, wenn sie am Dornenwald vorbeiliefen. Hinter dem Wald verlief der Weg durch offenes Gelände, bis er schließlich nach Süden abbog und die Stadt erreichte.
Es war eine aus Erfahrung geborene Vorsichtsmaßnahme, doch er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Niemand war auf dem Weg unterwegs, und da der Mond nur trüb am wolkenverhangenen Himmel schien, würde auch niemand kommen. Nur die Geister des Windes, die in ihm die Furcht wachhielten.
Das Rudel rastete kurz vor Greythorne auf einer kleinen, im Schatten liegenden Anhöhe. Der Anblick war mehr oder weniger der Gleiche wie in der vergangenen Nacht. Lichter brannten, Stimmen riefen, Stein und Holz klirrten und knackten oder stürzten ein.
Lange vor der Morgendämmerung waren Berittene von Westen her donnernd in die Stadt geritten. Thraun hatte die Gelegenheit ergriffen und sich in den leeren Straßen umgesehen. Schnell hatte er die Witterung seiner Menschen aufgenommen, und als er nach dem Geruch und anhand der Glut eines Feuers, das er wie eine leuchtende Pfütze in der Dunkelheit erkennen konnte, bestimmt hatte, wo sie waren, zog er sich wieder zum Rudel zurück.
Doch sie wollten nicht in Greythorne bleiben. Als es wieder hell am Himmel wurde, hatten die Menschen ihre Pferde geholt und waren nach Südosten geritten. Thraun hatte nicht gewusst, womit er rechnen musste, aber dies war es gewiss nicht gewesen. Vielleicht überdeckte die falsche Witterung in der Luft schon viel mehr, als er sich vorzustellen wagte. Vielleicht kehrten die beiden weiblichen Menschen, die er im Dornenwald gesehen hatte, auch nicht nach Greythorne zurück. Oder vielleicht wollten diejenigen, die er kannte, am Ende doch nichts tun, um das Falsche wieder in Ordnung zu bringen.
Was es auch war, das Rudel musste ihm folgen. Er überging ihr Verlangen, etwas zu essen. Dafür war später noch Zeit. Er beschloss, lieber nach der Witterung als nach dem Auge zu laufen, und führte das Rudel zu einem Ziel, das keiner von ihnen erraten oder verstehen konnte.
Der Unbekannte hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sich bei Gannan zu verabschieden. In äußerster Eile verließen sie Greythorne. Als sie durch die Trümmer hinaus ins Land galoppierten und die Hufe ihrer Pferde den Dreck spritzen ließen, spürten sie die überraschten und enttäuschten Blicke der Überlebenden im Rücken. Sie wandten sich nach Südosten, nach Arlen. Es waren knapp drei Tage zu reiten, doch während sie etwaigen Verfolgern gegenüber einen ordentlichen Vorsprung herausholten, war Denser mit ganz anderen Sorgen beschäftigt.
Zwei Stunden ritten sie scharf, bis die Pferde eine Verschnaufpause brauchten. Ilkar tränkte die Pferde an einem Bach, Hirad baute ein Lagerfeuer auf und machte Kaffee.
Der Barbar schaute nicht auf, als Denser aufstand und das feuchte Holz mit einer starken Flammenhand entfachte. Der Unbekannte warf noch ein paar Äste in die wachsenden Flammen.
»Hirad, du bist ein verdammter Idiot«, sagte er, indem er sich neben seinen Freund hockte. »Habe ich dir nicht extra gesagt, dass du vorsichtig sein sollst?«
»Es wird schon nichts passieren. Wir können Darrick vertrauen«, sagte Hirad. Allerdings hatte er ein flaues Gefühl im Magen, als er es sagte.
»Darrick ist nicht das Problem«, wandte Denser ein. »Der dordovanische Magier, der hinter ihm stand, ist das Problem.«
»Aber trotzdem …«, setzte Hirad an.
»Es gibt hier kein Trotzdem«, fauchte Denser. »Wenn sie nicht einen gravierenden taktischen Fehler gemacht haben, dann kann der Magier problemlos mit seinen Leuten Arlen Kommunion halten, und wahrscheinlich hat er es sogar schon getan.«
»Immer vorausgesetzt, da unten ist überhaupt jemand.«
»Oh, natürlich, vorausgesetzt, es ist so.« Denser verdrehte die Augen zum Himmel. Oben brodelten und zogen die Wolken, getrieben vom aufkommenden Wind. Hirad hatte schon die Position gewechselt, um das Feuer abzuschirmen, über das der Unbekannte seinen Topf gehängt hatte.
»Hirad, inzwischen weiß jeder, dass Erienne und Lyanna Balaia verlassen haben. Die Frage war nur, wohin. Dordover lässt schon seit Wochen jeden Hafen überwachen. Sie hatten uns gegenüber immerhin fünfzig Tage Vorsprung«, sagte der Unbekannte.
»Was sollen wir dann tun?« Endlich hob Hirad den Kopf und sah den Unbekannten an. Er war nicht mehr wütend, nur noch frustriert.
»Wir müssen annehmen, dass inzwischen alle Dordovaner in Arlen von Eriennes bevorstehender Ankunft wissen. Also müssen wir erst einmal Erienne warnen, damit sie nicht unversehens ins Verderben läuft.«
»Das bedeutet, dass Denser eine Kommunion halten muss, ja?«
»Richtig, Hirad«, sagte Denser knapp. »Auch wenn es nicht ganz die Art und Weise ist, wie ich mein Mana verbrauchen wollte.«
»Es tut mir Leid, das sagte ich doch schon.« Hirads Gereiztheit war nicht zu übersehen. »Wir kriegen das schon hin.«
»Wirklich?« Densers Augen funkelten zornig. »Wir sind vier. Was sollen wir eigentlich machen, wenn die Dordovaner sie schnappen, bevor wir da sind?«
»Sie werden ihr doch nichts antun, Denser.«
»Aber sie werden sie wegschaffen, und wir haben nicht viel Zeit.« Er war sichtlich aufgeregt. »Sie müssen sie einfach nur schnappen, um an Lyanna heranzukommen. Nur ich kann sie retten.«
»Dass sagst du immer wieder. Dann teile ihr doch mit, sie soll nicht Arlen anlaufen, und dann treffen wir sie ein Stück weiter die Küste hinunter. Nur keine Panik.« Hirad schob einen weiteren Ast ins Feuer, einige Funken stieben am dampfenden Topf vorbei hoch. Ilkar kam herüber und setzte sich gegenüber vom Barbaren ans Feuer.
»Ich gerate nicht in Panik, Hirad. Ich mache mir nur Sorgen um meine Frau und meine Tochter. Ich hoffe, das ist in Ordnung.«
»Und ich mache mir Sorgen um meine Drachen, aber ich helfe dir trotzdem.«
»Bei den Göttern«, murmelte Ilkar leise. »Muss das jetzt sein?«
»Ja, sie sind ja auch so hilflose Wesen«, sagte Denser. »So verletzlich. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie ohne dich überleben könnten.«
»Sie sterben, Denser«, knurrte Hirad. »Aber davon hast du sicher nichts gehört, als du in einem bequemen Turm gesessen und Leckereien gegessen hast.«
»Ganz so war es nun auch wieder nicht.« Denser setzte sich demonstrativ etwas bequemer und versuchte, die Situation zu entschärfen.
»Nein, sicher nicht, aber ich meine, die Früchte deiner harten Arbeit sind doch überall zu sehen, oder?« Hirad machte eine ausholende Geste mit beiden Armen. »Sind die Protektoren befreit? Sind die Drachen der Kaan in der Lage, wieder nach Hause zurückzukehren?«
»Das sind nur zwei Dinge, mit denen …«
»Nur? Falls es deiner Aufmerksamkeit entgangen ist, Denser, diese beiden Dinge haben Balaia gerettet. Die Drachen haben sich freiwillig ins Exil begeben, und die Protektoren haben unter großen Verlusten vor dem Haus von Septern gekämpft. Leider ist das aber schon eine Weile her, und vielleicht hat über die Jahre deine Erinnerung gelitten.« Hirads beißende Bemerkung hallte laut über den Lagerplatz hinweg. Danach herrschte nachdenkliches Schweigen.
»Hirad, ich weiß, wie wichtig es für dich ist«, sagte Ilkar schließlich. »Aber im Augenblick müssen wir uns um dringendere Dinge kümmern. Und wenn wir Erienne und dann die Al-Drechar finden, könnte damit auch dein Problem gelöst werden.«
Hirad nickte. »Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe, und es tut mir Leid. Ich wollte nur, dass er weiß, was er getan hat. Oder was er nicht getan hat.« Er zielte mit dem Finger auf Denser.
»Auch auf die Gefahr hin, wie ein Dummkopf dazustehen, was hat die Suche nach den Al-Drechar mit Hirads Drachen zu tun?«, fragte Denser.
»Die Kaan glauben, die Al-Drechar könnten das Dimensionsrätsel lösen«, erklärte der Unbekannte. »Immerhin besitzen sie Septerns Wissen. Noch etwas. Hirad hat Recht damit, dass die Kaan sterben und die Protektoren noch nicht befreit sind …«
»Ach hör auf, ich …«
»Unterbrich mich nicht, Denser«, warnte der Unbekannte. »Ich weiß, dass die Machtpolitik auf dem Berg kompliziert ist, aber du bist jetzt ein Seniormeister. Wir haben bisher noch keine Ergebnisse gesehen. Keine Fortschritte. Und wir wollen Antworten haben. Sobald Lyanna in Sicherheit ist.«
Denser sah den Unbekannten stirnrunzelnd an. Ein Mundwinkel zuckte, als er antwortete. Eine kleine, nervöse Reaktion.
»Wir müssen uns damit abfinden, solange wir Lyanna nicht in Sicherheit gebracht haben – und die Al-Drechar vermutlich gleich dazu –, sind die Drachen und die Protektoren unsere geringsten Sorgen.«
»Umso schlimmer, dass du es so lange hast laufen lassen«, sagte Hirad. Er stellte die Becher in einer Reihe auf und füllte sie mit Kaffee.
Denser schüttelte den Kopf. »Das Problem ist meines Erachtens, dass du noch nicht verstanden hast, wie ernst das alles ist.«
»Dann erkläre es mir doch einfach mal.« Hirad hielt Denser einen Becher hin. Die Bewegung war so heftig, dass etwas Kaffee überschwappte. »Wenn wir Lyanna nicht schnell finden und vor Dordover in Sicherheit bringen, dann haben wir noch länger schlechtes Wetter.«
Denser riss die Augen auf. »Hast du es ihm denn nicht erklärt?«, fragte er Ilkar.
Der Elf zuckte mit den Achseln. »Versucht haben wir es ja …«
»Ich verstehe«, sagte Denser. Er nickte resigniert. »Dann will ich mich bemühen, es in Worte zu fassen, die du verstehen kannst.«
»Nicht so überheblich, Mann aus Xetesk.«
»Entschuldige. So sollte es nicht klingen.« Er trank einen Schluck. »Das hier ist keine Schlechtwetterphase, die irgendwann vorbei ist. Schlechtes Wetter, das beschreibt nicht annähernd das, was im Gange ist. Dies ist erst der Anfang. Wir haben bisher schon ein Erdbeben, einen Wirbelsturm, Überschwemmungen und Flutwellen an der Küste erlebt. Stell dir vor, dass so etwas, hundertfach schlimmer, in ganz Balaia geschieht. Wenn Lyanna den Al-Drechar entzogen wird und in ihre unergründliche Nacht stürzt, wie es unweigerlich geschehen muss, dann wird es so weitergehen, bis sie stirbt. Deshalb werden die Dordovaner sie töten.«
»Und wir – oder besser du … du kannst sie kontrollieren?« , fragte Hirad. Er hatte sich beruhigt, weil Densers Worte ihre Wirkung zeitigten.
»Ja, das sage ich doch«, sagte Denser. Seine Stimme klang wieder besorgt. »Aber wir müssen sie schnell erreichen. Die Al-Drechar können sie nicht mehr lange abschirmen, wie die chaotischen Ausbrüche zeigen. Immerhin lässt die Tatsache, dass Erienne Lyanna allein gelassen hat, darauf schließen, dass die Al-Drechar nach Eriennes Meinung im Augenblick noch dazu fähig sind.«
»Aber sie weiß nicht, wie viel bisher schon passiert ist«, wandte Ilkar ein.
»Ich denke, die Al-Drechar wissen Bescheid«, erwiderte Denser. »Wichtig ist vor allem, dass Lyanna nicht den Dordovanern in die Hände fällt, weil das eine Katastrophe wäre. Sie würden entweder versuchen, sie zu kontrollieren und dabei scheitern, weil sie Lyannas Kräfte nicht verstehen; oder sie töten sie, weil sie Angst vor ihr haben. Ich muss zu meiner Frau. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Hirad wollte etwas sagen, doch dann sah er die Sorge in Densers Augen flackern und beschloss, wortlos seinen Kaffee zu trinken. Was er hätte sagen können, wäre ohnehin nur eine Provokation gewesen. Vielleicht ein andermal.
»Wir müssen uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren«, sagte der Unbekannte. »Denser, halte die Kommunion. Wenn du Erienne erreichst, dann empfiehl ihr, in der Bucht zu ankern. Wir können an der Flussmündung entlangreiten, bis wir sie gefunden haben. Hirad, überprüfe die Pferde. Ilkar, ich muss mit dir reden.«
»Stimmt etwas nicht, Unbekannter?«, fragte der Julatsaner.
»Nein, alles klar«, sagte der Unbekannte, doch sie konnten sehen, dass sein Blick in die Ferne ging.
Hirad zuckte mit den Achseln und ging zum Bach. Sein Zorn ließ nach, und schließlich lächelte er sogar. Die Pferde wirkten entspannt und bereit und grasten zufrieden. Er tätschelte einem Pferd den Hals, strich mit der Hand die Vorderbeine hinunter und spürte die festen Muskeln und Knochen.
Sein Lächeln wurde breiter. Auch wenn sie seit fünf Jahren nicht mehr zusammen geritten waren, wenn der Unbekannte sprach, dann hörten sie zu. Allein das, überlegte er, gab ihnen in den kommenden Tagen den Hauch einer Chance. Und es klang ganz danach, als brauchten sie jeden Hauch, den sie nur bekommen konnten.