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18

Nach den heftigen Unwettern der letzten Tage strömte der Fluss Arl inzwischen wieder vergleichsweise gemächlich dahin. Die Meerulme fuhr mit der Flut im Rücken durch ruhiges Wasser stromaufwärts. Alle Segel waren gesetzt, der Wind wehte stetig nach Norden und parallel zu den baumbestandenen Ufern. Nach einer Weile wichen die Bäume den sanften Hügeln im Westen und mächtigen Klippen im Osten, dahinter lag wieder ein weites Flachland, das sich über viele Meilen bis zum Arlen-See erstreckte.

Vom südlichsten Punkt bis zum Nordufer war der See von Wäldern umringt, die bis in die steilen, mit Schnee bedeckten Berge hinaufreichten. Es war ein idyllischer Anblick, dessen Schönheit höchstens noch vom Triverne-See übertroffen wurde. Die Hafenstadt Arlen lag am Westufer. Den Tiefwasserhafen konnten sogar seetüchtige Schiffe anlaufen, die Fischereiflotte fand in einem kleineren Hafen Schutz, und die Schiffe, die auf Reede lagen, wurden von Booten bedient, die mit Ladekränen ausgerüstet waren.

Wer vom Meer hereinkam, sah die Stadt auf einem niedrigen Hügel vor sich liegen. Hoch darüber schimmerte im Morgenlicht der weiße Sandstein der Burg, auf deren vier Türmen Flaggen gesetzt waren. Heute aber war das Weiß gedämpft. Seit einer halben Ewigkeit hatte sich die Sonne nicht mehr in Balaia blicken lassen. Niedrige, Regen führende Wolken zogen fast unablässig über den Himmel. Es hatte sich stark abgekühlt, und viele Vögel waren vorzeitig in den Süden geflogen, da die Insekten rasch eingegangen oder gar nicht erst geschlüpft waren. Bäuerliche Gemeinden berechneten die Verluste durch schlechte Ernten und machten sich auf eine Hungersnot im kommenden Jahr gefasst.

Erienne stand im Bug der Meerulme. Immer noch wallten nach dem Mana-Angriff Nebelschleier in ihrem Kopf. Sie hatte ihre Reserven noch nicht ganz wieder aufgebaut, und ihre Gefühle waren widersprüchlicher denn je, seit sie Lyanna allein auf Herendeneth zurückgelassen hatte.

Wenigstens hatte sie jetzt das Gefühl, etwas unternehmen zu können, um die Sicherheit ihrer Tochter zu gewährleisten, und sie konnte nicht leugnen, dass sie sich sehr darauf freute, Denser bald wiederzusehen. Umso stärker war aber auch ihre Sehnsucht geworden, Lyanna wieder in die Arme zu schließen, im Obstgarten zu sitzen und ihrer wundervollen Tochter beim Spielen zuzuschauen oder ihr Geschichten aus ihrem Lieblingsbuch vorzulesen. Jeden Morgen waren Eriennes Wangen feucht von Tränen. Der Schlaf löste die mühsam errichteten Mauern auf. In den letzten drei Tagen, seit ihre Mana-Fähigkeiten beeinträchtigt waren, hatte sie noch eine weitere Emotion kennen gelernt. Furcht.

Furcht, dass sie vielleicht nie wieder fähig wäre, einen ordentlichen Spruch zu wirken. Furcht vor einer Isolation, die schrecklich und unerträglich werden würde. Furcht vor dem, was sie in Arlen vorfinden mochte. Wenn Ren’erei Recht behielt, dann gingen die Schwarzen Schwingen wieder um, und Selik lebte noch. Er war Travers’ rechte Hand gewesen und hatte das gleiche fanatische Funkeln in den Augen wie sein früherer Herr. Sie war den beiden nur einmal begegnet, doch die Begegnung hatte ihre Zwillingssöhne das Leben gekostet.

Sie wusste inzwischen, dass der Kummer über den Tod ihrer Söhne nie ganz heilen würde. An manchen Tagen war er schwächer, an anderen stärker, aber er war immer da. Das war ein weiterer Grund für Erienne, das zu tun, was sie gerade tat. Niemand sollte ihr jemals wieder ein Kind wegnehmen.

So stand sie in schwerem Mantel und dicken Hosen auf Deck und ließ den Wind mit ihrem Haar spielen. Sie sah sich auf der Meerulme um. An diesem Morgen ging es ihr etwas besser, sie wünschte sich nicht einmal mehr, die Elfenfrau möge wieder verschwinden, als Ren’erei übers Deck zu ihr kam.

Ren’erei musterte Erienne scharf und versuchte, ihre Stimmung abzuschätzen. Sie trug den gewohnten braunen und grünen Mantel, geschnürte Lederhosen und ein braunes Hemd.

»Wie geht es dir?« Ren’erei lehnte sich mit dem Rücken an die Reling und verschränkte, halb zu Erienne gewandt, die Arme vor der Brust.

Erienne zuckte mit den Achseln. »Nicht schlecht. Nicht mehr ganz so benebelt.« Sie machte eine Geste, als wolle sie ihren Kopf zerquetschen.

»Ist das gut?« Ren’erei lächelte.

»Ja, das ist gut. Vor allem bin ich froh, dass wir fast da sind. Die Reise ist mir sehr lang geworden.«

Ren’erei nickte und wurde wieder ernst. »Ich kann deine Ungeduld verstehen. Wir müssen aber in Arlen vorsichtig sein. Denser hat Recht, du solltest an Bord bleiben. Wir werden ihn schon finden.«

»Das stimmt wohl.«

»Was ist denn los?«

Erienne seufzte. Sie war es nicht gewohnt, sich so hilflos zu fühlen. Das war etwas, das ihre Laune ganz sicher nicht besserte.

»Ich bin wütend, weil ich keinen Kontakt mehr mit ihm aufnehmen kann, und er vermutlich auch nicht mit mir. Bei den Göttern im Himmel, Ren’erei, wir wissen nicht einmal, ob er überhaupt dort ist. Und wenn du nach ihm suchst, dann wirst du ihre Aufmerksamkeit erregen.«

»Meinst du die Schwarzen Schwingen?«

Erienne nickte. Sie brachte den Namen nicht über die Lippen, und die Angst drehte ihr förmlich den Magen um.

»Sie sind nicht in der Nähe.«

»Nein?«, fauchte Erienne aufgebracht. »Wie kannst du da so sicher sein? Frag doch Tryuun nach ihnen. Als ich beim Raben war, dachten wir, wir hätten sie vernichtet, bevor Dawnthief gewirkt wurde. Bei den brennenden Göttern, ich schwöre dir, ich habe Selik durch meine eigene Hand sterben sehen. Du sagst mir, er habe überlebt, und Tryuuns Gesicht ist Beweis genug.« Sie fuhr sich mit einer Hand über ihr Gesicht und wischte die Haare weg, die vor ihren Augen flatterten. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, machte einen Schritt auf Ren’erei zu und legte ihre Hände auf die der Elfenfrau.

»Diese Männer sind gefährlich. Sie haben Magier, die für sie arbeiten. Ich flehe dich nur an, vorsichtig zu sein. Du bist eine gute Freundin, Ren. Werde nicht unvorsichtig. Das Leben meiner Tochter steht auf dem Spiel.«

Ren’erei nickte. »Das werde ich nie vergessen. Ich werde beherzigen, was du sagst. Wir werden Denser schon finden, keine Sorge.«

Erienne kam nicht mehr dazu, ihr zu antworten, denn sie wurden durch einen Ruf vom Ruderdeck unterbrochen. Sie drehten sich zum Kapitän um, der zum Ostufer deutete, wo die Bäume zur Mündung des Sees hin spärlicher standen. Ren’erei blickte in die Richtung, in die der Ausguck zeigte, und starrte angestrengt zu den Bäumen hinüber. Erienne konnte nichts sehen. Sie fuhren hundert Schritt vom Ufer entfernt mitten auf dem Strom, und für sie gab es in den Schatten zwischen den Bäumen keine erkennbaren Konturen. Sie hatte keine Ahnung, was der Ausguck bemerkt hatte.

»Was ist denn?«, fragte sie.

»Reiter.« Ren’erei starrte weiter hinüber, ohne sich zu bewegen. »Es sind vier. Kundschafter.«

Sie wusste um den überlegenden Gesichtssinn der Elfen, aber sie musste es einfach aussprechen.

»Ich kann überhaupt nichts sehen.«

Ren’erei wandte sich betont nachsichtig zu ihr um.

»Erienne, sie sind Späher, weil sie Pferde reiten, die auf kurze Sprints und Ausdauer gezüchtet sind. Sie tragen nur leichte Rüstungen und sind nur leicht bewaffnet. Vor allem aber sind sie Elfen und wissen, dass wir sie gesehen haben.«

»Dann suchen sie uns?«

»Wen denn sonst?« Ren’ereis Lächeln war etwas gezwungen.

»Aber wie kann das sein?«, fragte Erienne verzweifelt. Der Anflug von guter Laune war verschwunden, und ihr Herz raste wieder. »Und wer? Wer weiß, dass wir kommen?«

»Ich denke, das werden wir in Arlen herausfinden«, erwiderte Ren’erei. Die Elfenfrau sah wieder zum Ufer und verfolgte die Reiter, die Erienne nicht einmal sehen konnte.

Sie fühlte sich hilfloser denn je und fürchtete um ihrer aller Leben. Die Ankunft in Arlen schien plötzlich mit großen Gefahren verbunden, weil so viele Leute – vielleicht sogar die Schwarzen Schwingen, aber noch eher die Dordovaner – hinter ihr her waren. Zum Glück war die Unterstützung nicht weit. Sie wollte bei Lyanna sein, doch Lyanna war nicht da.

Glücklicherweise aber war der Rabe in der Nähe.

 

Am nächsten Morgen, als Arlen noch weniger als eine Tagereise entfernt war, hatte der Unbekannte es geschafft, den Wächter aus Lystern zu überzeugen, dass er keine Gefahr für Darrick darstellte. So ritten die beiden Männer nebeneinander an der Spitze der Truppe. Endlich einmal ließ der Wind etwas nach, und sogar die Wolkendecke lockerte auf und ließ hier und dort seltene Finger von ungefiltertem Sonnenlicht durch, die für kurze Zeit die Erde liebkosen durften.

Nachdem sie erneut eine durchnässte Nacht unter Lederplanen zwischen den Bäumen verbracht hatten, war die Stimmung in der Kavallerie am folgenden Tag etwas gelöster. Das hügelige Moorgebiet, das stetig zum Westufer des Arlen-Sees hin abfiel, schien nicht mehr ganz so öde, und der Unbekannte war ein wenig erleichtert. Nur Densers finstere Miene hatte sich nicht verändert.

»Ein seltsamer Gefangener bist du«, sagte Darrick, nachdem er wieder einmal einen verwirrten Blick eines seiner Männer bemerkt hatte.

»Ich finde es schade, dass du mich überhaupt so siehst«, erwiderte der Unbekannte.

Darrick nagte an der Unterlippe und konnte einen kurzen Moment lang den Blick des Unbekannten nicht erwidern.

»Du musst mir glauben, dass es zu eurem eigenen Schutz geschieht«, sagte Darrick. »Mir tut es auch Leid, dass es notwendig war, euch die Waffen abzunehmen und Ilkar und Denser unter magische Bewachung zu stellen. Keinem von uns gefällt das.«

»Ihr führt eben nur eure Befehle aus, was?« So sehr er sich auch bemühte, der Unbekannte konnte dem General nicht böse sein. Er musste allerdings herausfinden, was dies alles zu bedeuten hatte.

»Man gab mir zu verstehen, dass ihr möglicherweise zu früh in Arlen ankommt«, sagte Darrick vorsichtig.

»Bei den stürzenden Göttern«, sagte der Unbekannte. Wider Willen musste er lächeln. »Was hat denn der kluge Ratgeber gemeint, das wir tun könnten?«

»Ihr könntet beim Versuch umkommen, Erienne zu erreichen, was sonst?«

»Wir sind eigentlich nicht dafür bekannt, dass man uns leicht umbringen kann«, erwiderte der Unbekannte. »Außerdem haben wir damit gerechnet, dass du hinter uns bist. Wenn du nicht in der Stadt bist, dann bist du auch keine Bedrohung, oder?«

Darrick drehte sich zu ihm um; unter dem Helm war seine Stirn in tiefe Falten gelegt. »Unbekannter, ich hätte meinen Männern niemals den Befehl gegeben, gegen den Raben zu kämpfen. Du missverstehst mich.«

»Nein, durchaus nicht. Wir wissen bereits, dass einige Dordovaner in Arlen herumschnüffeln und versuchen, die Mana-Spuren aufzunehmen. Wir dachten allerdings, dass wir ihnen ausweichen können.« Der Unbekannte zuckte mit den Achseln.

»Ein paar? Dann seid ihr nicht gut informiert. Es sind jetzt mehr als dreihundert, und wenn ich die Meldungen aus Dordover richtig deute, dann sind noch weitere unterwegs.«

Es verschlug dem Unbekannten die Sprache. »Dreihundert … was erwartet ihr eigentlich da unten zu finden? Ich meine, Erienne ist doch keine Armee, oder?«

»Wir sorgen uns nicht wegen Erienne oder ihrer Elfenmagier. Du weißt so gut wie ich, dass Dordover und Lystern nicht die Einzigen sind, die das Kind in ihre Gewalt bringen wollen.«

Noch während Darrick sprach, lief es dem Unbekannten eiskalt über den Rücken.

»Bei den Göttern, ich hätte es gleich erraten sollen, was?«

»Wie bitte?«

»Ich habe sie schon vor ein paar Tagen gespürt. Ich wusste, dass sie nahe waren, und ich kann gar nicht fassen, dass ich die Verbindung nicht herstellen konnte.« Er sah Darrick an, der es offenbar nicht verstanden hatte. »Die Protektoren. Sie kommen nach Arlen, nicht wahr?«

Darrick nickte.

»Wie viele?«

»Wir müssen annehmen, dass sie alle kommen«, sagte Darrick.

»Dann werden sie euch abschlachten. Dreihundert plus deine zweihundert? Du würdest dein Leben wegwerfen, Darrick. Selbst wenn du, woher auch immer, noch mehr Unterstützung bekommst. Das musst du doch einsehen.« Der Puls des Unbekannten ging schneller, und er konnte Darrick ansehen, dass dieser es überhaupt nicht begriffen hatte.

»Ich habe sie kämpfen sehen. Wir sind aber keine Wesmen, Unbekannter. Wir haben die Unterstützung der Magier. Ich bin sicher, dass wir sie schlagen können.«

»Dann würdest du meine Brüder töten. Du verstehst doch, dass ich alles tun muss, was ich nur kann, um dich daran zu hindern.«

»Ich habe meine Befehle.«

»Und ich habe meine Verpflichtungen.« Endlich wurde der Unbekannte wütend. Es war nur traurig, dass es als Reaktion auf eine Bedrohung der Protektoren geschah.

Er fand Darricks Zuversicht überheblich und falsch. Der Offizier mochte die Protektoren beobachtet haben, doch er verstand nicht, wie ihre Gedanken zusammenwirkten, was sie antrieb und mit welcher Hingabe sie kämpften. Genau die Dinge, die sie so sehr von allen anderen Soldaten unterschieden. Taktik war gut und schön, aber die Menschen hatten Angst vor den Protektoren, und Darricks Männer waren in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Außerdem würde auch Xetesk magische Unterstützung mitschicken, und zwar reichlich.

Die ganze Situation geriet völlig aus den Fugen.

»Was glaubst du eigentlich, warum Dordover so scharf darauf ist, Lyanna zu schnappen?«

Darrick kicherte. »Komm schon, Unbekannter, das musst du mich wirklich nicht fragen. Sie ist außer Kontrolle. Sieh dich nur um. Ihre Kräfte zerstören Balaia. Ich bin sicher, dass es nicht ihre Schuld ist, aber dies muss unterbunden werden. Ich nehme doch an, dass wir in dieser Hinsicht einer Meinung sind?«

»Ja«, sagte der Unbekannte.

»Aber …«

»Aber Dordover hat sie erweckt. Erienne hat Lyanna mitgenommen, weil Dordover sie nicht mehr kontrollieren konnte. Sie ist zu den Al-Drechar gegangen.«

»Nennst du das hier vielleicht Kontrolle?« Darrick machte eine Geste mit der freien Hand. »Ich habe Berichte gehört, und ich habe Greythorne und den Dornenwald gesehen. Hör mal, Unbekannter, es tut mir wirklich Leid. Ich habe viel Mitgefühl für euch, für euch alle. Und ich weiß, dass du glaubst, das Richtige zu tun. Das dachte ich zuerst auch, doch ich habe zu viel gesehen und gehört. Erienne hat einen Fehler gemacht. Lyanna muss unter der Kontrolle eines Kollegs bleiben, das ist der einzige Weg.«

Der Unbekannte zweifelte nicht daran, dass dies Darricks ehrliche Überzeugung war. Der General war nicht leichtfertig und neigte auch nicht zu vorschnellen Schlüssen.

»Glaubst du wirklich, dass es dies ist, was die Dordovaner wollen? Sie kontrollieren? Sie wollen sie töten, Darrick, und du wirst benutzt, um sie auszuliefern. Sie werden sie nicht kaltblütig ermorden, aber sie werden dafür sorgen, dass sie stirbt. Ich weiß, dass du so etwas nicht zulassen willst.«

»Das werde ich auch nicht. Nicht, solange ich noch einen Funken Leben im Körper habe«, sagte Darrick.

»Dann solltest du auch auf dich selbst gut aufpassen.«

Darrick nickte und schaute zum Himmel hinauf. Hier und dort waren noch blaue Flecken zu sehen, doch im Osten ballten sich schon wieder Regen bringende Wolken zusammen. Korina, die Hauptstadt Balaias, erlebte wahrscheinlich gerade wieder ein Unwetter.

Der General wandte sich an seinen Stellvertreter.

»Izack, die Leute sollen im langsamen Schritt reiten. Noch eine Meile, dann sitzen wir ab.«

»Ja, Sir.« Izack hob eine flache Hand über den Kopf. »Schritt!«, rief er. Das Kommando wurde durch die Kolonne weitergegeben. Darricks gut ausgebildete Kavallerie reagierte sofort.

»Du weißt sicher schon, dass auch die Schwarzen Schwingen mit von der Partie sind?«, fuhr der Unbekannte fort, als sie gemächlicher durch das Hochmoor ritten. Heidekraut bildete große purpurfarbene Flecken auf den sanften Hängen.

Darrick warf ihm einen scharfen Blick zu und zuckte mit den Achseln. »Das wundert mich eigentlich nicht. Wenn es irgendwo Probleme mit der Magie gibt, dann sind sie sofort zur Stelle und machen Ärger und wetzen das Messer. Ein Grund mehr, Erienne in Sicherheit zu bringen.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung.«

»Ich hoffe wirklich, dass wir uns immer noch als Freunde betrachten können, wenn all dies hier vorbei ist.«

Die Bemerkung gab dem Unbekannten einen Stich. »Nicht, wenn du Lyanna an die auslieferst, die sie umbringen wollen, und auch nicht, wenn du dabei meine Brüder tötest. Wenn du erlaubst, will ich jetzt zu den Freunden zurückkehren, die ich im Augenblick noch habe.«

 

Thrauns Gedanken waren in Aufruhr, und er spürte die misstrauischen Blicke des Rudels. Er spürte ihre Verwirrung, ihre Ängste und ihren Zorn, doch er konnte ihnen nicht mitteilen, was er tief in sich fühlte. Es war schon schwer, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Er konnte eigentlich nur hoffen, dass das Rudel ihm vertraute und sich weder gegen ihn noch gegen den menschlichen Rudelbruder wandte.

So reisten sie rasch durch das Land, folgten der Spur der vielen Männer und Pferde und hielten auf eine große Wasserfläche und eine Siedlung zu. Dort, so hoffte er, konnte er die Antworten auf die Fragen finden und die Falschheit in der Luft beenden.

Er hatte nicht gewusst, ob der Rudelbruder ihm folgen würde, doch er hatte das Rudel stillgehalten, als sie sich seinem Lager näherten. Sie hatten windabwärts gewartet, bis er erwachte. Er konnte noch nicht wissen, dass seine Freunde fort waren, von anderen Männern weggeführt, doch er hatte ihn daran hindern wollen, ins Lager zurückzukehren, in dem sie geschlafen hatten, weil es die falsche Richtung war.

Der Rudelbruder hatte daraufhin mit ihm gesprochen, und er hatte weiter gesprochen, als sie unterwegs waren. Sein Pferd hatte Angst, was auch richtig war, aber er hatte es unter Kontrolle. Das Rudel musste noch warten, bis es wieder essen konnte.

Thraun hatte immer noch keine Ahnung, was als Nächstes geschehen sollte. Sein Instinkt hatte ihn getrieben, den Rudelbruder sicher zum Endpunkt seiner Reise zu begleiten. Seine Gefühle waren in einem schmerzlichen Widerstreit. Menschen waren keine Beute, sie waren eine Bedrohung, und er war daran gewöhnt, Bedrohungen zu beseitigen, damit dem Rudel nichts geschah. So war es schon immer gewesen. Dieser Rudelbruder aber – genau wie ein anderer, an den er voller Trauer dachte – verstand ihn, wie ihn nur wenige Menschen verstanden.

Thraun konnte es erkennen, und deshalb führte er das Rudel an, aber deshalb war er auch allein. Anders als die anderen.

Erinnerungen zuckten durch seinen Kopf. Ferne, verschwommene Erinnerungen. Zwei Beine und aufrecht gehen … langsamer laufen, weniger Kraft und schlechtere Instinkte … keine Spuren mehr wittern können … Die Erinnerungen waren schmerzlich, und er knurrte, um seine Gedanken zu klären. Doch seit er den Rudelbruder und seine Gefährten gesehen hatte, blieb ihm die Klarheit versagt.

Thraun drehte den Kopf herum und beobachtete das Rudel und den Reiter, die ihm folgten. Er witterte die Luft, als er weiterlief. Die Zeit wurde knapp.

 

Als Hirad den Wölfen auf der Fährte folgte, die von mehr als hundert Pferden hinterlassen worden war, fiel endlich eine Anspannung von ihm ab, die er vorher noch nicht einmal richtig zur Kenntnis genommen hatte. Ilkar, Denser und der Unbekannte waren noch am Leben. Ilkar hatte einen seiner Handschuhe in der Hoffnung fallen lassen, Hirad werde ihn finden. Sie waren sicherlich Gefangene, aber sie lebten noch, und das bedeutete, dass er sie finden und befreien konnte. Und Thraun war bei ihm.

Irgendwie ergab das alles keinen Sinn, aber irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass Thraun genau wusste, was er tat. Keine Frage, dass Hirad Thrauns Instinkten traute, ob er nun als Wolf oder als Mensch vor ihm stand.

Denn schließlich gehörte auch Thraun zum Raben.