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Phönix-Studios, Bremmerton, Upano Provinz Coventry, Lyranische Allianz24. Mai 3064
Das ausgebrannte Bürogebäude war schon seit fast drei Jahren ein städtebaulicher Schandfleck Bremmertons. Die unteren Fenster des breiten, gedrungenen Backsteinbaus waren vernagelt, der Vordereingang durch ein Drahtzauntor gesichert, das mit einem Vorhängeschloss verriegelt war. Brandspuren zogen sich an der ziegelroten Fassade zum 1. Stock und zum teilweise eingestürzten Dach empor. Die oberen, den Elementen offen ausgesetzten Fensterhöhlen starrten leer und düster hinab auf die Straße, und nach heftigen Regenfällen sank immer noch der Geruch von Asche und Holzkohle aus ihnen herab.
Es war nicht leicht gewesen, dafür zu sorgen, dass die Stadt das Gebäude weder saniert noch abgerissen hatte, obwohl es in einem ärmlichen Viertel Bremmertons stand. Es hatte Versprechungen unmittelbar bevorstehender Arbeiten und als Parteispenden und Wohltätigkeit kaschierte Schmiergelder gekostet. Es hatte ein ständiges Erneuern von Arbeitsaufträgen und Renovierungsplänen erfordert, einschließlich einer neunmonatigen Episode, in deren Verlauf sämtliche Möglichkeiten ausgelotet worden waren, den Bau unter Denkmalschutz stellen zu lassen.
Es hatte sich als eine der schwierigeren
Missionen in Francesca Jenkins' Laufbahn erwiesen.
Jetzt war es an der Zeit, den Laden dicht zu machen, wenn auch
nicht aus freiem Entschluss. Francesca überprüfte das
Vorhängeschloss auf Spuren eines Einbruchs, dann gab sie Curaitis
ein Zeichen und ging hinein. Er holte sie im Treppenhaus ein, das
von Schutt verstopft war, und wo sie separat nach Spuren Ausschau
hielten. Sie achteten sorgfältig darauf, jene Stufen zu vermeiden,
die sie als tödliche Fallen präpariert hatten. Nur ein einziger
anderer Mensch kannte alle Fallen, und falls er hier nicht aufgepasst hatte, war alles
vorbei.
Als sie den ersten Stock erreichten, waren die beiden ehemaligen
Agenten des Geheimdienstsekretariats davon überzeugt, dass ihnen
niemand zuvorgekommen war. Francesca nickte Curaitis zufrieden zu.
Er starrte mit unergründlich eisblauen Augen geradewegs durch sie
hindurch. Francesca ließ sich davon nicht stören. Sie hatte sich
daran gewöhnt.
Das Studio war am Ende eines kurzen Flurs versteckt, der von zwei
luftdicht versiegelten Türen abgeschlossen wurde. Es gab keine
Fenster, die eine Bewegung hätten verraten können, keine
Möglichkeit für irgendeinen Beobachter außerhalb, einen Lichtschein
zu bemerken.
Der Schritt durch die zweite Tür schien in eine andere Welt zu
führen. Verkohlter Putz und eingestürzte Balken wichen
Hartholzparkett und getäfelten Wänden unter einer frisch verputzten
Zimmerdecke. Das Großraumappartment bot reichlich Platz für eine
offene Küche, einen Wohnbereich und einen von einem
Shoji-Wandschirm abgetrennten Schlafplatz. Zur Hälfte wurde er von
den Phönix-Studios mit Beschlag belegt, Francescas privater
Bezeichnung für Reginald Starlings neue Heimat. An einer Wand
lehnte ein Stapel leerer Leinwände, und drei mit giftgrünen Tüchern
abgedeckte Staffeleien standen im Zentrum des Freiraums. Der Boden
war mit Farbspritzern bedeckt, und ein Teil der eingetrockneten
Hecken war so dick, dass man darüber hätte stolpern
können.
Der große Valerius schlief noch, obwohl es fast Mittag war, und die
Beleuchtung mit einem voreingestellten Zeitschalter versehen war.
Der Wandschirm stand so, dass er einen Schatten auf das Bett warf,
ein Problem, das Curaitis löste, indem er den Schirm umwarf. Er
knallte laut auf den Holzboden. Der Fleischberg auf dem Bett hüpfte
und bebte wie eine karierte Insel bei einem Beben. Ein fetter Arm
schlug die Decken beiseite, und Valerie Symons' breites Gesicht
starrte zu ihnen hoch.
»Fragen Sie mich lieber nicht, wie wütend ich bin«, herrschte
Francesca ihn an.
Wie die meisten Männer seines Leibesumfangs verfügte auch Symons
über einiges an ungenutzter Kraft. Es war die einzige Erklärung
dafür, wie schnell er seine Massen aus dem Bett heben, die Decken
davonschleudern und den Schlafanzug im Nadelstreifendesign
glattstreifen konnte. Unter dem Flannelstoff wogte das Fett und
erinnerte Francesca an ein schlecht gekleidetes Imitat des
Wackelpuddingmanns aus den Werbeholovids.
»Und Euch ebenfalls einen wunderschönen guten Morgen, edle Dame«,
grummelte Symons schläfrig und vergegenwärtigte sich erst
allmählich, dass er bereits aufgestanden war. Er griff sich ein
Handtuch und rieb sich übers Gesicht. »Ah, und Ihr habt die lebende
Eisskulptur mitgebracht. Wie wunderbar.«
Francesca war nicht in der Stimmung für eine Plauderei. Sie stellte
die Tasche auf den Boden und nickte Curaitis zu. »Klappe, Valerius,
und ziehen Sie sich an. Sie ziehen aus.«
»Aus?« Er starrte von Francesca zu Curaitis. »Aber die Serie ist
noch nicht komplett. Noch drei ›Originale‹ haben Sie gesagt. Wir
haben eine Vereinbarung.«
»Diese Vereinbarung galt unter der Voraussetzung, dass Sie sich an
die zu Ihrer eigenen Sicherheit getroffenen Vorkehrungen halten«,
antwortete Curaitis nüchtern. »Das Gebäude ist nur bei Nacht zu
betreten oder zu verlassen. Niemand darf von Ihrem Aufenthaltsort
erfahren. Und unter keinen Umständen
dürfen Sie auch nur andeuten, dass Reg Starling sich auf Upano
aufhält.«
Symons zuckte zusammen - wie nach einer Ohrfeige. »Na schön, ich
habe ein paar Skizzen früherer Gemälde in der
›Blutprinzessin‹-Serie verkauft. Aber die hätte ich auch durch
meine Verbindungen auf New Exford aufgetrieben haben können.« Er
versuchte, beleidigt zu klingen. »Und bei dem, was Sie mir für
Starling-Meisterwerke zahlen, sehe ich keinen Grund, warum ich
nicht das Recht haben sollte, mir ein wenig dazuzuverdienen. Ich
sehe HoloVid. Diese Gemälde sind auf dem besten Wege, der Renner
auf dem Kunstmark überhaupt zu werden.«
Francesca gab Curaitis ein Zeichen, sich an die Arbeit zu machen.
Er holte einen Kanister aus der Tasche, ging zum Badezimmer und
brach die Sprühdose am Türpfosten auf. Er warf die zischende Dose
in den Raum und schloss die Tür.
»Erstens«, teilte sie Symons mit, »hat Reg bei den seltenen
Gelegenheiten, wenn er Skizzen angefertigt hat, nie zugelassen, dass sie in die Hand von Sammlern
fallen. Er hat sie so bald wie möglich verbrannt. Zweitens spielt
es keine Rolle, ob Sie auf legalem Wege an die Skizzen gelangt sein
könnten. Sie hatten schon auf New
Exford Schwierigkeiten, weil sie Regs Arbeiten fälschten. Wenn Ihr
Name irgendwie mit diesen Bildern in Zusammenhang gebracht wird,
war alles umsonst ...« Sie bückte sich, holte einen Brandsatz aus
der Tasche und wedelte Symons damit vor dem Gesicht herum. »Und
jetzt ziehen Sie sich an.«
»Schon gut«, gab er nach. »Aber würden Sie mich dazu bitte allein
lassen?«
»Ziehen Sie die Sachen über den Schlafanzug. Wir haben zu
arbeiten.« Francesca sammelte die Leinwände in einem lockeren
Haufen auf dem Boden. Die Dämpfe der Sprühdose, die Curaitis ins
Badezimmer geworfen hatte, drangen allmählich durch die Tür in den
Rest des Studios. Dem beißenden Geruch nach zu urteilen handelte es
sich um eine Art Lösungsmittel auf Petroleumbasis. Es stach in der
Nase, und Francesca atmete durch den Mund.
»Was ist das für ein Zeug?«, fragte Symons, einen Arm im
Oberhemd.
»Es legt sich auf alle Ölfarben oder sonstigen Spuren, die Sie hier
hinterlassen haben, und löst sie auf«, erklärte Curaitis. Er ging
in die Küche und öffnete die Türen des Backofens, des Kühlschranks
und der Wandschränke. Dann holte er einen weiteren Brandsatz,
stellte den Zünder ein und befestigte ihn an der
Kühlschranktür.
»Außerdem ist es extrem feuerempfindlich«, fügte er hinzu, und
Symons zog sich schneller an.
Francesca hatte die Tücher von den Staffeleien gezogen und musterte
die Gemälde. Sie war keine Expertin, doch die unfertigen Arbeiten
schienen denen Starlings tatsächlich zu ähneln. Aber Valerius hatte
es geschafft, die Kunstkenner von New Exford zu übertölpeln. Was
hatte sie erwartet? Der Mann war ein selbstgefälliges Schwein, doch
er besaß Talent. Das ließ sich nicht abstreiten.
»Ach, Reg«, flüsterte sie dem Bild vor ihr zu. »Wärst du mit
unserem Plan einverstanden?«
Sie wollte glauben, dass er es gewesen wäre. Francesca hatte viel
Zeit damit zugebracht, Reg Starlings Freundin zu werden, und sie
war einer von einer kleinen Handvoll Menschen in der Inneren
Sphäre, die von dem Vorleben des neogothischen Malers als Sven
Newmark wussten.
Als Adjutant des verblichenen Ryan Steiner hatte Newmark geholfen,
das Attentat auf Melissa SteinerDavion in die Wege zu leiten.
Francesca hatte große Zweifel, dass Newmark ihr gefallen hätte,
doch für den Mann, zu dem er auf der Flucht vor seiner
Vergangenheit geworden war, hatte sie durchaus Sympathien
entwickelt. Als Reg Starling hatte er volle Aufklärung der
Ereignisse um den Clan-Krieg gefordert, einschließlich des Tods
Archon Melissas. Und er hatte die Beweise gehabt, um Katherine der
Mittäterschaft an dem Mordkomplott zu überführen.
Leider hatten Katherines Agenten Reg Starling ebenfalls gefunden
und ihm geholfen, Selbstmord zu
begehen, bevor er sich Francesca ganz offenbaren konnte. Doch
selbst aus dem Jenseits hatte Reg Starling einen langen Arm und
eine trotzige Ader bewiesen. Er hatte dafür gesorgt, dass die
Beweise in Francescas Hand gelangten, und damit inzwischen in die
Prinz Victors. Beweise, an deren Verifizierung sie und Curaitis
jetzt arbeiteten. Der Plan war einfach genug. Sie wollten Katherine
davon überzeugen, dass Starling-Newmark noch lebte, und durch ihre
Anstrengungen, die Beweise zu unterdrücken, sollte sie sich selbst
überführen.
Francesca drückte auf den Auslöser der Sprühdose und behandelte
jedes der Bilder mit einer großzügigen Dosis.
»He!«, schrie Symons. »Das sind sechs Monate Arbeit, die Sie da
zunichte machen. Wir könnten sie mitnehmen.«
»Nein«, widersprach Francesca. »Wir können kein Risiko eingehen,
mit unvollendeten StarlingArbeiten gesehen zu werden. Und würde Reg
fliehen, würde er sichergehen, dass sie restlos vernichtet
sind.«
Sie brach den Sprühkopf von der Dose und warf den zischenden und
spuckenden Behälter in die Mitte des Studios. Dann platzierte sie
eine mit Magnesium durchsetzte Thermitladung auf einer der
Staffeleien. Curaitis stellte eine weitere leckende Sprühdose in
die Küche, warf den letzten Brandsatz auf Symons' Bett und schob
den übergewichtigen Maler aus der Tür.
Francesca öffnete noch eine Dose mit Lösungsmittel und ließ sie vor
der Flurtür zurück. Dann rannten sie nicht zur Treppe, sondern zu
einem Lastenaufzug an der Rückseite des Gebäudes. Francesca riss
die Wartungsluke ab und schloss zwei Drähte kurz.
»Die ganze Zeit gab es hier einen funktionierenden Aufzug?«,
beschwerte Symons sich, als die Kabine sich keuchend abwärts
bewegte. »Das hätten Sie mir auch sagen können.«
»Wir wollten Ihnen das Kommen und Gehen nicht zu einfach machen«,
kommentierte Curaitis und zog einen transparenten Handschuh über.
»Sie hätten unvorsichtig werden können.« Darauf erhielt er keine
Antwort. Er nahm eine Spraydose und sprühte einen öligen Nebel auf
die behandschuhten Finger. Dann rieb er etwas Schmutz vom Boden des
Aufzugs hinein.
»Der Knopf?«, fragte er Francesca.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht so unvorsichtig. Die Rückseite der
Wartungsluke.«
Curaitis befreite die Fingerkuppen auf dem Jakkenärmel vom gröbsten
Dreck, dann packte er das Wartungsblech fest am Rand, sodass die
Kante auf beiden Seiten von den Fingern gehalten wurde. Er gab das
Metallteil wieder frei und rieb die Vorderseite mit dem Ärmel ab.
Die falschen Fingerabdrücke auf der Rückseite blieben zurück. Er
zog den Handschuh wieder aus und steckte ihn ein.
»Erwarten Sie ernsthaft, dass das jemand findet?«, spottete
Symons.
Curaitis warf ihm einen kalten Blick zu. »Ich würde es finden«,
stellte er fest.
Francesca vergewisserte sich durch eine Lücke zwischen den Brettern
vor dem Hintereingang, dass sich niemand auf dem Gelände befand,
dann schloss sie auf und schwang die Fassade auf gut geölten
Scharnieren auf. »Die Luft scheint rein«, erklärte sie. »Wir sind
wohl noch rechtzeitig gekommen.«
»Äh ... passen Sie auf ...« Valerie Symons ließ verlegene Geräusche
hören. »Möglicherweise habe ich meine Dankbarkeit für Ihre
Bemühungen, mir einen Gefängnisaufenthalt zu ersparen, nicht
gebührend ausgedrückt. Oder für die, äh, Arbeit.«
Francesca und Curaitis schauten sich an. Er zuckte die Achseln,
eine seltene Meinungsäußerung des Agenten.
»Geht schon in Ordnung, Valerius«, tätschelte Francesca den
fleischigen Arm des Malers. »Und wir nehmen Ihnen auch die neueste
Aufgabe nicht übel, die Sie uns aufgezwungen haben.«
Der Mann runzelte die Stirn. Er verstand wirklich nicht, um welchen
Einsatz die beiden Agenten spielten. »Was für eine Aufgabe?«,
fragte er.
Sie führten ihn auf die Straße und zu dem wartenden Wagen.
Francesca suchte die Fenster der oberen Etagen und Dächer der
Umgebung ab und verließ sich darauf, dass Curaitis sich um die
Erdgeschosse kümmerte. Sie schob Symons als Ersten durch die Tür,
dann kam sie neben ihn, während Curaitis auf den Fahrersitz
stieg.
»Sie am Leben halten«, antwortete sie und schloss die Wagentür.