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Lago Veil, Marik
Marik-Commonwealth, Liga Freier Welten

 

10. November 3064

Die Ozawa-Rickard-Geschäftsräume am Ufer des Lago Veil wirkten auf Victor wie eine angenehme Mischung aus Ruhe und Modernität. Die Arbeitsbereiche waren hell erleuchtet und professionell eingerichtet, und die Angestellten erledigten ihre Aufgaben mit effizienter Entschiedenheit. Zugleich existierten aber auch zahlreiche Entspannungsgelegenheiten, duftende Gärten und Galerien mit den minimalistisch-expressionistischen Gemälden, die zur Zeit auf Marik so beliebt waren, eine Neigung, die, wie es schien, auch von Draconiern geteilt wurde.

Theodore Kurita hatte Iko Ozawa eine gewaltige Ehre zuteil werden lassen, als er sich bereit erklärt hatte, für die Dauer seines Aufenthalts in den Geschäftswohnungen der Firma zu residieren. Die geräumigen Zimmerfluchten nahmen den gesamten zweiten Stock des Gebäudes in Beschlag und waren von so einfacher Eleganz, dass sie sich auch auf Luthien hätten befinden können. Der Parkettboden war auf Hochglanz poliert, und Shojischirme, deren Papierpaneele mit reitenden Samurais, Rudergaleeren vor felsigen Küsten und bildhübschen Geishas bemalt waren, teilten die Räume.

Victor und Theodore saßen auf traditionellen Tatamimatten aus Reisstroh nebeneinander. Ihre Knie lagen auf dünnen Kissen, die den Zug der über Terranorm liegenden Schwerkraft Mariks etwas linderten. Ihnen gegenüber bot eine Glaswand freien Blick über den See. Victor konnte das gegenüberliegende Ufer nicht erkennen, doch Theodore schien es zu sehen, so wie er seinen grünen Tee trank und in die Unendlichkeit blickte. Sie hatten bis zum Treffen kaum noch Zeit, aber das Schweigen lastete schwer auf ihnen. Victor wartete, bis Theodore die Stille brach, indem er die kleine Porzellanschale auf das Tablett stellte.

»Sumimasen, Theodore-sama«, entschuldigte er sich für die Störung. »Es tut mir Leid, Sie in Ihrer Kontemplation zu unterbrechen. Aber darf ich Ihnen zum Ausdruck bringen, wie sehr ich Ihren Verlust bedauere?«

Theodore versteifte sich kaum merklich. Obwohl Tomoe Sakades Seppuku fast ein Jahr her war, belastete ihr Verlust Theodore noch immer. Und Hohiro schien es ebenso zu gehen. Weder Vater noch Sohn hatten sich bisher irgendwie zugänglich gezeigt. Auf dem ersten Abendempfang der Konferenz waren sie so knapp angebunden gewesen, dass man es fast beleidigend hätte nennen können, und außerhalb der Konferenz hatten sie die Gesellschaft anderer gemieden. Victor vermisste die alte Kameradschaft, die Gespräche und das Kampfsporttraining, doch er wollte sich nicht in ihre Trauer drängen. Er hätte sie mit ihnen teilen wollen, wenn sie es erlaubt hatten.

»Ihre Gattin war eine ganz besondere Frau.«

Theodores Blick trübte sich, er schaute beiseite. Es war eine abwehrende Geste, möglicherweise gedacht, den Schmerz zu verbergen oder die Scham darüber, so leicht durchschaut zu werden. Irgendetwas jedenfalls sollte sie verbergen.

Victor nahm seine Trinkschale in beide Hände. »Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
Theodore nickte einmal tief, bis zum Ansatz einer Verbeugung. »Hai, Victor-san. Und ich will Sie nicht beleidigen.« Er schaute fort, blickte wieder hinaus auf den See. »Ich weiß Ihr Beileid zu schätzen. Ich werde es dem Rest meiner Familie übermitteln.«
Victor ergriff die Gelegenheit, die ihm diese Worte boten. »Wie geht es ihnen?«, fragte er. »Minoru? Omi?«
Diesmal schien die Pause länger. »Minoru arbeitet mit den Novakatzen. Sie passen gut zueinander. Ich habe den Eindruck, er hat sie mit seinem ... Verständnis überrascht.«
Victor lächelte. »Minoru entgeht nichts.« Dann wartete er, solange er dazu in der Lage war, bis er schließlich doch nachfragte. »Und Omi?«
»Victor ...« Theodore zupfte an den weiten Ärmeln seiner Robe, dann riss er sich sichtlich zusammen. »Omi ruht in ihrem Palast«, erklärte er schließlich. »Es tut mir Leid, aber ich habe keine persönliche Botschaft von ihr. Ich glaube allerdings, Sie würde wollen, dass Sie sich auf die größeren Aufgaben konzentrieren, die Sie erwarten. Dies ist nicht der Zeitpunkt für eine Ablenkung.«
Was jeder weiteren Diskussion den Weg verbaute. Die beiden Männer warteten, schweigend und in Gedanken vertieft, auf das Eintreffen Thomas Mariks. Victor verbrachte mehrere Minuten mit der Betrachtung einer Teezeremonie auf einem nahen Shoji. In Gedanken glättete er die Züge der weiblichen Samurai, fügte eine Spur von Schalk in ihren Blick und etwas mehr Farbe in die Wangen. Durch halb geschlossene Lider stellte er sich vor, Omi zu sein, wie er sie an einem der zahlreichen Abende vor dem Anschlag auf ihr Leben in Erinnerung hatte, vor dem Tod seines Bruders und dem Chaos, das darauf gefolgt war. Es war fast zwei Jahre her, dass er sie zuletzt gesehen hatte ... ein Jahr, elf Monate, zwei Tage und mehrere Stunden.
Thomas Mariks Erscheinen rettete ihn davor, in Trübsal zu versinken. Wie er es von Omi und Minoru gelernt hatte, verdrängte er seine persönlichen Sorgen in einen abgeschlossenen Teil seines Geistes und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Der Generalhauptmann war von Victors Anwesenheit sichtlich überrascht.
»Sie sind entgegen Ihrem Wort hier, Victor Davion. Keine Einmischung.« Der Generalhauptmann klang eine Spur verletzt.
»Außer ich werde dazu aufgefordert«, erinnerte ihn Victor. Er nahm einen letzten Schluck des leicht bitteren Tees, der inzwischen nur noch lauwarm war. Er stellte die Schale ab und drehte sich um, sodass er dem See den Rücken zuwandte und den Generalhauptmann offen anblickte. »Erster Lord Kurita hat um meine Anwesenheit als Zeuge gebeten.«
Theodore hatte sich ebenfalls umgedreht und verbeugte sich als Gleichrangiger vor dem Mann, der zu gleicher Zeit sein Gastgeber und Gast war. »Das stimmt«, bestätigte er. »Ich schätze Victors Wissen und Erfahrung aus seiner Zeit als Präzentor Martialum ComStars. Oder würden Sie Gavin Dow vorziehen?«
Thomas verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das hier hat also mit dem Antrag von Blakes Wort auf Mitgliedschaft im Sternenbund zu tun?«
»Ja, es gibt ein Problem mit diesem Antrag.«
»Und das wäre?« Der Generalhauptmann hatte entsprechend der draconischen Tradition die Schuhe ausgezogen, war es aber sichtlich nicht gewohnt, auf dem Boden zu sitzen. Er kniete aufrecht und versuchte, eine gerade Haltung zu bewahren, statt sich nach hinten auf die Fersen sinken zu lassen.
»Ohne Umschweife?«, fragte Theodore. »Das Problem sind Sie, Generalhauptmann. Aus demselben Grund, aus dem Katherine Steiner-Davion als Oberhaupt zweier nominell separater Nationen keine zwei Stimmen hat, muss ich dem Rat versichern können, dass Sie dieses Recht ebenso wenig haben.«
Thomas Marik wirkte weder überrascht noch beleidigt. »Ich nehme an, dabei geht es um meine Ernennung zum Exilprimus von Blakes Wort.« Er rieb sich die linke, unvernarbte Seite des Gesichts. »Ich habe dem Orden gestattet, mir diese Ehre zu erweisen, um ihm meine Unterstützung zu zeigen und in einer Krisensituation Mut zu machen. Es hat seine internen Fraktionen daran gehindert, übereinander herzufallen. Und jetzt wollen Sie es gegen ihn verwenden?«
Victor schaute von einem zum anderen. »Es ist nur eine Sorge, Generalhauptmann«, bemerkte er. »Und da wäre noch etwas.«
Marik nickte ihm zu, weiterzusprechen.
»Während meiner aktiven Zeit bei ComStar haben wir Blakes Wort sorgfältig beobachtet. Der Orden hat sich mit unglaublicher Geschwindigkeit ausgebreitet, neue Einrichtungen gebaut, eine ansehnliche Armee aufgestellt, einschließlich neu angeworbener Söldnereinheiten, Welten in den Chaos-Marken und der Peripherie finanziell unterstützt. Selbst mit den Reichtümern, die ihm bei der Eroberung Terras in den Schoß gefallen sind, müsste Blakes Wort eigentlich bankrott sein.«
»Es sei denn, meine Liga Freier Welten unterstützt den Orden finanziell«, erwiderte Thomas zu Theodore gewandt. »Was unter die Regeln für ›unfaire Einflussnahme‹ fiele, die Katrina gegen Sun-Tzu angeführt hat. Ja, ich verstehe Ihre Bedenken, aber ich sehe keine Probleme voraus. Blakes Wort ist eine eigenständige juristische Person, mit einem Leitenden Konklave, in dem ich weder Sitz noch Stimme habe. Ich werde sogar öffentlich jeden Anspruch auf den Titel des Exilprimus aufgeben. Was die finanziellen Belange betrifft«, sprach er mit einem Schulterzucken weiter. »Blakes Wort hat einen lukrativen Vertrag mit der Liga Freier Welten, vergleichbar mit denen, die ComStar mit den meisten anderen Großen Häusern besitzt. Der Orden übernimmt die Verschiffung und den Verkauf des militärischen Überschusses der Liga-Streitkräfte an andere Nationen, wie in der ersten Konferenz des Sternenbunds vereinbart. Das gibt ihm eine Einkommensquelle, deren Umfang Sie möglicherweise nicht angemessen berücksichtigt haben.«
»Können seine Gebühren und die Kommission aus diesen Lieferungen die Differenz in den Büchern wirklich ausgleichen?«, fragte Victor und hob augenblicklich entschuldigend die Hand. »Ich bitte um Verzeihung, Thomas. Ich bin als Zeuge hier, nicht als Fragesteller.«
Thomas' Lächeln war dünn, aber immerhin vorhanden. »Die Frage ist berechtigt, und ich bin sicher, der Erste Lord hätte sie ohnehin gestellt. Aber möglicherweise verfügen Sie nicht über die neuesten Zahlen. Vergessen Sie nicht, dass die Liga Freier Welten über Verträge mit allen Nachfolgerstaaten der Inneren Sphäre verfügt. Diese Verkäufe bieten mehr als genug Möglichkeiten für Gewinn. Oder vielleicht sollte ich sagen, boten mehr als genug Möglichkeiten. Nach der Einstellung der Kampfhandlungen gegen die Clans sinkt das Handelsvolumen. Und außer durch Erfüllung bestehender Verträge habe ich nicht die Absicht, den laufenden Bürgerkrieg zu unterstützen.«
»Bewundernswert«, kommentierte Theodore. »Ich benötige jedoch trotzdem Beweise. Nicht, dass ich Ihr Wort anzweifeln würde, Thomas, nur als Vorkehr gegen mögliche Vorwürfe in der Zukunft. Sie werden ComStar gestatten müssen, Ihre finanziellen Vereinbarungen mit Blakes Wort eingehend zu überprüfen.«
Thomas nickte. »Falls das ermöglicht, den Antrag von Blakes Wort zur Abstimmung zu stellen, habe ich damit keine Probleme.«
Marik antwortete ohne Zögern, was Victor entweder als extremes Selbstvertrauen oder völligen Mangel an Besorgnis auslegte. Würde die ComStarBuchprüfung irgendetwas finden? Sie würden drei Jahre Zeit haben, die Dauer der Probezeit des Ordens. Thomas jedenfalls wirkte unbesorgt, was für ihn sprach.
Fürs Erste entschied Victor, seine Zweifel dem Herrscher der Liga Freier Welten gegenüber auszusetzen.

* * *
Dormuth, Marik
Marik-Commonwealth, Liga Freier Welten

»Eine Buchprüfung? Das hast du zugelassen?«, brach es aus Präzentor William Blane hervor.

Thomas Marik saß seinem Freund an einem kleinen Tisch gegenüber und bemerkte die Zornesröte, die ihm die hohe Stirn emporstieg. Als Anführer der Fraktion der Wahren Gläubigen bei Blakes Wort war Blane der Mann, der Exilprimus hätte werden können. Doch erste politische Streitereien hatten es unmöglich gemacht, sich auf einen Amtsinhaber zu einigen. Thomas Marik den Titel zuzusprechen, war Blanes Kompromissvorschlag gewesen. Er hatte ihn als Vermittler und damit faktischen Anführer des Ordens etabliert.

»Hatte ich eine Wahl?«, fragte Thomas leise und beruhigte seinen Freund. Blane war ein Politiker par excellence. Das bedeutete ein Fundament ihrer langen Freundschaft. Das andere war ihr gemeinsamer Glaube an Jerome Blakes prophetische Weisheit. »Lasst den, der sich vergangen hat, ins Licht treten. Ist seine Sache gerecht, wird es ihn freisprechen.« Das Zitat stammte aus den frühen, unverfälschten Lehren Blakes, bevor die Revisionisten sich daran gemacht hatten, die Worte dieses großen Mannes für ihre Zwecke zu verändern.

Blane lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich schätze, es lässt sich nicht vermeiden.« Er verschränkte die Hände über dem leichten Bauchansatz. »Na schön. Ich setze sofort meine Leute daran. Höchste Dringlichkeit. Mit der Anerkennung durch den Sternenbund wird Blakes Wort endlich offiziellen Status unter den Nationen der Inneren Sphäre erhalten.« Er nickte entschieden, als sei die Sache bereits erledigt. »ComStar wird nichts finden, was eine Beschwerde wert wäre.«

»Bist du sicher, dass es nichts gibt, was sie finden könnten, William, oder nur, dass ihr es tief genug verstecken könnt?« Thomas bemerkte das schuldbewusste Zusammenzucken seines Gegenübers. »Ich bin nicht blind«, fuhr er fort. »Ich wusste, was ihr brauchtet, und war gerne bereit, es euch zu geben, als klar wurde, dass, ComStar in die Hände von Außenstehenden gefallen war.«

»In die Hände von Ketzern und Huren, wolltest du sagen.«
Möglicherweise war Blane doch eine Spur fanatischer als der Generalhauptmann. »Außenstehenden«, wiederholte er. »Focht und Mori. Jerome Blake hat die Wiederkehr des Lichts versprochen, ganz gleich, welcher Verrat oder welche Düsternis uns verschlingt. Ich wusste: Beschreitet Blakes Wort den richtigen Weg, dann werdet ihr euch durchsetzen. Ich habe beiseite geschaut, William, ganz gleich, wie schwer es mir gelegentlich fiel. Wir wissen beide, dass Ihr vor einem gewaltigen Problem steht.«
Blane nickte. »In Ordnung, Thomas. Ich gebe es zu. Wir waren zu drastischen Schritten gezwungen, aber schau dir an, was wir erreicht haben. Das Solsystem ist wieder in unserer Hand. Das allein war schon jedes Risiko wert.« Er wischte die Besorgnis des Generalhauptmanns mit einer lockeren Geste vom Tisch. »Ich würde mein Geld gegen ComStars Buchprüfung jederzeit auf unsere Leute setzen. Sie haben den Glauben. Sie werden siegen.«
»Dann hast du mehr Vertrauen in sie als ich. Letztes Jahr haben mir meine eigenen Buchprüfer die Zahlen vorgelegt. Unsere private Übereinkunft war, dass Ihr zusätzliche drei Prozent über die vereinbarte Kommission hinaus abziehen dürft. Hier und da ein paar zusätzliche Freiheiten habe ich ja erwartet, aber William: Fünfzehn Prozent?«
»Fünfzehn!«, stammelte Blane, dann verstummte er. Seine Lippen bewegten sich, doch über mehrere Sekunden entkam ihnen kein Laut. Seine Reaktion hätte nicht extremer ausfallen können, hätte Thomas ihm mitgeteilt, er wolle wieder ComStar beitreten, um Sharilar Mori zu stützen.
»Nein, Thomas«, erklärte Blane schließlich, als er die Stimme wiedergefunden hatte. »Fünf! Ich schwöre dir, wir haben nicht mehr als fünf genehmigt.« Er setzte sich kerzengerade auf. »Meine persönlichen Akten werden das bestätigen. Wir haben nicht mehr als fünf Prozent an monetären oder materiellen Gewinnen abgezogen.«
Der Generalhauptmann runzelte die Stirn. In Blanes Gesicht stand mehr ehrliche Entschiedenheit geschrieben, als er je gesehen hatte, selbst in hitzigen Debatten über die Worte des Seligen Blake. Es war unmöglich, dass sein Freund ihn belog.
»Dann ...«, setzte er an und unterbrach sich, um kurz nachzudenken. »Dann wurden die Zahlen des Ordens schon bei der Eingabe verfälscht. Läge der Fehler in meinen Büchern, ginge der Irrtum zu Lasten der anderen Seite.«
Blanes haselnussbraune Augen verschleierten sich zweifelnd, aber er schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Wer hätte auch nur theoretisch ...« Er unterbrach sich, und die Angst auf seinen Zügen zeigte, dass er sehr wohl wusste, wer für eine derartige Operation verantwortlich sein konnte. »O verdammt, nein ...«
Voller Angst vor der Erkenntnis, die ihm keine drei Atemzüge vor William Blane gekommen war, akzeptierte der Generalhauptmann den Gedanken mit dem ganzen Widerstreben eines Mannes, der sich einer einzigen, schrecklichen Wahl gegenübersieht. »Es gibt keine andere Möglichkeit«, erklärte er. »Wir haben einen Fehler begangen, William.«
Blane wurde bleich, aschfahl. Der Herrscher der Liga Freier Welten nickte.