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Scorpius Planus, ThubanProvinz Bolan, Lyranische Allianz
11. September 3064
Linda McDonald steuerte ihre Königskrabbe über den Schlot und durch den brühend heißen Dampfvorhang. Die einzigen Auswirkungen waren leichte Kondensation auf dem Kanzeldach und ein kurzer Anstieg der Temperatur. Die Wärmetauscher wurden mit der Hitze schnell fertig, weit besser als noch kurz zuvor in der Schlacht. Da hätte ihr Cockpit jedem Vergleich mit einer Sauna standgehalten, und sie hatte in der schwefelgeschwängerten Luft nach Atem geschnappt. Während sie sich den Schweiß aus den Augen wischte, hatte sie sich geschworen: Falls sie jemals einem Ingenieur begegnete, der an den Lebenserhaltungssystemen von Mechcockpits arbeitete, würde sie ihm einen Drink ausgeben. Mehrere Drinks.
Das war hoch auf dem Scorpius Mons gewesen, Thubams größtem Vulkan. In dieser alles andere als optimalen Umgebung für ein Mechgefecht hatte ihre BefehlsLanze die letzten drei BattleMechs der 23. Arkturusgarde zwischen Dampfschloten und im Wind treibenden Aschewolken gestellt und vernichtet. Es war kaum vorstellbar, dass sie jemals eine Gegend finden würde, die sich besser als Vorhof der Hölle eignete, und sie war selbst der Dämon, der die 23. zur Abrechnung ihrer Sünden gerufen hatte. Diese drei Kampfkolosse würden - wie einer ihrer eigenen Lanze - den Abstieg aus eigener Kraft nicht mehr schaffen. Irgendwann würden die Bergungsteams sie abholen, wenn sie hier unten fertig waren.
Auf den Ebenen, in die sie zurückgekehrt war,
um sich ihren eigenen Dämonen zu stellen.
Scorpius Planus, die Skorpionebene, breitete sich im Westen des
Vulkans aus, flach, grau und ätzend. Hier hatte in den letzten
Wochen der größte Teil der Kämpfe stattgefunden, und hier hatte das
gemischte Bataillon der 23. Arkturus sich zum vorletzten Gefecht
gestellt. Der düstere Himmel, dessen schwere Wolkendecke Regen
versprach, erinnerte McDonald an die gewaltigen Aschewolken
vergangener Tage. Hier lag über allem eine Ascheschicht. Sie trieb
wie trockener, grober Schnee über den Boden und wurde vom Wind
davongetragen. Wenn der Regen fiel, würde er sie in einen dicken,
klebrigen Schlamm verwandeln, der später zu einem zementartigen
Überzug verhärtete.
Nahezu alle der zähen Lebensformen, die hier überleben konnten,
waren giftig. Das erklärte, warum die Mitglieder der Bergungscrews
zusätzlich zu den Filtermasken, die ihnen den Aufenthalt in der
ascheverseuchten Luft ermöglichten, schwere Arbeitshandschuhe und
lederne Armschützer trugen. McDonald bremste den Mech, dann hielt
sie ihn in breitbeiniger Positur an. Sie beobachtete die Teams bei
der Arbeit, wie sie Panzerung und Aktivatoren aus den zwei Lanzen
Mechwracks bargen. Gelegentlich montierten sie komplette Gliedmaßen
ab oder holten einen Kran, um ganze Mechs auf Flachbetttransporter
zu hieven.
Den Panzern wurde weniger Aufmerksamkeit zuteil - gleichzeitig aber
auch mehr. Es fanden sich fast drei Mal so viele Panzer wie Mechs
auf dem Schlachtfeld, doch sie waren völlig zerstört oder so nahe
der kompletten Vernichtung, dass es die Zeit nicht lohnte, in den
Trümmern nach Ersatzteilen zu suchen. Nur Fahrzeuge, die bis auf
fehlende Panzerketten oder Schweberschürzen, vielleicht noch einen
Geschützturm, intakt waren, wurden geborgen.
Aber Panzer enthielten mehr Leichen als Mechs. Die wurden in
schwarze Plastiksäcke verpackt und mit einer gewissen Sorgfalt in
einen wartenden KarnowTransporthubschrauber verladen. Das ging vor
allem McDonald an die Nieren. Sie alle, jeder Einzelne, Freund wie
Feind, waren Lyraner. Und nicht einfach nur Lyraner, sondern
Arkturusgardisten! Die Frostriesen, ein Schwesterregiment der
Goldenen Löwen der 11. Jeder Leichensack, der hier verschlossen,
beschriftet und verladen wurde, enthielt die sterblichen Überreste
eines ihrer Leute oder eines Soldaten, den sie noch vor gar nicht
so langer Zeit als Kameraden begrüßt hätte. Und der Umgang mit den
Gefangenen würde nicht leichter werden. Für jeden in der Schlacht
Gefallenen hatten sie drei Gefangene gemacht.
Hatte Generalleutnant Esteban McDonald deshalb hierher beordert,
hatte er sie deshalb von der Spur der 244. ComGuard-Division
abgezogen und Furillo der LAS Katrina
Steiner übergeben, während McDonald auf Thuban ein
gemischtes Bataillon der 23. Arkturusgarde jagte und
zerschlug?
Die Botschaft war deutlich genug. Mehr brauchte sie nicht, um sich
darüber klar zu werden, was Victor Davion der Lyranischen Allianz
antat. Und sie war es müde. War die Zerstörung müde, die er auf
seinem Weg hinterließ. War die grundlosen Vorwürfe gegen die
Archon-Prinzessin müde, besonders diejenigen, die darauf
hinausliefen, sie hätte die Ermordung ihres Bruders Arthur in die
Wege geleitet. Falls Victor Beweise dafür hatte, die über eine
nette kleine Verschwörungstheorie hinausgingen, warum legte er sie
nicht dem Obersten Gerichtshof vor? Oder seinem Gegenstück in den
Vereinigten Sonnen, vermutlich einer Art arthurischem Ehrengericht,
in dem Konflikte durch einen Lanzengang auf hundert Mechschritte
oder etwas in dieser Art geklärt wurden. Victor hätte seine
Beweise, falls sie existierten, sogar den Medien übergeben können,
oder dem Hohen Rat des neuen Sternenbunds.
Aber das tat er nicht. Und soweit es Linda McDonald betraf, war das
der entscheidende Punkt. Katrina Steiner-Davion mühte sich
selbstlos im Interesse von Milliarden Untertanen ab, während dieser
Krieg nur den Interessen eines einzigen Mannes diente, Victor
Davion. Da er offenbar nicht in der Lage war, seine Anklage zu
beweisen, nahm er Zuflucht zu den Taktiken, die er angeblich
hasste, bei deren Anwendung er sich aber immer wieder von neuem als
Meister erwies. Gewalt. Vernichtung.
McDonald bewegte die Finger der linken Hand, um den Sitz des
Neolederhandschuhs zu verbessern, dann packte sie wieder den
Geschwindigkeitshebel und beschleunigte die Königskrabbe auf langsame Gehgeschwindigkeit. Der
überschwere Kampfkoloss wuchtete mit ausgreifenden Schritten
vorwärts und schleuderte bei jedem Tritt neue Aschewolken
auf.
Aber in der 11. Arkturusgarde hatte Victor einen würdigen Gegner
gefunden. Generalleutnant Maria Esteban übernahm die Strategie,
Oberst Linda McDonald kümmerte sich um die Taktik. Bis jetzt hatte
dieses Gespann Alarion für Victor zu einem Mühlstein gemacht, ihn
auf York geschlagen und seine Truppen dann in den Untergrund
getrieben. Sie würden ihn bis nach New Avalon hetzen, denn
letztlich lief alles darauf hinaus, ob eine Steiner oder ein Davion
auf den Thronen beider Nationen sitzen sollte. Es spielte keine
Rolle, dass sie dieselben Eltern und denselben Namen teilten, ihr
Erbe war deutlich genug für jedermann zu erkennen. Und auch wenn
die Davions möglicherweise die überlegenen Militärführer waren, die
Steiners hatten über die Jahrhunderte bewiesen, dass sie die
gerechteren und besseren Herrscher waren.
Und auch das war für Oberst Linda McDonald ein entscheidender
Punkt.
Ecol City, Thorin
Freedom-Theater, Lyranische Allianz
Die am Südrand Ecol Citys aufragende Granitsteinfestung war der ganze Stolz der planetaren Bevölkerung Thorins. Gut dreihundert Jahre zuvor gebaut, war sie ein echtes Relikt aus den Tagen des ersten Sternenbunds. Im 1. Nachfolgekrieg war sie zwar in Schutt und Asche gelegt worden, aber man hatte sie später als Denkmal wiederaufgebaut, und mit der Wiedergeburt des Sternenbunds war sie als Garnisonsposten erneut in Dienst gestellt worden. Obwohl sie für Sternenbund-Maßstäbe relativ klein war, beherbergte die Festung ein komplettes Bataillon und bot eine befestigte Stellung in der Nähe der planetaren Hauptstadt und des größten Raumhafens.
Rudolf Schakows erster Gedanke, als er sie fünf Tage zuvor gesehen hatte, war der gewesen, dass Cranston Snord wahrscheinlich irgendwie einen Weg gefunden hätte, dieses beeindruckende Bauwerk nach Clinton zu schaffen, um es als neuen Flügel seinem Museum anzuschließen.
»Es behagt mir noch immer nicht«, stellte Tiaret fest. Selbst wenn sie flüsterte, war ihre Stimme fest und tief. Die beiden standen an der Wand eines der Konferenzräume der Festung. Tiaret auf eigenen Wunsch, Schakow, weil alle Sitzplätze bereits von hohen Offizieren und planetaren Adligen belegt waren.
»Ich würde sagen, wir brauchen uns keine großen Sorgen zu machen«, erwiderte er und lies den Blick durch den Raum schweifen. »Dieser Graf Parkinson macht zwar einen durchtriebenen Eindruck auf mich, aber mit dem wirst du fertig.«
Entweder erkannte Tiaret den Humor dieser Bemerkung nicht, oder sie ignorierte ihn bewusst. »Ich beziehe mich auf unsere Anwesenheit hier. Diese Festung ist ein offensichtliches Angriffsziel.« Sie starrte mit strahlend blauen Augen zu ihm herab und forderte ihn heraus, darüber einen Witz zu reißen.
Schakow wurde ernst. Tiarets Besorgnis war kein Ziel für billigen Spott. Sie hatte sich als äußerst wertvoll erwiesen, wenn es um Sicherheitsfragen ging. Trotzdem ... »Niemand weiß, dass wir auf Thorin sind. Noch nicht. Unsere Ablenkungsangriffe haben Katherines Truppen ausschwärmen lassen, um Bolan, Giausar, Tharkad und vor allem Hesperus II zu beschützen.« Er machte eine kurze Denkpause. »Die Bevölkerung steht hinter Victor. Präzentor Irelon und ich haben uns vergewissert, dass die örtlichen ComStar-Stationen auf unserer Seite sind, sodass Gavin Dow zumindest nicht so schnell etwas erfahren dürfte. Ich würde sagen: Wir sind sicher.« Er schaute zum Tisch hinüber, zu Prinz Victor, der gerade mit Jerrard Cranston und Generalkommandantin Nadine Killson in ein Gespräch über die aktuellen Logistikprobleme vertieft war.
Schakow senkte die Stimme. »Außerdem befürchte ich, es könnte uns unsere Stelle kosten, wenn wir versuchen, Victor aus einer Sternenbundfestung in ein anderes Bordell zu verfrachten.«
Ein scharfer Blick von Präzentor Irelon warnte ihn, dass ihre Unterhaltung eine Spur zu laut wurde. Schakow entschuldigte sich mit einem Nicken für sie beide.
»Was, genau, kommt denn nun durch?«, fragte
Victor Jerrard Cranston.
Cranston kratzte sich durch den blonden Bart das Kinn. »Dank Archer
Christiforis Vorarbeit hier haben wir örtliche Kontakte für den
Grundbedarf. Munition, Panzerung, Proviant. Es sind die schwere
Ausrüstung und die Ersatzteile, die uns allmählich ausgehen. Oder
besser gesagt, schnell. Herzog Bradford hat versprochen, sofort
Nachschublinien zwischen Coventry und Thorin aufzubauen. Alarion
wird ein heftigeres Problem, denn Maria Esteban sitzt auf der
Route.«
»Also müssen wir für den Moment mit dem auskommen, was wir
mitgebracht haben«, stellte Nadine Killson fest. »Für meine 23.
Arkturus ist das kein Problem, Hoheit.« Sie senkte den Blick und
schien sich zu schämen, das zugeben zu müssen. »Durch den Verlust
Bataillon Zetas auf Thuban haben wir reichlich Vorrat. Wir könnten
den anderen aushelfen ...«
»Die 6. Lanciers kommen gut zurecht«, erklärte Patricia
Vineman.
Cranston nickte. »Die Auslandslegion könnte mehr Ersatzteile gut
gebrauchen.« Schakow wusste, dass viele der ausländischen Krieger
Victors Aufruf gegen den Wunsch ihrer Heimatregierung gefolgt
waren. Sie hatten wenig mehr als ihre Maschinen - und
Entschlossenheit - mitgebracht.
Er beobachtete, wie Victor das Problem wälzte. Sie hatten auf dem
erstaunlich schnellen Vormarsch durch die Allianz dringend
benötigte Mittel aufgebraucht, und erst recht bei den mehrfachen
Finten, aber diese Ablenkungsmanöver hatten ihnen den Weg durch die Skye-Region
geöffnet. Victors Heer war unbemerkt durch weniger bedeutende oder
verlassene Systeme nach Thorin vorgedrungen, nur einen Sprung vom
Terranischen Korridor entfernt, in Reichweite der Vereinigten
Sonnen.
Nur einen Sprung vor Terra!
Schakow konnte sich den Gedanken nicht verkneifen, dass das
Schicksal ihnen die Chance bot, die Geburtsstätte der Menschheit
von der Besatzung durch Blakes Wort zu befreien. Seit Jahren war
dieser Traum das Leitmotiv der ComGuards, seit die Blakisten
ComStar Terra entrissen und zu ihrem Heerlager umfunktioniert
hatten. Aber er hatte diesen Traum aufgegeben, als er sich Victors
Feldzug anschloss, Katherine vom Thron zu stoßen. Er hatte jetzt
weder das Recht noch die Pflicht, sich mit den Zielen der ComGuards
zu identifizieren.
Alte Loyalitäten ließen sich schwer unterdrücken, aber mit Blakes
Hilfe musste er sie verdrängen. Die Einsatzgruppe würde das
Solsystem nicht angreifen. Sie würde es gar nicht betreten, sondern
es durch unbewohnte Systeme umgehen, um dann in die Vereinigten
Sonnen vorzustoßen wie eine Nadel mit Kurs auf den Eiterherd
Katherine. Das war das dramatische Ereignis, das sie nach York
brauchten, und zu dessen Vorbereitung sie auf Clinton die
Ablenkungsangriffe organisiert hatte. Das war der Grund, aus dem Rudolf Schakow und Des
Prinzen Mannen hier waren.
Ein leises Klopfen an der Tür warnte Tiaret, dass jemand im Gang
stand, und sie schickte Schakow mit einem kurzen Nicken hinaus. Auf
dem Korridor stand ein Techadept der 244. Division, ein Mitglied
der Hilfstruppen, die für die Aufrechterhaltung des
Kommunikationsnetzes verantwortlich waren, das Victor auf seinem
Marsch durchs All folgte. Die Nachricht, die der Adept überbrachte,
war so dringend, dass Schakow kaum wartete, bis er ausgesprochen
hatte, bevor er zurück in den Konferenzraum hastete. Tiaret ließ
ihn ein, und mit drei schnellen Schritten stand er neben
Victor.
Am Ausdruck seines Gesichts las Schakow ab, dass er auf die private
Nachricht hoffte, die er so dringend erwartete. Er schüttelte den
Kopf und brachte den Mund an das Ohr des Prinzen. »Wir haben eine
HPG-Übertragung von Thomas Marik«, raunte er, mehr in dem Versuch,
eine Illusion von Privatsphäre aufzubauen, denn um die Information
wirklich vor den anderen Offizieren geheim zu halten.
Victor nickte. »Ich sehe sie mir später an«, antwortete er leise.
Die Hoffnung in seinen Augen starb und alles Leben schien ihm aus
dem Gesicht zu weichen.
»Nein, Hoheit«, erklärte Schakow, ohne sich aufzurichten. »Ihr
versteht nicht. Es ist keine Nachricht, es ist eine Übertragung.«
Einen Moment lang wirkte Victor verwirrt, dann erhellte Verstehen
seine Miene.
Schakow nickte. »Ja, mein Prinz, der Generalhauptmann der Liga
Freier Welten wartet über eine Direktverbindung im
Nebenzimmer.«
Victor bewegte sich mit gemessenem Schritt. Es drängte ihn zwar, schneller zu gehen, doch er brauchte ein paar Sekunden, um sich innerlich vorzubereiten. Mehr war nicht drin. Thomas Marik warten zu lassen, wagte er nicht. Echtzeit-HPG-Verbindungen waren ebenso problematisch wie außergewöhnlich und kamen nur in dringendsten Notfällen zum Einsatz. Außerdem hatte niemand ahnen können, dass Mariks Liga Freier Welten sich an Katherines HPGBefehlsstrecke angehängt hatte.
Das allein rechtfertigte bereits Victors volle
Aufmerksamkeit.
Die Kommzentrale der Festung war ein kleiner Raum, entwickelt für
die hochmoderne Ausrüstung zur Glanzzeit des ersten Sternenbunds.
Inzwischen nahmen die Geräte auch einen zweiten, angrenzenden Raum
in Beschlag, zu dem man einen Durchgang in die Zwischenwand
gebrochen hatte. Trotzdem wirkte die Zentrale eng. Funktional, aber
eng. So viel in einen so kleinen Bereich gepackte Elektronik
hinterließ einen deutlichen Ozongeruch, der sich beißend auf
Victors Mundschleimhaut legte.
Er fragte nicht lange nach Sicherheitsprotokollen. Er ging davon
aus, dass Des Prinzen Mannen solche Standardvorsichtsmaßnahmen wie
eine grundlegende Verschlüsselung automatisch vornahmen. Außerdem
gab es ohne einen exklusiven Schlüsselcode, auf den sich beide
Parteien vor dem Aufbau der Übertragung einigten, ohnehin keine
wirkliche Abhörsicherheit. Victor trat sofort an den Holoschirm,
aus dem ihn die Augen eines Mannes anblickten, der Hunderte
Lichtjahre entfernt war.
»Generalhauptmann Marik.«
Der Fürst der Liga Freier Welten besaß selbst über eine
HPG-Verbindung noch eine beeindruckende Ausstrahlung. Die rechte
Hälfte seines Gesichts war von einer Tragödie Jahrzehnte zuvor
verunstaltet, doch Thomas trug die Narben wie ein Ehrenzeichen. In
den braunen Augen war nur Entschlossenheit und Intelligenz zu
lesen. ComStar verteufelte Thomas Marik als den ›Exilprimus‹ der
Blakisten, aber Victor ignorierte das, obwohl er dunklere
Geheimnisse dieses Marik kannte als mancher andere.
»Victor«, antwortete Marik, weniger formell, aber nicht sonderlich
freundlich. Dass er weder Rang noch Titel benutzte, deutete für
Victor darauf hin, dass Thomas nicht bereit war, ihn auch nur
annähernd als gleichrangig anzuerkennen. »Ich fasse mich kurz, da
man nie weiß, wie lange eine Verbindung wie diese hält. Ich habe
Ihre Bitte erhalten, an der auf Marik angesetzten
Sternenbund-Konferenz teilnehmen zu dürfen.« Er zog die linke,
nicht von mehreren verhärteten Narben entstellte Augenbraue hoch.
»Warum?«, fragte er knapp.
Victor verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Generalhauptmann,
ich habe Ihnen diese Bitte geschickt, weil die Konferenz in Ihrem
Reich stattfindet und ich hoffe, Sie als Bürgen zu gewinnen.
Theodore Kurita würde mich natürlich mitnehmen, falls ich ihn darum
bitte. Aber ich bin nicht sonderlich interessiert daran, als Teil
der draconischen Delegation einzutreffen. Ich möchte, nein, ich
muss als unabhängige Partei
teilnehmen.«
»Ich habe Ihren Bürgerkrieg nicht anerkannt, Victor, und plane auch
nicht, das zu tun.« Marik unternahm keinen Versuch, sein
Stirnrunzeln zu verbergen. Er rieb sich über die Narben in seinem
Gesicht. »Ich bin mit den Schrecken solcher Konflikte
vertraut.«
»Und ich würde sie außer in den zwingendsten Umständen keinem Reich
wünschen. Sie wissen, dass ich schon einmal für das größere Wohl
der Inneren Sphäre auf den Versuch verzichtet habe, Katherine
abzusetzen. Wir haben auf der WhittingKonferenz von '58 darüber
gesprochen. Glauben Sie mir, ich hätte diesen Schritt jetzt nicht
getan, wenn nicht auch dies für das größere Wohl notwendig gewesen
wäre.«
»Wessen größeres Wohl? Das Ihres Volkes oder Ihr
eigenes?«
»Falls die Möglichkeiten der SEKURA in letzter Zeit nicht
erheblichen Schaden genommen haben, müssen Sie inzwischen mehr
darüber wissen, wie Katherine Yvonne die Macht entwunden hat,
während ich fort war. Und darüber, mit welchen fragwürdigen Mitteln
sie diese Herrschaft seitdem aufrecht erhält.«
Thomas Marik atmete langsam aus, dann gestand er diesen Punkt mit
einem Nicken ein. »Trotzdem, Victor. Sie haben keinerlei
offiziellen Status. Ich werde Sie nicht als ›loyale Opposition‹
gegen Katherines Regierung anerkennen. Ich bezweifle auch stark,
dass Erster Lord Kurita dazu bereit wäre, wenn ich mir die jüngsten
Probleme des Kombinats mit den Vereinigten Sonnen ansehe. Diese
Entscheidung würde als Vorteilsnahme erscheinen.«
Victor lächelte dünn. »Ich habe vor, mich von Katherine anerkennen zu lassen«, stellte er fest
und betonte den Geburtsnamen seiner Schwester. »Sie wird diesen
Bürgerkrieg mit Sicherheit zu einem Thema der Ratsverhandlungen
machen. Das wissen Sie so gut wie ich. Wie unvoreingenommen wird
der Sternenbund dastehen, wenn ich kein Recht erhalte, auf ihre
Anschuldigungen zu antworten?«
»Und falls sie keine vorbringt?«, fragte Marik nach einer kurzen
Pause.
»Ich möchte nur als Zeuge oder für den
Fall teilnehmen, dass Katherine ungerechtfertigte Behauptungen
aufstellt. Darauf haben Sie mein Wort.«
Der Generalhauptmann dachte kurz nach. »Es fällt mir nicht leicht,
Victor, einem Mann Vertrauen entgegenzubringen, der vor Jahren
meinen Sohn als Geisel hielt und später versuchte, ihn durch einen
Doppelgänger zu ersetzen.«
»Ein Fehler, den ich eingesehen und für den ich teuer bezahlt habe,
Thomas. Sie wissen selbst, dass unsere Verantwortung uns
gelegentlich zu Entscheidungen zwingt, auf die wir nicht stolz
sind, und zu Aktionen, die besser nie ans Licht der Öffentlichkeit
gelangen. Irgendwann müssen Sie und ich diesen Zwischenfall
vergessen und uns gegenseitig an unserem Handeln messen.«
Näher war Victor noch nie daran gewesen, Thomas mitzuteilen, dass
er die Wahrheit über ihn kannte. Die Wahrheit, dass Thomas Marik
selbst ein Doppelgänger war, den ComStar noch vor der Reformation
des Ordens chirurgisch hergestellt und auf dem Thron der Liga
Freier Welten platziert hatte. In den Wirren der Spaltung zwischen
ComStar und Blakes Wort war das Wissen um dieses Komplott verloren
gegangen, und Victors Ratgeber hatten es nur durch Zufall entdeckt.
Wäre Marik nicht ein so ausgezeichneter Herrscher gewesen und hätte
die Innere Sphäre nicht Fürsten wie ihn dringend gebraucht, hätte
Victor ihn schon vor langer Zeit bloßgestellt. Aber wie die Dinge
lagen, hatte er darauf verzichtet.
Mariks strenge Miene schien sich zu lockern. »Na schön, Victor. Sie
haben mir einmal vertraut, als der einzige Grund, den Sie dafür
hatten, die Stabilität der Inneren Sphäre war. Obwohl die Gefahr,
mit der Sie rechneten, nie aufgetaucht ist, zumindest in keiner
Form, die eine Bedrohung der Liga Freier Welten darstellte, ist die
Tatsache, dass Sie mir im Vorfeld vertraut haben, es wert,
berücksichtigt zu werden.«
Gesprochen wie ein wahrer Staatsmann,
dachte Victor und nahm sich vor, Thomas' Geheimnis auch weiterhin
zu wahren. Obwohl Marik nicht darüber erhaben war, sich ein paar
persönliche Vorteile zu sichern.
»Ich habe Bedingungen, Victor«, erklärte er und wartete auf ein
Nicken. »Sie werden keine Clanner mitbringen, weder Gefangene noch
Verbündete. Dasselbe gilt für Ihre Division ComStar-Renegaten. Sie
haben keine Erlaubnis, mein Reich zu betreten.«
Victor warf Präzentor Irelon und Demi Schakow einen schrägen Blick
zu. Sie wirkten verärgert, aber nicht überrascht. Zu Tiaret schaute
er sich nicht um. Er wusste, sie würde eine derartige Entscheidung
nicht widerspruchslos akzeptieren. Er würde es später mit ihr
ausdebattieren. Letztlich würde sie zugeben müssen, dass ihre
Gegenwart keinen nennenswerten Unterschied machen würde, sollte
Thomas einen Verrat planen.
»Einverstanden.«
»Und ich erinnere Sie an Ihr Versprechen. Sie mischen sich nicht
ein, falls Sie nicht dazu aufgefordert werden oder Katherines
Verhalten das erfordert. Im Gegenzug erhalten Sie meine Zusage
freien Geleits und begrenzter
Anerkennung.«
»Thomas«, antwortete Victor, »mehr kann ich nicht
verlangen.«
Marik nickte, und das Hologrammbild machte den Insignien von Blakes
Wort Platz, einem Breitschwert, über dessen Heft der Schweifstern
ComStars lag. Sie verblassten schnell zu grauem Flimmern, als die
HPG-Verbindung zusammenbrach. Victor klatschte in die Hände und
rieb sie. Dann hob er die Fingerspitzen ans Kinn und starrte zu
Jerry Cranston hinüber.
»Wir sind soweit«, stellte er fest.
Und dann wurde ihm klar, dass Thomas ihm in Wahrheit noch mehr
zugestanden hatte. Er hätte sich niemals unbeabsichtigt
versprochen, und beinahe war das Victor mehr wert als die Zusage
begrenzter Unterstützung.
Thomas Marik hatte Victors Schwester Katherine genannt.
//Route › Thorin - Dieron - ›Luthien›; Empfänger › Omi Kurita //verschlüsselt//
Liebste Omi,
sechs Monate ohne ein Wort von dir lassen unsere Trennung unerträglich werden. Ich beginne zu zweifeln ob es richtig von mir war, dich von Mogyorod fortzuschicken. Aber die Sorge um deine Sicherheit bleibt noch größer als das Bedürfnis, dich zu sehen und von dir zu hören. Und wärst du hier an meiner Seite, könnte ich mich vielleicht nicht so auf meine Aufgaben konzentrieren, wie es die Bürger der Lyranischen Allianz und der Vereinigten Sonnen verdienen. Es bleibt, wie wir es immer gehalten haben: Unsere Pflicht geht vor, persönliche Wünsche müssen hintantreten.
Trotzdem bleibst du am Vorabend der dritten Whitting-Konferenz in meinen Gedanken an vorderster Stelle, obwohl tausend Probleme mich beschäftigen. Ich freue mich so unbändig darauf, dich auf Marik wiederzusehen, meine Liebe. Wäre es möglich, würde ich jedes Jahr eine Ratssitzung anberaumen, und wenn es nur wäre, um eine Gelegenheit zu arrangieren, bei der wir uns sehen können. Doch ich fürchte, der Sternenbund könnte ein solches Ausmaß ›edler Regierung‹ nicht verkraften, und noch ist er kaum den Kinderschuhen entwachsen. Es ist besser, langsam vorzugehen und Fundamente zu errichten, die unsere Lebzeiten überdauern.
Und ich hoffe inständig, dass uns beiden dies gelungen ist, dass wir ein Fundament für unsere Beziehung aufgebaut habe, das selbst die schlimmsten Stürme überdauert, die das Schicksal uns in den Weg wirft. Wenn ich mich an die Prüfungen erinnere, die wir bereits überstanden haben, glaube ich fest daran. Und ich träume von der Zeit, wenn wir wieder über das Versprechen reden können, das du mir auf Mogyorod gabst. Für dich bin ich jederzeit bereit, Schwierigkeiten auf mich zu nehmen, ganz gleich, welcher Art sie auch sein mögen.
In inniger Liebe,Victor
- Text der Botschaft
CS-Thrn-10/10/64-lD91F, nicht zugestellt;
Andruck autorisiert von Gavin Dow,