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Crescent Harbor, New Exford
Arc-Royal-Defensivkordon, Lyranische Allianz

 

6. November 3064

Von ihrem Ausguck im zweiten Stock beobachtete Francesca Jenkins durch ein Nachtsichtgerät, wie die beiden schwarz gekleideten Gestalten durch die Schatten über die Straße auf das State-of-the-ArtGalerie-und-Cafe zuschlichen. Sie schwenkte das Sichtgerät in einem kurzen Bogen und bemerkte noch mindestens zwei weitere Teams. Sie waren weder für die nächtliche Kühle noch dem regennassen Pflaster entsprechend gekleidet, aber niemand stolperte, rutschte aus oder zitterte. Profis, allesamt. Ohne Zweifel trugen sie die modernsten Schleichanzüge.

»Sie sagten, ich würde Sie nie wiedersehen«, beschwerte sich Mr. Archie hinter ihr, aber Francesca ignorierte ihn.

Unter ihr näherten sich die lyranischen Agenten weiter von drei Seiten der Galerie. Natürlich behielten sie dabei die Umgebung im Auge, auch das Bürogebäude, in dem sie und Curaitis auf Posten gegangen waren, doch das war nicht genug. Nicht, wenn die Opposition vorgewarnt war.

Sie zog sich langsam vom offenen Fenster zurück, aus dem schwachen Licht, das vom sternenklaren Nachthimmel über Crescent Harbor ins Zimmer fiel. Curaitis trat von links heran. Er hielt ein Luftgewehr senkrecht in der Hand.

»Drei Teams«, flüsterte sie. »Standard-zweiMann-Posten im Norden, Osten und Süden. Sie dringen von der Hafenseite im Osten ein.« Sie dachte kurz nach. »Den besten Schuss haben Sie auf die beiden am Eingang zur Hintergasse, zwei Uhr tief.«

Curaitis nickte und senkte das Gewehr in Schussposition, bevor er es zum Fenster drehte. Die Mündung hielt er innerhalb des Rahmens, was es außer mit einem Infrarotsucher beinahe unmöglich machte, ihn zu entdecken.

»Wir hatten eine Vereinbarung«, winselte Mr. Archie. Diesmal warf Francesca ihm einen kurzen Blick zu. Er stand an der offenen Tür des abgedunkelten Zimmers, ein grauer Mann in einem grauen Anzug, kaum mehr als ein Schatten.

»Hätten Sie es vorgezogen, wenn wir nicht zurückgekommen wären?«, fragte sie. »Ich glaube kaum, dass die Agenten da draußen hier sind, um in Ihre Sammlung zu investieren.«

Mr. Archie verlagerte unbehaglich das Gewicht. Er war Kunstexperte, kein Geheimagent. Ein Großteil seines Rufes als New Exfords letzte Instanz dafür, was ›Kunst‹ war und was nicht, verdankte er der Entdeckung und dem Exklusivvertrag mit Reginald Starling. Er hatte sich gerne bereit erklärt, an der Scharade mitzuwirken und Reg Starlings Überleben vorzutäuschen. Dabei war es jedoch um Geld und Ansehen gegangen, und es hatte nicht mehr von ihm erfordert, als die Presse und die kaufwillige Öffentlichkeit anzulügen. Darin besaß er jahrelange Erfahrung.

»Aber zuzulassen, dass sie meine Galerie zerstören?« In selbstgerechter Empörung wurde er eine Spur zu laut, und Francesca brachte ihn mit einem eisigen Blick dazu, leiser zu sprechen. »Ich habe das Lebenswerk einiger großartiger Maler dort unten.«

Curaitis stand noch immer wie ein düsterer Racheengel am Fenster und wartete. Francesca zählte leise bis zehn, um sich zu beruhigen. »Wenn Sie mir in die Augen sehen und mir sagen können, dass Sie die meisten dieser Bilder nicht längst für einen hübschen kleinen Versicherungsbetrug in Sicherheit geschafft und durch billige Kopien ersetzt haben, Arch, dann reden wir möglicherweise über Kosten.«

Stille. Dann: »Ich glaube, ich warte im Nebenzimmer«, erklärte Archie. Er verschwand in den Empfangsbereich.

»Gute Idee.«

Das Scheppern berstender Fenster und das Aufflackern eines orangeroten Lichtscheins schnitt jede weitere Unterhaltung ab, als die Kunstgalerie auf der anderen Seite des Platzes explodierte. Mit einem schnellen Satz war Francesca wieder am Fenster, unmittelbar nachdem die Betäubungspfeile aus Curaitis' zweimal leise aufhustendem Gewehr die ersten beiden LNC-Agenten ausgeschaltet hatten.

»Niemand ist herausgekommen«, stellte Curaitis fest. Seine Stimme war kaum mehr als ein tiefes Knurren. »Sie müssen das Gebäude auf der Westseite verlassen haben.«

Das bedeutete: Die Beobachtungsposten würden sich schnell wieder verteilen. Francesca riss das Nachtsichtgerät an die Augen und suchte nach weiteren Zielen. Die Helligkeit des Feuers war nahe daran, das Gerät wertlos zu machen, aber noch funktionierte es.

»Links, neun Uhr, hinter dem Standbild ... Nein, nicht!« Sie reduzierte die Blende, um den Lichteinfall zu verringern und die Schärfe zu erhöhen. »Sie sind schon auf der Straße.« Sie suchte nach der letzten Gruppe, während der erste Qualm bereits durch das offene Fenster wehte. »Ebenso wie Team drei. Und wenn ich mich nicht irre, zieht einer von ihnen eine Blutspur nach.«

Sie senkte das Sichtgerät, dann drehte sie sich vom Fenster fort und presste den Rücken fest gegen die getäfelte Zimmerwand. »Wir haben Gesellschaft.«

Das tosende Feuer hatte das Geräusch der sich öffnenden Tür des Empfangs übertönt, nicht aber das unverwechselbare Klicken, mit dem sie wieder ins Schloss fiel.

»Arch, lassen Sie die Türe zu«, flüsterte Francesca rau. Curaitis war ihr mehrere Sekunden voraus. Er hielt den Zimmereingang bereits im Visier des Betäubungsgewehrs, noch bevor Mr. Archie einen zweiten Mann hereinführte.

Der Fremde war kleiner als Archie oder Curaitis und trug einen alltäglichen Geschäftsanzug. Er hätte der Besitzer des Büros sein können, der zu später Stunde noch an den Büchern arbeiten wollte. Wäre da nicht die Betäubungsgranate in seiner Hand gewesen. »Der Stift ist gezogen«, stellte er gelassen fest, »und ich habe meine Leute draußen im Flur. Sie sollten mich besser nicht betäuben.«

Francesca spießte Mr. Archie mit einem stechenden Blick auf. »Sie haben uns verkauft?«
Er zuckte die Achseln. »Sie kamen vorbei, kurz nachdem Sie New Exford verlassen haben, und wollten herausfinden, ob Reg Starling wirklich noch lebt.«
»Ohne uns«, bemerkte der Mann im Anzug, »hätten Sie Starlings Wiederauferstehung kaum so lange durchhalten können. Wir haben Ihnen den Rücken freigehalten. Was Loki betrifft, meine ich.«
Diesen Namen erkannte Francesca sofort. Loki war die Terrorabteilung des Lyranischen Nachrichtencorps, eine Spezialabteilung ähnlich den capellanischen Todeskommandos oder den Draconis-EliteSturmtruppen, an deren Aufbau ehemalige LokiAgenten beteiligt gewesen waren. Loki stand im Ruf, gelegentlich über die Stränge zu schlagen, was zum Aufbau einer geheimen Gegenorganisation geführt hatte.
»Heimdall«, sagte Curaitis und schaffte es irgendwie, Verdacht und Gewissheit in einem Atemzug zu kombinieren. Der Mann im Anzug nickte. Francesca entspannte sich, wenn auch nur andeutungsweise. Das wenige, was sie von Heimdall wusste, sprach gegen eine Organisation fanatischer Meuchelmörder. Die Gruppe agierte hinter den Kulissen und war vor allem damit beschäftigt, den Einsatz Lokis bei inneren Angelegenheiten zu bekämpfen. Andererseits war Heimdall eine loyale Opposition lyranischer Patrioten.
Sie versuchte, sich Klarheit zu verschaffen. »Wenn Heimdall uns geholfen hat, Starlings Tod zu verschleiern, dürfen wir dann annehmen, dass Sie uns unterstützen?«
»So einfach ist das nicht, und das wissen Sie auch. Heimdall war nie die homogene Organisation, für die Außenstehende uns gehalten haben. Uns jetzt ist das erst recht so. Unsere Loyalitäten verteilen sich auf Victor und Katrina oder fallen irgendwo dazwischen.«
Francesca nahm es als schlechtes Zeichen, dass der Heimdall-Agent Victors Schwester Katrina nannte. »Da wir noch leben, nehme ich an, Ihre Leute fallen in diesen Mittelbereich.« Falls nicht, würde sie augenblicklich und gewaltsam reagieren müssen. Sie spannte die Muskeln.
Aber er nickte. »Diese Annahme ist korrekt. Und angesichts der drängenderen Probleme durch die Jadefalkenangriffe neigen wir dazu, diese Haltung beizubehalten. Deshalb bin ich hier, um herauszufinden, was genau Sie mit dieser Farce zu erreichen hoffen.«
»Wir haben vor, die Wahrheit herauszufinden«, antwortete Francesca. »Sie ans Tageslicht zu zerren, wo jedermann sie sehen kann. Wenn Sie Starlings jüngste Bilderserie kennen, wissen Sie, wer durch seine weitere Existenz das meiste zu verlieren hat. Helfen Sie uns.«
»Was für eine Art Hilfe stellen Sie sich vor?«
»Nicht mehr als das, was Sie bisher schon getan haben. Hindern Sie das LNC daran, Mr. Archie aufzumischen. Beschützen Sie seine Galerie. Falls möglich, unterstützen Sie die Untersuchung des Brandanschlags von heute Nacht und verkünden Sie deren Ergebnis von den Dächern. Machen Sie Katherine ein wenig nervös.«
Der Heimdall-Agent fixierte Francesca und Curaitis mit ungläubigem Blick. »Das kann man kaum als unvoreingenommene Nachforschung bezeichnen.«
»Da haben Sie Recht«, gestand sie ihm zu. »Sie ist voreingenommen. Aber was glauben Sie, wer für dieses kleine Abenteuer heute Nacht verantwortlich war?«
»Es könnte eine unautorisierte Operation gewesen sein. Sie könnte von Nondi Steiner oder einer Menge anderer Personen angeordnet worden sein.«
Curaitis schüttelte den Kopf. »Ich verfüge über eine Kopie des Befehls. Er kommt von Katherines persönlichem Geheimdienstoffizier auf New Avalon.«
Der Heimdall-Mann runzelte die Stirn. Als er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, ließ er zum ersten Mal Unbehagen erkennen. Francesca war klar, dass Curaitis einen Volltreffer gelandet hatte. »Was wollen Sie noch, bevor Sie es glauben? Eine Kopie des Befehls mit ihrer persönlichen Unterschrift?«
»Nein«, wehrte der Mann ab. »Nein. Aber es gefällt mir trotzdem nicht, den Archon anzuklagen.«
Francesca deutete mit der Hand zum Fenster, durch das der Feuerschein von der anderen Seite des Platzes fiel. Noch war das Sirenengeheul der Feuerwehrwagen leise, es wurde aber stetig lauter. »Das Lyranische Nachrichtencorps klagt Katherine an. Sie machen es nur bekannt.«
Der Mann dachte eine volle Minute darüber nach, in der sich niemand im Raum bewegte, außer Mr. Archie, der die Arme um den Leib schlang, wie um sich davon zu überzeugen, dass dieses Gespräch tatsächlich stattfand. Francesca wusste nicht, was sie noch vorbringen konnte, um den Mann zu überzeugen, und als sie weiterreden wollte, nur um das Schweigen zu brechen, hielt Curaitis sie mit einem strengen Kopfschütteln auf.
Endlich nickte der Heimdall-Agent und setzte die Granate auf einem nahen Schreibtisch ab. Sie schlug mit einem hohlen Geräusch auf, an dem Francesca erkannte, dass nicht nur der Sicherungsstift fehlte, sondern auch die Ladung. Es war eine Attrappe. Ein Bluff.
»Sagen Sie mir, was genau Sie brauchen«, forderte der Mann.