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Tikonov-SystemAchernar-PDZ, Mark Capella, Vereinigte Sonnen
21. Februar 3065 »Sie dreht bei«, rief die Ortung. »Voller Gegenschub!«
Auf dem Hauptsichtschirm der Katrina Steiner sah Handal Siddig das selbst. Die VSS Melissa Davion schwang unter Einsatz der Steuerdüsen um hundertachtzig Grad herum. Die Düsen des Hauptantriebs leuchteten in grellem Weiß. Sie machte sich zu einer vollen Breitseite bereit, bevor sie zu einem erneuten Anflug ansetzte. Seine Finger gruben sich in die Armstützen des Sessels, bis die Knöchel weiß vortraten. Einen weiteren Angriff hielt die Katrina Steiner möglicherweise noch aus, doch es war ein Risiko. Das war ihm klar.
Andererseits stellte in einem Raumgefecht jedes
Manöver ein Risiko dar.
»Drehen wir ihr den Bug zu«, befahl er dem Steuermann. »Vordere
Geschütze konzentrieren sich ausschließlich auf kontinuierlichen
Beschuss der Breite. Steuer, voller Schub und bereit zur Wende.«
Nachdem er seine Befehle erteilt hatte, stählte Kapitän Siddig sich
für den Einschlag.
Die Melissa Davion enttäuschte ihn
nicht. Aus weiter Entfernung feuerte der Kreuzer der AvalonKlasse mit Schiffslasern und Gaussgeschützen
und schleuderte eine kaum fassbare Welle vernichtender Gewalt in
den Bug der Fox-Klasse-Korvette. Dann
folgte die ganze Wucht der Schiffsautokanonen, fraß sich durch
Panzerung und Hüllenstruktur, riss den Rumpf auf und ergoss die
kostbare Luft des Schiffes in die kalte, gnadenlose Leere des Alls.
Warnlichter flackerten und Alarmglocken schrillten um
Aufmerksamkeit. Die Korvette bäumte sich auf, als wäre sie in eine
Mauer gerast. Mehrere Mitglieder der Brückenbesatzung stürzten aus
den Sesseln. Seine Sicherheitsgurte hielten, schnitten sich
schmerzhaft in den Bauch und bescherten ihm ohne Zweifel einen
ansehnlichen Bluterguss an den Oberschenkeln. Seine Zähne schlugen
krachend aufeinander und er spürte die hinteren Backenzähne
splittern.
In der Rückwand der Reservekommstation brach ein Feuer aus. Zwei
Maate brachten es mit kurzen Stößen Gefrierpulver aus einem Löscher
schnell unter Kontrolle. Die ganze Brücke roch nach überhitzten
Schaltkreisen, schmorendem Plastik und dem ätzenden Biss des
Löschmittels.
Die Sichtschirme waren dunkel. Siddig sah ein Schadenskontrollteam
unter der Aufsicht seines Stellvertreters Jeremy Franklin eifrig an
der Arbeit. Er wusste, es hatte keinen Sinn, sie noch zusätzlich
anzutreiben. »Ortung, ich hoffe, Sie haben noch Daten.«
»Aye, Käpt'n. Wir sind auf direkter Fahrt auf den Kreuzer zu. Die
Flugbahn flacht im Anflug leicht ab.«
»Buggeschütze feuern weiter«, meldete die Armierungsoffizierin.
»Wir haben eine Schiffs-AK verloren.«
Siddig nickte, als der Hauptschirm wieder aufflakkerte, dann schien
ihm das Herz in den Hals zu springen. Ein weiteres Bombardement
schüttelte sein Schiff durch wie eine Bulldogge eine gefangene
Ratte. Aus nur noch sechs Kilometern Entfernung beharkten die
beiden Kriegsschiffe sich mit ihren riesigen Geschützen, während
Luft/Raumjäger und Sturmschiffe sie umschwärmten.
Die Katrina Steiner hatte weniger
Grund, sich um die kleineren Schiffe zu sorgen, als der Kreuzer,
denn ihre Abwehrbewaffnung reichte aus, die meisten Jagdpiloten
abzuschrecken. Tatsächlich hatte sich Siddigs ganze Strategie auf
überwältigenden Angriffswellen der Luft/Raumjäger unter seinem
Befehl aufgebaut - doch die blieben seine Leute ihm schuldig. Die
11. Arkturische Luft/Raumbrigade - der kleine Teil der Einheit, den
Maria Esteban nicht mitgenommen hatte - besaß keine Erfahrung im
Kampf gegen ein Kriegsschiff. Der Kreuzer konnte sie immer wieder
dazu bringen, ihre Angriffe abzubrechen, ungeachtet aller
Empfehlung der Gefechtstheorie. Was sein riesiges
MilizLuft/Raumkontingent betraf, war es besser, den Mantel gnädigen
Schweigens darüber auszubreiten. Eine ganze Reihe von
Milizoffizieren hatte sich rundheraus geweigert, die Melissa Davion anzugreifen und stürzte sich
stattdessen auf die Sturmschiffe, die sie mitgebracht hatte. Dabei
waren diese zwar zugegebenermaßen kleiner als der Kreuzer, durch
ihre reichhaltige Bestückung mit Abwehrwaffen für Jäger aber
letztlich der gefährlichere Gegner.
Trotz dieses Mangels an Unterstützung blieb Kapitän Siddig keine
andere Wahl, als den Gegner anzugreifen. Er konnte nichts dagegen
tun, dass die Katrina Steiner über
nicht einmal ein Drittel der Feuerkraft ihres Gegners verfügte. Er
konnte nur versuchen, dreimal so gut zu sein wie der
Rebellenkapitän, auch wenn er im Innersten wusste, dass er nur eine
doppelt so gute Leistung erreicht hatte. Und das reichte
nicht.
Trotzdem versuchte er es weiter.
Das Manöver der Melissa Davion hatte
die kleinere Korvette beschädigt, aber auch die Fahrt des Kreuzers
aufgezehrt, und über mehrere lange, entscheidende Sekunden hing das
Schiff bewegungslos im All. Siddig zog die Katrina Steiner quer vor seinem Bug vorbei und nahm
Kurs auf die Bauchseite des Rebellenschiffs.
»Haupttriebwerke abschalten«, rief er dem Steuermann zu. »Aufwärts
zehn und Rolle neunzig.«
»Haupttriebwerke dunkel«, kam die Antwort. »Beidrehen für
Breitseite, Aye-aye.« Der Offizier gab die Befehle an die
Steuertriebwerke im Bug und Heck des Schiffes weiter und drehte die
Korvette, bis sie in nur zwei Kilometern Abstand parallel zur
Bauchseite der Melissa Davion an dem
größeren Kriegsschiff vorbeizog.
»Feuer!«, befahl Siddig. Die Armierungsoffizierin hatte den Befehl
zwar mit Sicherheit schon weitergegeben, bevor er ihn ausgesprochen
hatte, gelegentlich musste er die Brückenmannschaft aber daran
erinnern, wer auf diesem Schiff das Sagen hatte.
»Breitseite feuert.«
Die Hauptschirme flackerten bei jeder neuen Salve, die den Kreuzer
traf und die Korvette durchschüttelte, kurz. Wütend über die eigene
Unvorsichtigkeit löste Siddig die Sitzgurte und schwamm halb, halb
stolperte er hinüber zur Waffenkonsole. Ohne den Schub der
Haupttriebwerke herrschte an Bord des Schiffes Schwerelosigkeit. Er
fand einen Halt an der Kante der Computerkonsole und klammerte sich
mit aller Kraft daran fest, während er den Countdown der
Schiffsgeschütze beobachtete, die tonnenschwere Granaten in die
Unterseite des Kreuzers schleuderten. Schiffslaser stießen in die
Breschen und suchten nach wichtigen Bordsystemen. Feuer loderten
kurz in einzelnen Löchern auf, erloschen aus Mangel an Sauerstoff
aber schnell wieder.
»Noch einmal«, bellte Siddig der Armierungsoffizierin ins Ohr.
»Noch eine Breitseite! Steuer, zehn Grad steuerbord. Winkel
halten!«
Aber die Schiffe glitten schnell voneinander weg, als die
Melissa Davion sich weigerte, hinter
der beweglicheren Korvette einzudrehen. Der Schwung der
Katrina Steiner zwang sie an dem
Kreuzer vorbei und der Gegner verschwand aus der Reichweite der
Bordgeschütze. Dafür kam sie jetzt in die Reichweite seiner
Lenkraketen. Drei kurze, harte Schläge erschütterten das Schiff,
und fast hätte Siddig den Halt an der Konsole eingebüßt.
»Wir haben die hinteren Steuerdüsen verloren«, rief der
Steuermann.
»Zwo weitere Raketen im Anflug, fünfzehn Sekunden zum Einschlag«,
rief die Ortungsoffizierin. »Kreuzer dreht noch nicht - noch
nicht - bei.«
Siddig stieß sich ab und schwebte mit geübter Leichtigkeit zurück
an seinen Platz. Er drehte sich im Flug und landete beinahe
perfekt. »Triebwerke einschalten. Manövrieren mit
Bugdüsen.«
»Brücke, hier Schadenskontrolle.« Die Stimme, die aus der
Bordsprechanlage drang, war nicht die von Oberleutnant Charles,
Siddigs Schadenskontrolloffizier. »Die Haupttriebwerke sind
ausgefallen.«
Zwei weitere heftige Schläge erschütterten das Schiff, als die
Abschiedssalve der Melissa Davion
mittschiffs einschlug. Siddig stieß einen Knopf auf seiner
Sprechanlage bis in die Fassung. »Wer spricht da? Und ich rate
Ihnen, genau zu wissen, was mit meinen
Triebwerken los ist.«
»Chief Sorence hier, Käpt'n«, meldete sich der Sprecher. »Der SKO
arbeitet an dem Problem. Sieht aus, als hätte die letzte Salve die
Eindämmungssysteme beschädigt, und die Schutzautomatik ist
angesprungen.«
Das war eine sehr gelassene Art auszudrücken, dass die Katrina Steiner tot im All hing und sich daran
möglicherweise auf Stunden nichts ändern würde. Der Bordingenieur
hatte es zwar als Möglichkeit formuliert, doch sein Tonfall machte
es zu einer Feststellung.
Siddig schlug frustriert mit der flachen Hand auf die Armstütze.
Sein Schiff war verkrüppelt, seine sorgsam ausgearbeitete Strategie
über den Haufen geworfen, und er sah vor seinem inneren Auge, wie
die Melissa Davion gemächlich
beidrehte, um die Katrina Steiner und
ihre Crew zu vernichten. Siddig griff nach dem Kommset und
unterbrach die Lautsprecherverbindung.
»Können Sie die Triebwerke auch ohne Schutzautomatik starten?«,
fragte er mit gedämpfter Stimme. Zwei Offiziere in seiner Nähe
wechselten besorgte Blicke. Wütend scheuchte Siddig sie zurück an
die Arbeit und wartete auf die Antwort vom Maschinenraum.
»Möglich ist es«, erklärte Sorence nach langer Pause. »Ja, Käpt'n.
Aber unter den Umständen würde jeder ernsthafte Schaden am Reaktor
oder einem seiner Hilfssysteme unser
aller Laufbahn ein jähes Ende bereiten.« Wie um die Warnung zu
unterstreichen, erzitterte die Katrina
Steiner unter einem neuen Jägerangriff. »Ich würde maximal
zwei G Schub empfehlen.«
»Dann machen Sie's«, befahl Siddig. »Geben Sie mir, so viel Sie
können.« Er riss sich das Kommset vom Kopf und rammte es zurück an
seinen Platz, ohne sich darum zu kümmern, dass er sich dabei den
Knöchel aufriss.
»Käpt'n«, rief die Ortungsoffizierin. »Ich zeichne neue Signale.
Mehrere von der planetaren Oberfläche aufsteigende Kontakte. Fünf,
möglicherweise sechs Landungsschiffe in enger Formation. Schwere
Jägereskorte.«
»Was soll das wohl werden?«, fragte Franklin, der herüberschwebte
und sich mit einer Hand an der Rückenlehne des Kapitänssessels
festhielt.
»Kann alles Mögliche sein, von einem Nachschubflug bis zu
Verstärkungen für den Kampf gegen uns.« Siddig schüttelte den Kopf
und verfluchte Prinz Victor innerlich. Aber mit oder ohne diese
Landungsschiffe stand sein Weg fest.
»Steuermann, Kurs zum Zenitpunkt anlegen. Einen Systemsprung
vorbereiten, falls der Kreuzer uns folgt. Komm! Alle Jäger und
Landungsschiffe zurückrufen!« Seine Entscheidung war gefallen und
Siddigs Stimme gewann neue Kraft. »Ich will einen Schirm zwischen
uns und der Melissa, der dicht genug
ist, um einen Sperber nervös zu machen.
Bewegung, Leute.«
»Wir fliehen?«, fragte Franklin.
»Wir ziehen uns zum Sprungpunkt zurück«, korrigierte Siddig seinen
Stellvertreter. »Wir sind so gut wie manövrierunfähig, Jerry. Und
selbst mit intakten Triebwerken könnten wir es ohne erfahrene
Luft/Raum-Unterstützung gegen diesen verdammten Kreuzer nicht
aufnehmen. Unterstützung, von der wir auf absehbare Zeit nur
träumen können.« Er beobachtete über den flackernden Hauptschirm,
wie sich seine Hilfstruppen zu einer schützenden Blockade
formierten.
»Es wird Zeit, einen strategischen Rückzug anzutreten und den Kampf
auf später zu verschieben«, stellte er leise fest. »Was auch immer
da unten auf Tikonov abläuft, wir können Generalleutnant McDonald
nicht mehr helfen.«