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Winterpalast, Dormuth, Marik
Marik-Commonwealth, Liga Freier Welten

 

7. November 3064

Katrina Steiner-Davion legte die gefalteten Hände auf die kühle Marmorplatte des Tisches, und ein langer, weiß lackierter Fingernagel klopfte im Takt der Schritte der Soldaten, die im Paradeschritt die Fahnen der stimmberechtigten Ratsmitglieder durch den Saal trugen, auf den Stein. Fünf Fahnen. Fünf Stimmen. Deshalb war sie hier. Ihre einzige Sorge bestand darin, sich genug dieser Stimmen zu sichern, um Erste Lady zu werden. Ihrer Zählung nach hatte sie die Wahl bereits gewonnen.

Sie bemerkte, dass Thomas Marik wenig Aufwand darauf verwendet hatte, den Saal für die Konferenz des Hohen Rats umzubauen. Er war etwas kleiner als der Ballsaal, den sie auf Tharkad dafür hatte herrichten lassen. Seine Architektur war funktioneller als die Kuppeldecken und Stützbögen, die Katrina gewohnt war. Aber das passte zum Winterpalast Mariks, der sich vor allem durch seine bunkerartige Konstruktion auszeichnete.

Acht lange Tische waren im Rund aufgestellt. Über den sechs besetzten Tischen hing das Banner der betreffenden Nation oder Organisation. Der freie Tisch bei der Tür diente nur als Basis für das Rednerpult. Der andere freie Tisch sollte später besetzt werden, wenn der Sternenbund sein erstes Neumitglied auf Probe akzeptierte.

Rechts vom Rednertisch, unter dem Drachenmond des Draconis-Kombinats, saß Theodore Kurita, der diese Konferenz als amtierender Erster Lord leitete. Sein Sohn und Erbe Hohiro war als amtierender Kommandierender General der SternenbundVerteidigungsstreitkräfte anwesend. Zwei weitere Offiziere begleiteten sie. Am nächsten Tisch saß, unter dem Adler der Liga Freier Welten, Thomas Marik. Er wurde von seiner Frau und irgendeinem hochrangigen Blakes-Wort-Präzentor begleitet. Darauf folgte ein Tisch für den neu gewählten Prinsregent Christian Månsdotter und seine Delegation, die Repräsentanten der Überreste der Freien Republik Rasalhaag. Der größte Teil der früheren Rasalhaager Systeme war noch von den Clans besetzt, und ComStar beschützte den kärglichen Rest.

Katrina hatte den Tisch genau gegenüber dem Rednerpult erhalten, unter einem langen Banner, das die gepanzerte Faust der Lyranischen Allianz und das Sonnenschwert der Vereinigten Sonnen trug. Sie hatte sich überlegt, die Sonnenfaust des Vereinigten Commonwealth zu führen, unter der beide Reiche vereint gewesen waren. Andererseits hatte der crucische Teil des Reiches dieses Wappen nach der Abspaltung der Allianz beibehalten, bis sie sich vor kurzem entschieden hatte, dessen Sonnenschwertwappen für sich zu reklamieren. Da Victor den Bürgerkrieg in der Uniform der Vereinigten Sonnen führte, war ihr das als ein guter Schachzug erschienen. Schließlich hatte sie sich dazu entschlossen, beide Nationen separat aufzuführen. Sie hatte nur Nondi Steiner - als Generalin des Heeres der Allianz und ihre Regentin im lyranischen Raum - gestattet, neben ihr Platz zu nehmen.

Zu ihrer Linken stand der zweite leere Tisch, und neben ihm der Haus Liaos. Zwei der bei Sun-Tzu sitzenden Fürsten beäugten gierig die freien Plätze. Der capellanische Tisch war mit sechs Personen so überfüllt, dass er die Balance des Raums störte. Neben Candace Liao und Morgan Kell hatte der Kanzler einen seiner Kriegerhaus-Meister, Naomi Centrella aus dem Magistrat Canopus und Grover Shraplen aus dem Tauruskonkordat als Begleiter.

Die ComStar-Delegation schließlich saß am Tisch links vom Rednerpult. Als die Organisation, die in der Inneren Sphäre am ehesten als neutral bezeichnet werden konnte, war ComStar nominell ein nicht stimmberechtigtes Mitglied des Sternenbunds und leitete alle Debatten, an denen Theodore Kurita nicht als Erster Lord, sondern in Vertretung seiner eigenen Nation teilnahm. ComStar hatte zudem die entscheidende Stimme für den Fall eines Abstimmungspatts, was bei fünf stimmberechtigten Mitgliedern aber unwahrscheinlich war. Unter dem ComStar-Banner saß Gavin Dow und sonnte sich in der neu gewonnenen politischen Macht, die Victor ihm übergeben hatte. Er wurde nur von Gardner Riis begleitet, der als Präzentor Orestes im Ersten Bereich des Ordens die Freie Republik Rasalhaag vertrat. Eine interessante Wahl, dachte Katrina, und nahm sich vor, darauf zu achten, welches Spiel Dow plante.

Natürlich würde sie alle beobachten. Nichts durfte ihre Wahl diesmal verhindern. Nicht Dow, und auch nicht ihr Bruder, der auf der in zwei langen Reihen hinter ihrem Tisch arrangierten Galerie saß. Aber diesmal hatte Victor keine Chance, ihr Vorhaben zu durchkreuzen. Er hatte keinen Status im Rat, und Katrina würde jeden Versuch Theodore Kuritas abblocken, ihm eine Stimme zu geben. Victor war es zweimal gelungen, ihre Wahl zu blockieren. Diesmal würde er ihren Triumph miterleben.

Fünf Stimmen. Von denen sie nur drei benötigte, um die Wahl zu gewinnen. Theodore würde natürlich gegen sie stimmen. Månsdotter war eine Unbekannte in dieser Gleichung, doch er spielte keine Rolle, solange sie die Unterstützung Thomas Mariks und SunTzu Liaos hatte. Beide waren ihr auf unterschiedliche Weise verpflichtet, in Bindungen, die sie in der kommenden Woche erneuern und festigen würde, bis diese beiden Stimmen garantiert waren.

Katrina lächelte, als die Fahnenträger sich an die Rückwand der Zuschauergalerie zurückzogen und Theodore Kurita sich erhob, um die WhittingKonferenz formell zu eröffnen.

Es wurde Zeit, sich dem Geschäftlichen zu widmen.

 

* * *

Wie es sich ergab, verlangte bis zum Nachmittag nichts Katrinas besondere Aufmerksamkeit. Theodores Rede zur Lage des Sternenbunds war kurz und oberflächlich. Er riss mehrere Diskussionspunkte kurz an, dann übergab er das Mikrofon General Edwin Amis, Hohiros wichtigstem Stellvertreter bei den Sternenbund-Verteidigungsstreitkräften. Amis' Bereitschaftsbericht enthielt nur einen einzigen Punkt, den sie nicht schon aus den Berichten ihrer eigenen Militärs kannte, die Mitteilung, dass die SBVS die 71. Leichte Eridani-Reiterei in den Clan-Raum verlegte, um die 151. auf dem SternenbundAußenposten Diana abzulösen.

Eine unerwartete, aber keineswegs beunruhigende Mitteilung.
»Falls niemand eine Frage an General Amis hat«, sagte Theodore Kurita, und seine dunklen, traurigen Augen glitten über die Versammlung, »können wir zum letzten Tagungsordnungspunkt für heute kommen. Anträge auf Aufnahme neuer Mitglieder in den Sternenbund.«
Katrina beobachtete ihn genau und sah die Spuren der Belastung, die er so mannhaft zu verbergen suchte. Das letzte Jahr war für den in die Jahre kommenden Theodore nicht gerade leicht gewesen. Erst die brutalen Angriffe auf sein Reich durch Clan Geisterbär und die Vereinigten Sonnen, dann der Tod seiner Frau. All das schien ihn noch schwerer getroffen zu haben, als sie erwartet hätte. Katrina fragte sich, ob sie das ausnutzen könnte, ihn von ihrem Bruder zu entzweien, doch ihr war klar, dass diese Idee kaum Aussicht auf Erfolg hatte.
»Ich habe drei Anträge auf Mitgliedschaft für die Vorlage vor den Rat genehmigt. Einer von Blakes Wort, unterstützt von der Liga Freier Welten, und je einer von zwei Peripheriestaaten, beide unterstützt von Sun-Tzu Liao und der Konföderation Capella.«
Nondi Steiner beugte sich zu Katrina hinüber. »Parasiten und Trittbrettfahrer«, zischte sie. Katrina bemerkte einen schrägen Blick Christian Månsdotters, der den Kommentar offenkundig gehört hatte.
Sie teilte die Meinung ihrer Tante nicht, die das ganze Universum aus fanatischer Steiner-Sicht betrachtete. »Die Mitglieder auf Probe in diesem Rat sind die entscheidenden Stimmen im nächsten«, erinnerte sie Nondi und achtete sorgfältiger auf die Lautstärke ihrer Antwort. Die neuen Mitglieder konnten Sun-Tzu einen beachtlichen Machtblock aus drei von acht Stimmen verschaffen. Nicht genug, um jeden Vorschlag automatisch durchzubringen, aber genug, alles abzuschmettern, was nicht die einstimmige Unterstützung aller anderen Mitglieder bekam. Katrina wusste: Die Macht, abzulehnen, war häufig wichtiger als die Macht, zu gewähren, eine Maxime, die ihr selbst schon gute Dienste geleistet hatte, wenn sie Lieferprobleme benutzt hatte, um widerspenstige Adlige zur Raison zu bringen.
Sun-Tzu stand auf und erhielt das Wort. Er hatte heute sichtlich Sorgfalt auf sein Erscheinen verwendet, in Vorbereitung darauf, seine Argumente vortragen zu müssen. Er trug einen mitternachtsblauen Anzug in asiatischem Stil, mit goldener Drachenstickerei entlang beider Ärmel. Seine grünen Augen glitzerten, als er zum Rat sprach.
»Wir alle erinnern uns an Anastasius Focht als den ehrenhaften und langjährigen Präzentor Martialum ComStars«, setzte er an, und Katrina lächelte. In einem Atemzug hatte Sun-Tzu Victors kurze Amtszeit als Martialum abgewertet und Gavin Dow praktisch herausgefordert, das Amt zu behalten. »Hätten wir ohne Focht die Clans stoppen können? Und wo wäre mein Reich heute ohne ihn? Focht kam im vergangenen Jahr in die Konföderation und arbeitete gemeinsam mit mir gewissenhaft an der endgültigen Wiederaufnahme der Kommunalität St. Ives in die Konföderation Capella. Für diesen selbstlosen Akt kann ich ihm nicht genug danken. Ich wünsche ihm in seinem Ruhestand alles Gute. Aber noch ist ein Versprechen offen, das er mir und meinen Verbündeten im Namen des Sternenbunds gemacht hat. Der Erste Lord Kurita hat sich bereit erklärt, dieses Versprechen zu ehren, und nun bitte ich Sie alle, dies ebenfalls zu tun. Sie wissen von meinem formellen Bündnis mit zwei Peripheriestaaten, dem Magistrat Canopus«, er nickte Naomi Centrella, der Tochter der Magestrix zu, »und dem Tauruskonkordat.« Reichsverweser Grover Shraplen richtete sich in militärisch steifer Haltung auf. »Indem sie sich in diesem Dreierbund mit mir zusammengefunden haben, haben sie gleichzeitig einen Wunsch nach engeren Beziehungen zur Inneren Sphäre ausgedrückt. Beide werden starke Mitgliedsnationen des Sternenbunds werden.« Sun-Tzu machte eine Pause und schaute zu Katrina hinüber. »Ja, Prinzessin Katrina?«
Katrina war aufgestanden. Es ärgerte sie, dass Sun-Tzu ihren lyranischen Titel unterschlagen und damit in den Augen seiner Verbündeten unterstrichen hatte, dass sie die Tochter Hanse Davions und Herrscherin der Vereinigten Sonnen war. Obwohl ihr das später bei den Debatten über Victors Krieg helfen würde, wirkte es sich hier und jetzt zu ihrem Schaden aus. Das Magistrat Canopus und erst recht das Tauruskonkordat waren keine Freunde Haus Davions. Das Konkordat insbesondere war bekannt für seine Angst vor den Expansionsbestrebungen Davions.
Sie würde mit Bedacht vorgehen müssen.
»Ohne Ihre Verbündeten in irgendeiner Weise beleidigen zu wollen, Kanzler Liao, muss ich Ihren Einschätzungen in einem Punkt widersprechen.«
Eine von Sun-Tzus dünnen Augenbrauen hob sich leicht. »Und der wäre?«
»Sie werden nicht beide Mitgliedsnationen werden können. Nicht jetzt. Was immer Sie ihnen versprochen haben, die Verfahrensregeln sind in diesem Punkt eindeutig. Sie dürfen nur zur Abstimmung über einen einzigen Antrag aufrufen. Soweit ich mich entsinne, wurde diese Regelung sogar auf Ihr Drängen hin in die Geschäftsordnung aufgenommen, um zu verhindern, dass eine Nation einen übergroßen Einfluss auf den Sternenbund nehmen kann.«
»Ah ja, Sie haben Recht, Prinzessin Katrina. Angesichts der Möglichkeit einer weiteren Aufsplitterung des Vereinigten Commonwealth war meine Nation in Sorge, die Steiner-Davions und ihre Freunde könnten plötzlich in drei oder sogar vier verschiedenen Reichen die Regierung stellen.«
Es kostete Katrina ihre ganze Willenskraft, nicht ausfallend zu werden, aber eine Spur von Frost in ihrer Stimme konnte sie nicht unterdrücken. »Es freut mich, Ihnen beweisen zu können, wie unberechtigt diese Sorge war.«
»Da bin ich sicher.« Sun-Tzu verbeugte sich leicht in ihre Richtung und legte die Fingerspitzen aufeinander. »Aber das ist ohne Bedeutung. Ich wollte nicht andeuten, dass ich beide Nationen für die sofortige Aufnahme in den Sternenbund vorschlage, nur, dass ich die Aufnahme beider begrüße.« Er schaute hinüber zum Ersten Lord Kurita. »Unsere Übereinkunft, wenn ich mich recht entsinne, war, dass Ihr die Aufnahme eines beliebigen meiner Verbündeten unterstützt.«
Theodore nickte, und Katrina wollte sich wieder setzen. Trotz Sun-Tzus offensichtlicher Intrigen hatte sie ihn zumindest gezwungen, sich auf eine Nominierung zu beschränken. Sie ging davon aus, dass diese für das Magistrat gelten würde, seinen engeren Verbündeten und aus ihrer Sicht das kleinere Übel. Dass Sun-Tzu seine Hand mit vertrauter Leichtigkeit auf Naomi Centrellas Schulter legte, bestätigte ihre Überlegung.
»Deshalb nominiere ich das Tauruskonkordat für eine Probe-Mitgliedschaft im Sternenbund«, erklärte Sun-Tzu.
Die Worte erwischten Katrina noch halb stehend, halb schon sitzend, und ließen sie einen Pulsschlag lang erstarren, während sich die Szene unauslöschlich in ihre Erinnerung einbrannte. Die selbstsichere Aura Grover Shraplens, Sun-Tzus stoische Ruhe und die Kraft, mit der er Naomi Centrella auf ihrem Platz hielt. Möglicherweise noch interessanter war der Ausdruck der Berechnung, der den anfänglichen Schock auf der Miene der jungen Canopierin verdrängte, als sie die Meinungsänderung des Kanzlers in Gedanken nachvollzog.
Katrina wünschte ihr in Gedanken mehr Glück als der letzten Frau, die versucht hatte, Sun-Tzu zu durchschauen. Sie nahm mit einer beiläufigen Lokkerheit, die sie ganz und gar nicht fühlte, wieder Platz.
»Das können wir nicht zulassen«, stellte Nondi fest.
Katrina schüttelte leicht den Kopf, als Theodore zur Abstimmung aufrief. »Wir können es nicht verhindern.«
Sun-Tzu musste ihre erste Reaktion eingeplant haben. Er hätte das Konkordat nicht nominiert, wäre er sich der Annahme des Antrags nicht sicher gewesen. Neben seiner Stimme konnte er auf die Thomas Mariks zählen, der lieber die Taurier in Katrinas Hinterhof stärker werden sah als die Canopier in seinem eigenen. Und auf Theodore, der sein Wort gegeben hatte und zudem eine Gelegenheit darin sehen würde, den Vereinigten Sonnen den Überfall auf seine Systeme heimzuzahlen.
»Er hat die nötigen Stimmen«, flüsterte sie, als nach der capellanischen Delegation sie zur Stimmabgabe aufgerufen wurde. Sie stand auf. »Ich unterstütze die Aufnahme des Tauruskonkordats als Mitglied auf Probe voll und ganz«, stellte sie ruhig fest. Als sie sich wieder hingesetzt hatte, nickte sie Sun-Tzu für seinen geschickten Schachzug anerkennend zu. Der junge Kanzler verneigte sich erneut.
Es wurde eine einstimmige Entscheidung, und Grover Shraplen wechselte auf der Stelle an den freien Tisch zwischen Katrina und Sun-Tzu. Ein Militäradjutant kam aus der Galerie herab und nahm neben ihm Platz, und die beiden bedankten sich mit kurzer Verbeugung für den höflichen Beifall, der den Umzug begleitete.
Thomas Marik erhob sich, während Katrina noch ihre Gedanken ordnete. »Erster Lord, wollen wir jetzt auch über den Antrag von Blakes Wort abstimmen?«
»Ich bedaure, Generalhauptmann, aber ich möchte den Antrag von Blakes Wort zurückstellen, bis wir die für diese Woche vorgesehenen Faktenbesprechungen abgeschlossen haben. Vielleicht wären Sie bereit, sich mit mir an Stelle unseres vereinbarten Gesprächs am Zehnten heute Nachmittag zu treffen?« Theodore wartete gerade lange genug für das zögernde Nicken Thomas Mariks. »Gut. In diesem Fall schlage ich vor, dass wir für heute schließen.«
Katrina wartete nicht auf Sun-Tzus Erklärung, obwohl er offensichtlich auf die Gelegenheit aus war, sein Vorgehen im Nachhinein mit ihr zu besprechen. Mit ihm würde sie sich noch früh genug beschäftigen. Erst brauchte sie Zeit, um die Ereignisse dieses Eröffnungstages zu überdenken. Heute mehr als je zuvor musste sie sich ihrer Sache sicher sein. Bereit sein. Damit es keine Überraschungen gab, wenn sie zur Tat schritt.
Diesmal nicht.