Kapitel 7
Kate sitzt auf meiner Türschwelle, jetzt wieder psychedelisch gekleidet und mit einem Buch auf den Knien. Irgendein Wälzer, über dessen Umschlag Drachen tanzen, ihre Schuppen so grell wie das rosaorangefarbene Hemd, das Kate lose um die Schultern fällt. Mit ausdruckslosem Gesicht steht sie auf, um mich zu begrüßen.
Ich will nicht damit konfrontiert werden, was auch immer es ist; will mich mit nichts beschäftigen außer der Flasche Johnnie Walker, die ich unter dem Arm trage. In meinem Magen schwappen bereits ein paar Bier, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Eckkneipe, aber jetzt bin ich bereit, mich mit etwas Handfesterem niederzulassen. Allein.
Ich nicke Kate zu, als ich die Stufen hochsteige. »Ich dachte, du wärst inzwischen auf dem Friedhof.«
Sie rümpft die Nase und zuckt mit den Achseln. Eine dumme Idee, sagt sie, kindische Spiele, und sie will daran keinen Anteil haben. David hat sogar darüber geredet, ein Hexenbrett mitzunehmen, ob ich mir das vorstellen könnte?
Das fällt mir nicht schwer, antworte ich.
Die Eingangstür zu öffnen ist ein Kampf, weil meine im halbbetrunkenen Zustand bereits ungeschickte Hand noch zusätzlich von dem Baumwollverband behindert wird, den Bailey darumgewickelt hat. Ich hatte es strikt abgelehnt, mich ins Krankenhaus bringen zu lassen, hatte sogar abgelehnt, den Hausarzt der Familie zu rufen. Sieht schlimmer aus, als es ist, log ich durch zusammengebissene Zähne, also musste antibiotische Salbe und Pflaster für die schlimmsten Schnitte ausreichen, und das Ganze wurde fest eingewickelt wie ein selbstgemachter Kokon.
»Hier.« Kate nimmt mir den Schlüssel ab und schließt mühelos die Tür auf. »Was ist mit dir passiert?«
»Nichts. Ein Unfall.«
Ich lasse sie mit Mr. Walker und der Madigan-Geheimnis-Kiste in der Küche zurück – »Mach dir einen Tee, ja? Dieses milchige Zeug, das du immer trinkst« –, eile ins Schlafzimmer und stopfe den Umschlag, den Bailey mir gegeben hat, ganz hinten in meine Unterwäscheschublade. Soweit es mich angeht, kann das Geld für immer dort bleiben. Im Moment will ich nicht mal daran denken.
Wieder in der Küche finde ich Kate, die Metallkiste in den Händen, eine Tasse der letzten Stunde dampfend neben sich. »Du, ich glaube, ich habe den Schlüssel dazu.«
»Was? Woher zur Hölle weißt du überhaupt davon?«
Sie erklärt, dass Madigan ihr den Schlüssel erst vor ein paar Wochen gegeben hat. Sie ist mitten in einem Gewitter vor Kates Tür aufgetaucht, um ihr den Schlüssel in die Hand zu drücken, die Finger des Mädchens um das scharfe Metall zu schließen und fest zuzudrücken. Stell sicher, dass Lexi ihn bekommt, ihre Anweisung hervorgepresst zwischen klappernden Zähnen, du wirst wissen, wann die Zeit gekommen ist. Keine Erklärungen, nur Katie, du bist die Einzige, auf die ich mich verlassen kann, und dann rannte sie schon zurück zum Auto, den Mantel über dem Kopf, um den Regen abzuhalten.
Das war das letzte Mal, dass Kate sie gesehen hat, vielleicht das letzte Mal, dass irgendwer außerhalb ihrer Familie sie gesehen hat. Eine letzte, verzweifelte Mission, die sie aus ihrem Versteck herauszwang – aber wofür? Ein Kurier hätte den Schlüssel ausliefern können, und das ohne die Schuldgefühle, die Kate so offensichtlich zu verstecken sucht. Oder vielleicht ging es ebendarum.
Das Mädchen gräbt in ihrer Tasche herum, um den Schlüssel zu finden, und runzelt die Stirn, als sie ihn über den Tisch schiebt. »Ich schwöre, Alex, ich wusste nichts. Ich dachte, vielleicht solle ich ihn dir geben, wenn …« Sie schüttelt den Kopf, und ich frage nicht nach. Der Schlüssel ist klein und silbern, mit einem roten Band daran, an dem eine weiße Karte hängt. Die Handschrift darauf ist mir nur zu vertraut.
Für meinen Lexi, meine tiefste Liebe.
Ein zwei Wochen abgestandenes Gefühl. Wieder denke ich darüber nach, die Kiste einfach direkt in den Müll zu werfen, mit Schlüssel und allem, aber Kate starrt mich mit diesen fahl-traurigen Augen an und so … und so.
Ich öffne die Whiskyflasche, gieße mir einen Schuss ein und kippe ihn mir hinter die Binde. »Ich nehme an, wir sollten es tun.«
Kate nickt. »Soll ich gehen?«
»Nein, Katie, du kannst bleiben.« Bitte, Katie, bleib.
Ein leises Klicken erklingt, als der Schlüssel sich im Schloss dreht. Langsam und vorsichtig hebe ich den Deckel, als könnte etwas mich anspringen, aber natürlich geschieht nichts in der Art. Ich finde nur ein gefaltetes Stück Papier, hellblau wie Taubeneier. Aber als ich es hochhebe, rutscht unerwartet ein Gewicht heraus und fällt mit einem blechernen Scheppern zu Boden.
Ein Schlüssel, ein weiterer verdammter Schlüssel, den Kate schnell aufhebt und mit einem Ausdruck von vagem Erkennen im Blick zwischen uns in die Höhe hält. Er ist größer als derjenige, der ihn freigelegt hat, und auf seine angelaufene, silberne Oberfläche sind Nummern gestanzt. Zwei. Acht. Fünf. Sieben. Die Kombination sagt mir nichts.
»Mein Spindschlüssel sieht ähnlich aus«, bietet Kate an. »In der Schule.«
Widerwillig entfalte ich das Papier. Es ist ein Brief, und dieselbe schwungvolle Handschrift füllt die Seite – Lieber Lexi, ein paar Worte, um all das zu erklären. Ich falte ihn wieder und stopfe ihn tief in meine Hosentasche, um ihn später zu lesen, nachdem Kate gegangen ist. Ein Brief von Madigan, der letzte aller Briefe, mein privates Gift, das ich mit niemandem teilen will. Besonders nicht mit dem Mädchen, das jetzt neben mir steht und wieder die Stirn runzelt, als ich mehr Whisky in mein Glas kippe.
»Glaubst du nicht, dass du schon genug getrunken hast?« Eine unverfrorene Diplomatin, die kaum zusammenzuckt, als ich für einen Moment meine Zähne aufblitzen lasse.
»Ich glaube, es ist niemals genug.«
»Du klingst wie mein Vater.«
»Dein Vater?« Ich trinke mit einem großen Schluck die Hälfte des Whiskys.
»Er ist ein professionelles Arschloch«, sagt sie. »Und das, wenn er nicht betrunken ist.«
Aber ich grinse immer noch und wünsche mir, das Mädchen würde sich zur Abwechslung mal etwas entspannen. »Also das bin ich? Ein professionelles Arschloch?«
»Nein, du spielst noch in der Amateurklasse«, sagt sie. »Für den Moment.«
Und in ihrer Stimme liegt genug Schmerz, dass mein Grinsen sich auflöst und ich alle Versuche aufgebe, witzig zu sein, während ich ihr Gesicht betrachte, diese glatten Züge, die sie sorgfältig ausdruckslos hält, sodass sie nichts verraten. Sie erscheint so viel älter, als sie ist, aber das war schon immer so. Ich will nicht mal darüber nachdenken, was diesem Mädchen geschehen sein muss, um so schnell erwachsen zu werden. Und auf eine zerbrechliche Art und Weise ist sie auch schön. Weißblondes Haar und noch weißere Haut, ihre Augen vom Blau eines Gletschers. Kein Wunder, dass sie all diese Farben trägt und sich in diesen lebendigen, brillanten Schattierungen verkriecht, als könnte etwas davon auf sie abfärben.
»Ist dir kalt?«, frage ich und strecke die Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren. Sie wirkt kalt wie Schnee, wie Eis; halb erwarte ich, dass meine Finger an ihr festfrieren. Aber nein, meine Hand fährt problemlos über ihre Wange, auf der unter meiner Berührung etwas Rot aufblüht. Ich streichle die seidige Länge ihres Haares und lehne mich vor, um sie leicht, sanft auf die Stirn zu küssen.
»Es tut mir leid, Kate.« Auf keinen Fall kann ich mich für alles entschuldigen, was passiert ist, also ist es einfacher, sie noch mal zu küssen. Mein Mund wandert über ihr Gesicht und ihre Lippen, weich und erstaunlich warm, und erst als sie sich mir tatsächlich entzieht und die kleinen Hände fest gegen meine Brust stemmt, geht mir auf, wie eng ich sie an mich gedrückt habe.
»Du willst nicht mich, Alex. Du wirst dich nur hassen, wenn etwas passiert.« Ein trauriges kleines Kopfnicken, ein kurzes Drücken meiner Finger. »Und dann wirst du mich auch hassen, oder ein Teil von dir wird es tun.«
»Himmel, wie alt bist du? Fünfundvierzig?«
»Vierzehn.« Ein kleines, aber echtes Lächeln spielt um ihre Lippen. »Jung genug, um es besser zu wissen.«
Vierzehn, o verdammt, erst vierzehn und ich habe sie geküsst, hätte vielleicht eine Menge mehr getan, wenn sie mich nicht aufgehalten hätte.
»O Scheiße, Kate. Es tut mir leid.«
Ein weiterer Schluck Whisky, um die Scham herunterzuspülen. Was kann ich sonst sagen? Dass ich es hätte besser wissen müssen, dass ich nicht mal darüber nachgedacht hatte, was ich tat – was ich fast getan hätte –, dass ich an diesem gesamten Nachmittag kaum denken konnte, weil mein Kopf zu voll war von der Beerdigung und Madigan und wie … sie war …
»Sie war schwanger.«
Ich spreche die Worte aus, noch bevor ich sie ganz zu Ende gedacht habe, nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Kate ist weniger schockiert als vorsichtig, sogar ein wenig peinlich berührt und weigert sich, mir in die Augen zu sehen – und das ist etwas ganz Neues.
»Oh, Kate, du wusstest es.« Ich muss einfach lachen. Natürlich wusste sie es und wer zur Hölle noch? Alle außer mir, der es eigentlich als Erster hätte erfahren sollen.
»Ich habe es vermutet«, sagt Kate. »Sie hat es mir nie gesagt. Aber als sie mit dem Schlüssel auftauchte, war es ziemlich … na ja, offensichtlich.«
»Okay, aber vorher, woher wusstest du es? Oder woher kam die Vermutung oder was auch immer?«
Nur Mädchenzeug, erklärt sie. Zum Beispiel hat Madigan immer über ihre Periode gemeckert, hat ein Riesentheater um Krämpfe und Wasserstau gemacht – teilweise auch einfach nur, um die Jungs in Verlegenheit zu bringen –, aber in den letzten paar Monaten gab es keine Sticheleien mehr, keine Einkaufslisten, auf denen in großen roten Buchstaben Tampons standen, und so dachte sie, vielleicht …
Noch etwas, was meiner Aufmerksamkeit entgangen ist. Ich trinke den Rest in meinem Glas und strecke an Kate vorbei die Hand nach der Flasche aus.
»Ich muss gehen.« Sie steht vom Tisch auf und erklärt mir, wie leid ihr alles tut, wie unglaublich leid, aber sie ist nur gekommen, um mir den Schlüssel zu bringen und jetzt muss sie nach Hause. »Hätte ich gewusst, was sie vorhatte, Alex, ich schwöre, ich hätte …«
Ich hebe eine Hand, um ihren Redefluss zu stoppen. »Es spielt keine Rolle mehr, das weißt du, oder? Keiner von uns wusste es und dir selbst die Schuld zu geben ist genauso sinnlos und krank wie das, was Madigan getan hat.«
Der Name – ihr Name – hängt schwer zwischen uns, als Kate sich die Tasche über die Schulter legt und gedankenverloren an einem losen Faden herumspielt. Spontan sage ich ihr, wir sollten in Kontakt bleiben, uns vielleicht mal auf einen Kaffee treffen – und ja, es klingt wie das übliche leere Versprechen, aber dieses Mal meine ich es tatsächlich. Zu viele Bindungen wurden zu schnell abgeschnitten und ausnahmsweise stehe ich der Freiheit, der Eremitenhöhle, die sich bedrohlich vor mir öffnet, skeptisch gegenüber. Vielleicht werde ich alt, vielleicht habe ich Angst.
Auf jeden Fall schüttelt Kate den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich meine, Madigan ist das Einzige, was uns verbindet, oder?«
»Wahrscheinlich.«
Sie leidet so sehr, dieses schöne kleine Mädchen, und es gibt nicht das Geringste, das ich dagegen tun kann. Es ist eine beschissene Erkenntnis. Ich versuche, sie zum Abschied wenigstens zu umarmen, aber jetzt besteht sie nur noch aus Ellbogen und Kanten und dem Geruch von ungewaschenem Haar. Ihre dünnen Arme legen sich widerwillig für einen kurzen Moment um mich, dann lässt sie sie wieder fallen. Die Umarmung war offensichtlich ein Fehler. Wir lösen uns voneinander und waten durch das drückende, unangenehme Schweigen zur Eingangstür. Es ist jetzt dunkel und ich biete ihr an, sie nach Hause zu fahren oder zumindest ein Taxi zu bezahlen, aber sie besteht darauf, dass es in Ordnung ist, weil der Bahnhof nicht weit entfernt ist und sie gerne läuft, sogar nachts.
Sie sieht zum Mond auf, eine silberne Sichel, die durch die Wolken dringt. »Besonders nachts.«
»Hey, Kate?« Plötzlich kommt mir ein Gedanke. »Weißt du irgendwas über diesen Serge-Kerl? Hat Madigan je über ihn gesprochen, vielleicht darüber, was sie miteinander machen, irgendwas in der Art?«
Kate wirkt, als hätte jemand gerade ihre Katze getreten – als hätte jemand sie mit einem Prügel blutig geschlagen – und ich will die Worte sofort zurücknehmen. Wie dumm, nicht zu erkennen, dass sie sich genauso betrogen fühlen muss wie ich. Dass sie genauso aus heiterem Himmel fallen gelassen wurde wie die anderen Marionetten, wie ich, sobald die fette Kröte auf den Plan getreten war.
»Sie hat nie etwas gesagt«, antwortet Kate. »Aber er war heute da, in der Kirche. Hat dich die ganze Zeit angestarrt.« Sie schüttelt sich leicht und reibt sich die Oberarme. »Es war unheimlich. Ich bin froh, dass ich ihn nie wiedersehen muss.«
Ich frage mich, ob sie dasselbe wohl über mich denkt, während ich beobachte, wie ihre Haare lang und silbern hinter ihrem Rücken wogen, als sie davongeht. Unter den Straßenlaternen scheint es fast zu leuchten. An der Ecke biegt sie ab, hält nicht einmal an, schaut nicht zurück.
Sie geht einfach weg. Ich wollte, ich könnte das auch.
Auf dem Küchentisch wartet mein Glas ungeduldig darauf, gefüllt zu werden, aber erst hole ich Madigans Brief aus meiner Tasche. Noch eine letzte Dosis Masochismus, ein letztes Martyrium durchzustehen, bevor ich den Deckel über dieser kranken Geschichte zuschlage – ihn zuschlage und das Buch verbrenne –, und der Zeitpunkt ist jetzt genauso gut wie irgendwann später.
Mein Lexi, ein paar Worte, um dir all das zu erklären. Das ist das Mindeste, das ich dir schulde, nehme ich an.
Kein Melodrama, kein wenn du das liest-Mist, nur eine ruhige, saubere Handschrift, gut formulierte, knappe Sätze. Es ist schwer zu glauben, dass er von jemandem geschrieben wurde, der sich wenige Tage später umgebracht hat.
Ich kann mich nicht genug entschuldigen für alles, was ich dir angetan habe, dafür, dass ich dich so verlassen habe, wie ich es getan habe, aber du musst mir einfach glauben, dass es absolut nötig war. Es musste getan werden und ich hoffe, du wirst es eines Tages verstehen. Ich glaube, das wirst du. Besonders möchte ich mich für das Baby entschuldigen. Dir nichts davon zu erzählen war das Schwerste, was ich je tun musste, aber ich möchte, dass du verstehst, dass ich diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen habe. Keine meiner Entscheidungen wurde leichtfertig getroffen. Ich liebe dich, egal was kommt, ich habe dich immer geliebt und alles, was ich getan habe, war für dich, für uns. Du wirst es verstehen, Lexi, ich verspreche es dir.
Dann ihr Name, eine kunstvolle Unterschrift mit geschwungenen Kurven, und drei Küsse. Die Tinte verschwimmt, weil mir ungewollte Tränen in die Augen steigen, und ich muss sie wegwischen, um das Postskript zu lesen.
Falls Serge kommt, um herumzuschnüffeln, sag ihm, er soll sich verpissen. Er wird nicht mehr gebraucht, und das kannst du ihm von mir ausrichten.
Der Brief ist bizarr, überhaupt nicht wie ein Abschiedsbrief, und ich kann nicht anders, als mich zu fragen, ob sie wirklich vorhatte, sich umzubringen. Ob es nicht nur ein schlechtgeplanter Stunt war und sie erwartete, im letzten Moment gerettet zu werden, in einem Aufruhr aus entsetzter Sorge und Wirbel ins Krankenhaus gebracht zu werden. Aber nein, das war nicht ihr Stil. Außerdem hat sie ihren letzten Willen geschrieben.
Du wirst verstehen … alles war für dich …
Was auch immer. Ob Manipulation oder einfach Wahnsinn, ich bin zu verdammt müde, um noch darüber nachzudenken.
Das Geräusch des reißenden Papiers ist unglaublich befriedigend, genauso wie der Anblick der Fetzen, die auf den Teppich segeln. Fast so befriedigend wie der Whisky, der sich durch meine Kehle brennt, zwei große Schlucke direkt aus der Flasche, bevor ich mein Glas fülle und es in Richtung Decke hebe.
»Auf dich, Madigan, meine Favoritin unter den beschissenen Liebsten. Salut.«
Das zumindest muss ich ihr zugutehalten: Sie hat nicht einmal mein Trinken kommentiert, hat nie auch nur eine spitze Bemerkung gemacht oder eine Augenbraue missbilligend gehoben. Oder war sie einfach nur zu selbstzentriert, um es zu bemerken? Ich schüttle den Kopf. Mein Kopf ist immer noch zu klar, trotz des Alkohols. Zu stur, um all diese Gedanken an sie loszulassen, meine Madigan, Madigan mein, meine einzige Besessenheit für viel zu lange Zeit.
Genug.
In einer Schublade finde ich einen dicken schwarzen Marker, zwischen Gummibändern und anderem Haushaltstreibgut, und ich male eine dicke Linie auf die Whiskyflasche, ungefähr bei einem Drittel der Füllhöhe. Eine zufällige Grenze, aber zumindest ist es etwas, ein klares Limit für heute Abend. Morgen kann ich damit anfangen, das wieder zusammenzusetzen, was von meinem Leben noch übrig ist.
Oder zumindest kann ich anfangen, darüber nachzudenken.
Morgen, Sonntag, Ruhetag, Familienessen und lockere Unterhaltungen. Lang ignorierte Klischees, aber vielleicht ist es nicht zu spät, um sie abzustauben. Es ist Wochen her, dass ich meine Familie zum letzten Mal gesehen habe, sogar Monate – es war bei diesem Geburtstagsessen für die Zwillinge. Madigan war eingeladen, hatte sich aber geweigert zu kommen, eine Beleidigung, die meine Mutter durchaus bemerkte, als sie das sechste, dann überflüssige Gedeck abräumte. Es endete auf die übliche Art, mit einem weiteren Verhör durch die Eltern, was ich tat, was ich tun wollte, welche Pläne ich für die Zukunft habe. Mein Dad bot mir wieder an, mir einen Job in der Fabrik zu geben – er ist jetzt der Manager –, und ich zuckte nur mit den Achseln, sagte, ich würde darüber nachdenken, und wir beide wussten, dass ich log.
Meine Schwestern haben es einfach. Sarah mit ihrem Jurastudium, unter den Besten ihres Jahrgangs und gefördert mit einem Stipendium; Ginny mit ihrem schwachsinnigen Freund – Martin, Sportfan und Sternekoch – und das Haus, das sie in Camberwell renovieren, während sie ihre eigene Familie planen. Eine strahlende, wohlgeplante Zukunft für beide, mit vollkommener elterlicher Billigung, aber es ist nicht die meine und ich will keine davon oder auch nur etwas in der Art. Und das ist etwas, was Mum und Dad einfach nicht verstehen können.
Und so haben wir uns gestritten wie immer. Gezickt und geseufzt und geblafft, während Sarah mich unter dem Tisch trat, damit ich den Mund hielt. Ich sackte in meinem Stuhl zusammen und stopfte die Hälfte meines Kartoffelsalates in mich herein, während meine Schwestern über meinen Kopf hinweg wohlgeübte Themenwechsel anstrengten.
Du brauchst sie nicht, Lexi. Madigan, später am selben Abend, während sie Bierflaschen für uns beide öffnete. Leute wie sie können Leute wie uns nicht verstehen. Sie können es einfach nicht.
Ich gieße mir noch einen Schuss Whisky ein, ein Schuss näher an die Linie. Gab es je einen Knopf, von dem sie nicht wusste, wie man ihn drückte?
Leute wie wir.
Abgesehen davon, dass es kein uns mehr gibt, meine Geliebte, dafür hast du gesorgt. Und ich bin – war es immer – Leute wie sie.
∞
Jemand hat mir Lösungsmittel in den Hals geschüttet. Mein Mund ist wund und rot und so trocken, dass er fast mehr wehtut als die Stahlkugel, die in meinem Kopf herumspringt, bumm bumm bumm, als wäre vor meiner Tür ein Abrissunternehmen bei der Arbeit. Oder an meiner Tür. Verdammt sollen sie sein, wer auch immer es ist, sie können später zurückkommen oder, noch besser, nie. Ich ziehe mir ein Kissen über den Kopf und drücke mich fest gegen die Lehne der Couch, bis endlich Schweigen herrscht. Ich entspanne mich und versuche, den Schlaf wieder einzufangen, bevor er sich ganz verflüchtigt.
»Reizend, Alex, wirklich. Ein Mädchen könnte sich keine schönere Begrüßung wünschen.«
Ruth?
Ja, dort steht sie mit in die Hüfte gestemmten Händen und erklärt, wie gut es ist, dass ich das Badezimmerfenster nie habe reparieren lassen, nachdem ziemlich offensichtlich ist, dass mich selbst die Dämonen der Hölle heute Morgen nicht an die Tür gebracht hätten. Ob ich vielleicht einen Schluck Wasser will, jetzt, wo sie schon da ist? Vielleicht Frühstück auf der Couch? Sie hat auch Aspirin in ihrer Tasche, obwohl das meinem Anblick nach wahrscheinlich ähnlich aussichtslos ist, wie die Titanic mit einem löchrigen Fingerhut auszuschöpfen.
»Was machst du hier?« Nicht gerade huldvoll, aber im Moment bin ich einfach zu sehr damit beschäftigt, mich aufzusetzen und gleichzeitig meinen Kopf davon abzuhalten, mir in den Schoß zu kullern.
»Du erinnerst dich nicht?«, fragt Ruth. »Nein, wahrscheinlich nicht.«
Ich folge ihrem Blick zum Couchtisch und sehe die Johnnie-Walker-Flasche und das umgefallene Glas daneben. Zwei weitere schwarze Linien ziehen sich über die Flasche, jede tiefer und zittriger als die vorherige. Der momentane Whiskypegel liegt ein gutes Stück unter allen drei Strichen.
Mehr als die halbe Flasche. Mir wird noch übler, weil ich mich selbst anwidere. »Ruth, es ist nicht … ich hatte eine harte Woche.«
»Ich weiß.« Ihre Miene ist sanft, als sie sich auf die Armlehne der Couch setzt. »Du hast mir alles erzählt.«
»Was? Wann?«
»Ungefähr gegen drei Uhr heute Morgen oder so um den Dreh.« Sturzbetrunken und weinend habe ich irgendetwas davon gefaselt, dass Madigan tot ist, aber vielleicht auch nicht tot oder nicht tot genug – sie kann sich an meine genauen Worte nicht erinnern – und dass meine Hand wieder blutet und ob sie vorbeikommen könnte, weil ich wirklich jemanden brauche und Kate nicht zurückkommen würde und meine Schwestern mich wahrscheinlich hassten und es ein Wunder wäre, wenn meine Mutter sich auch nur an meinen Namen erinnerte.
»Jede Menge rührseligen Blödsinn – ehrlich, irgendwie war es beeindruckend. Und nur so nebenbei, diese Kate ist wer genau?«
»Eine der …« Marionetten, das Wort liegt mir schon auf der Zunge, aber ich schlucke es herunter. Kate verdient mehr. »Eine von Madigans Freundinnen. Sie kam letzte Nacht kurz vorbei.«
»Hmm.« Ruth schweigt kurz. »Sie ist wirklich tot? Madigan?«
Ich nicke. »Ja.«
»Dann verstehe ich, warum du so fertig bist. So wie du aussiehst, ist es kein Wunder, dass du nicht ans Telefon gegangen bist. Wahrscheinlich hast du das verdammte Ding nicht mal gehört.«
»Entschuldigung?«
Sie versucht schon seit Stunden mich anzurufen, erklärt sie, aber mein Handy ist ausgeschaltet und auf dem Festnetz-Telefon hat es einfach nur immer geklingelt. Jetzt weiß sie auch, warum: Der Stecker ist aus der Wand gezogen. Nichts, an das ich mich erinnern könnte, aber das scheint für einen Großteil der letzten Nacht zuzutreffen.
»Das würde auch erklären, warum du einfach aufgelegt hast.« Ruth geht in die Hocke, um das Telefon wieder einzustecken. »Langsam habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen.«
Das Aufblitzen einer Erinnerung oder vielleicht auch ein Teil eines Traumes. Egal was es ist, es ist zu vage, um viel Sinn zu ergeben: Das Telefon an meinem Ohr, das Quietschen meines Namens aus dem Hörer, und ich versuche zu reden, versuche zu antworten, aber etwas bedeckt meinen Mund oder vielmehr meine Kehle, drückt von innen und meine Worte sind zu schwach, um sich den Weg nach außen zu bahnen.
Ruth schnippt vor meinem Gesicht mit den Fingern. »Komm schon, zurück in die Realität. Wenn du immer noch reden willst, setze ich den Kessel auf. Vielleicht improvisiere ich auch ein Mittagessen, wenn es irgendetwas ansatzweise Essbares hier gibt.«
»Mittagessen?«
»Es ist fast ein Uhr.« Sie seufzt, lächelt aber gleichzeitig. »Und Alex? Vielleicht willst du dir auch eine Hose anziehen.«
Ich schaue an mir herunter und realisiere, dass ich die ganze Zeit nur in einem T-Shirt und Unterhosen vor ihr saß. Meine Jeans liegen am anderen Ende des Raumes, sorgfältig gefaltet über eine Stuhllehne gehängt – die Art von Dingen, die man in betrunkenem Zustand tut. Ruth hebt sie hoch und rümpft theatralisch die Nase. Als sie die Hose in meine Richtung wirft – »Wann hat die zum letzten Mal das Innere einer Waschmaschine gesehen? –, fällt etwas Kleines, Silbernes aus der Tasche, um direkt vor meinen Füßen zu landen: ein Schlüssel mit der Nummer zwei-acht-fünf-sieben.
∞
»Das ist alles, was da war? Ein Schlüssel?« Ruth hält ihn ins Licht, als könnte sie so etwas finden, das sie übersehen hat.
Ich nippe langsam an dem Kaffee, den sie gebraut hat, bitterschwarz und stark, da die letzte Milch kurz vor dem Umkippen stand und es außerdem Ruths Überzeugung nach in meinem momentanen Zustand besser so ist.
»Und der Brief«, erkläre ich ihr. »Aber ich weiß nicht, was damit passiert ist.«
»Schönes kleines Rätsel.« Sie legt den Schlüssel ab, zieht sich ein Taco-Chips aus der Schale vor uns und nagt an einer Ecke. »Ich habe nie verstanden, warum du die Dinger magst. Sie schmecken wie mit Käse überzogener Karton.«
Ich ignoriere sie; in der Not frisst der Teufel Fliegen und sonst habe ich nichts zu essen im Haus. »Kate hat gesagt, er erinnere sie an den Schlüssel zu einem Spind. Wahrscheinlich werde ich es nie erfahren.«
»Die Frage ist: Interessiert es dich noch?«
Ich zucke unentschlossen mit den Achseln, während ich mir wünsche, ich hätte den Brief noch, mir wünsche, mein Kopf würde mehr als nur diese vage Erinnerung daran ausspucken, was darin stand.
Mein Lexi … kann mich nicht genug entschuldigen … das Baby … Ich liebe dich …
Aber auch der letzte Fetzen ist weg. Verschwunden. Mülleimer, meine Taschen, hinter der Couch, alles durchsucht. Ich habe sogar kurz das Gästezimmer durchgesehen für den Fall, dass ich ihn dort zum Rest des Madigan-Schutts geworfen habe, aber nein. Vielleicht habe ich die Fetzen die Toilette hinuntergespült oder aufgegessen, wer weiß das schon? Fast die ganze letzte Nacht ist ein vollkommenes Blackout, etwas, das mir noch nie zuvor passiert ist. Eine gewisse Unschärfe der Erinnerung, ja; verspätete Erinnerungen, während ich mir gerade die Zähne putzte, mein Hemd schloss oder etwas ähnlich Nichtiges tat, sicher. Aber niemals ein vollkommener Blackout.
Es macht mir Angst.
»Ich kann das nicht glauben.« Ruth trägt ihre Tasse zum Waschbecken, spült sie aus und stellt sie kopfüber auf das Abtropfgestell. »Das Luder ist tot, verdammt noch mal, und sie spielt immer noch dieselben Spielchen.«
»Hä?«
»Es ist nur das nächste Psychospiel, Alex. Kryptische Nachrichten und mysteriöse Schlüssel; sie wollte sicherstellen, dass du sie nicht vergisst.«
Ich habe Ruth erst ein einziges Mal wütend gesehen – als sie im Behandlungszimmer auf und ab tigerte, während die Krankenschwester meine Bauchwunde nähte – und aus genau denselben Gründen: Wütend auf Madigan wegen dem, was sie getan hatte, und auf mich, weil ich mich darauf eingelassen hatte. Und trotz meiner guten Vorsätze von gestern merke ich, wie ich sofort in einen Verteidigungsmodus umschalte. Ich hasse die Worte, die mir sofort in die Kehle steigen, aber ich lasse sie trotzdem frei, dieselben Entschuldigungen, die ich schon ein Dutzend Mal angebracht habe: Du hast sie nicht gekannt, Ruth, du kannst es nicht verstehen, sie war krank …
»Es reicht!« Ihre Handfläche schlägt auf den Tisch, fest genug, um mehrere Tacos aus der Schale zu katapultieren. »Es ist mehr, viel mehr. Sie war schon gebrochen, bevor diese angebliche Krankheit zum Tragen kam, das konnte jeder sehen. Meine Oma hat immer gesagt, man solle nichts Schlechtes über die Toten sagen, aber ich glaube, selbst sie würde hier eine Ausnahme zulassen. Madigan war schrecklich, sie war grausam. Sie genoss Grausamkeit.«
»Manchmal vielleicht, ja, das gebe ich zu. Aber nicht immer. Und nicht, als wir jung waren, damals war sie …«
»Was? Freundlich und süß? Nie sadistisch, nie grausam?«
»Alle Kinder sind grausam, Ruth.«
»Du nicht, darauf würde ich wetten.« Sie schüttelt den Kopf. »Du warst ihr Kontrast, ihr mehr als williges Opfer. Versuchst du mir zu erzählen, dass sie nie böse zu dir war, Alex, niemals? Ehrlich?«
»Nein, sie …«
Nichts sagen, Lexi.
Madigan mit verschränkten Händen, so selbstgefällig wie eine Katze. Dieser trübe Nachmittag nicht lange nach meinem neunten Geburtstag, an dem sie die neue Star-Wars-Action-Figur in die Finger bekam, die Mom mir geschenkt hatte – ein winziger Chewbacca, komplett mit Plastikfell und Waffengurt. Sie hat ihn genommen und irgendwo versteckt. Ich erinnere mich nicht, warum – vielleicht ein kleiner Streit oder ein verlorenes Spiel –, aber sie weigerte sich, mir das Versteck zu verraten, egal wie oft ich sie in den nächsten Tagen und Wochen fragte, anjaulte oder anschrie. Schließlich vergaß ich es. Na ja, ich gab wohl eher auf, da ich mich heute noch daran erinnere. Grausam? Ja, aber weit über das hinaus. Es war weit mehr als kindliche Sturheit oder Spiel, diese Entschlossenheit, nichts zu sagen – ihre Macht, eine Handlung in die Unendlichkeit auszubreiten.
Nie, nie etwas sagen.
»Weißt du, warum ich hier ausgezogen bin?«, fragt Ruth.
»Eigentlich nicht«, gebe ich zu. »Madigan hat nicht viel erzählt, nur dass sie sich etwas von dir ausgeliehen hat. In dein Zimmer gegangen ist, ohne zu fragen, und du wütend wurdest. Ich glaube, sie hat es als ›Zickenterror‹ bezeichnet.«
»Oh, wirklich?«
»Ich wusste immer, dass mehr an der Sache dran war«, füge ich schnell hinzu.
»Allerdings war mehr an der Sache dran.« Ruth ist immer noch wütend, aber jetzt ist es eine ruhigere Form von Wut. »Sie hat mein Tagebuch gelesen, Alex, mein persönliches Tagebuch. Ich kam nach Hause, und da lag sie auf meinem Bett, mit einem dieser jämmerlichen Kinder neben sich, und las es ihm vor. Und sie haben gelacht. Beide haben gelacht wie die Hyänen.«
Keine Entschuldigung, nicht mal ein Hauch von gespielter Reue, nur ein Achselzucken. Madigan war gelangweilt gewesen und hatte nicht erwartet, dass Ruth so früh nach Hause kam, aber hey, was für eine schöne Überraschung. Und noch schlimmer, sollte das überhaupt noch möglich sein, sie schien Ruth ihre Reaktion übel zu nehmen, ihr die Tatsache zu verübeln, dass jemand es wagte, Madigan vor einer der Marionetten anzuschreien. Das Tagebuch landete auf dem Boden und die beiden stiefelten mit hocherhobenen Köpfen aus dem Raum.
»Du hättest es mir sagen sollen, Ruth. Hätte ich es gewusst, dann …«
»Dann was? Hättest du sie rausgeworfen?«
Auf diese Frage kann ich nichts sagen, nichts, das nicht in unser beider Ohren hohl klänge.
»Das habe ich mir gedacht«, sagt Ruth. »Ich war mit dir befreundet. Ich hoffe, das sind wir immer noch. Aber ich wollte nicht mit ihr in diesem Haus bleiben, und ich wollte dich mit Sicherheit nicht dazu zwingen, dich zwischen uns zu entscheiden, also bin ich abgehauen. Und es tut mir wirklich leid, dass ich dich so im Stich gelassen habe. Mir war nicht klar, wie weit sie tatsächlich gehen würde.«
»Es ist okay.«
»Mein Gott, dieser Tag im Krankenhaus! Du hast keine Ahnung, wie kurz ich davor war, das Flittchen zu suchen und ihr den psychotischen kleinen Hals umzudrehen …«
»Ruth, bitte …«
Sie bricht ihre Tirade ab und ergreift meine Hände. »Es tut mir leid, Alex, ich sollte das alles wirklich nicht sagen. Du hast sie geliebt, und ich nehme an, das kann ich respektieren – nicht verstehen, nicht im Mindesten, aber respektieren schon.« Eine unsichere Pause, und als sie weiterspricht, ist ihre Stimme so leise, dass ich mich vorlehnen muss, um sie zu verstehen. »Du musst im Moment schrecklich leiden und ich werde keinen von uns beiden beleidigen, indem ich vorgebe, ich wüsste, wie du dich fühlst. Aber ich will, dass du weißt – ich will, dass du dir da absolut sicher bist –, dass ich deine Freundin bin, Alex. Wenn du reden willst, werde ich zuhören; wenn du allein sein willst, gehe ich. Es ist an dir.«
Weiterreden ist das Letzte, das ich im Moment will; alles, was ich sage, wird uns unweigerlich zu denselben alten Streitpunkten zurückführen. Ruth kann nicht verstehen, wie ich mich fühle, und warum sollte sie das auch können, wenn ich es selbst nicht schaffe? Aber der Gedanke, allein in diesem Haus zu sein, diesem leeren, kalten Haus, in dem mich irgendwann die Erinnerungen an letzte Nacht einholen werden …
Tränen springen mir in die Augen, so schnell, dass ich sie nicht wegblinzeln kann, sondern nur peinlich berührt mit dem Ärmel meines Pullis wegwischen, bis Ruth mich aufhält, ihre Arme um meine Schultern legt und mich an sich zieht. Es tut mir leid, will ich beteuern, das bin nicht ich, all dieses Weinen, das bin nicht ich. Aber ich sage nichts und, Gott sei Dank, sie ebenso wenig. Es gibt kein Wiegen oder Streicheln meines Rückens, keine beruhigenden Geräusche oder leere Versprechungen, dass alles wieder gut werden wird. Nur ihre Arme, stark und ruhig, die mich halten und zulassen, dass ich sie halte.
Und als ich fertig bin und die Tränen genauso schnell versiegt sind, wie sie kamen, gibt sie mir einfach nur ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. Mir geht auf, dass ich das vermisse – ihre ungezwungene Freundschaft, die ruhige Vertrautheit zwischen uns. Nichts Rührseliges, keine Erkenntnis von unterdrücktem Verlangen oder unglücklicher Liebe, einfach nur: Ich vermisse sie.
Ruth lächelt. »Wie wäre es, wenn du duschen gehst und dann besorgen wir dir was Richtiges zu essen. Wir müssen ja wieder ein bisschen Fleisch auf deine ausgehungerten Knochen bringen.«
Danach, als meine Haare auf meinen Rücken tropfen und ich nach einem sauberen T-Shirt suche, fragt sie mich, was ich mit dem Haus machen will. Allein muss die Miete schwer zu tragen sein, und ich habe offensichtlich noch niemanden gefunden, der einziehen könnte. Sie bricht ab, zögert, dann fragt sie, ob sie wieder einziehen soll. Die Mädchen, mit denen sie im Moment zusammenlebt, sind absolute Nervensägen, zu laut, zu neugierig, und hat sie mir schon erzählt, dass eine von ihnen sich für eine Art von Hexe hält? Sie findet es unglaublich schwierig, zu Hause wirklich etwas zu erledigen, und ist es leid, sich fünf Abende die Woche in der Unibibliothek zu verkriechen.
nein!
Das Wort hallt so laut durch meinen Kopf, dass ich zusammenzucke. Das hoffnungsvoll-scheue Lächeln auf Ruths Gesicht verblasst.
»Ich will nicht drängeln«, sagt sie. »Es war nur so eine Idee.«
»Nein, es ist okay. Ich habe nur noch nicht wirklich darüber nachgedacht, das ist alles.«
Das ist nicht ganz wahr. Jede Mietzahlung, seitdem Madigan gegangen ist, vertieft das riesige Loch in meinen Finanzen und mein Job im Videoladen – ich bin jetzt Vollzeit als stellvertretender Manager angestellt, aber viel Lohnerhöhung hat es nicht gebracht – lässt mir neben meinen notwendigen Beiträgen zum Verein »Besser Vergessen durch Alkohol« kaum noch etwas übrig.
Jetzt gibt es da natürlich noch die fünftausend Dollar – das einzige, wovon ich Ruth nichts erzählt habe. Sargood-Geld, sicher, befleckt mit Schuldgefühlen und Blut und Verrat, aber würde es deswegen nicht genauso Essen und Miete bezahlen? Und das für eine Weile, mindestens ein paar Monate. Zeit zum Nachdenken. Zeit, um zu treiben. Zeit, um wieder auf die Füße zu kommen.
»Es könnte sein, dass ich das hier irgendwann aufgebe«, erkläre ich ihr. »Mir irgendwo eine Wohnung suche.«
»Um noch mehr zum Einsiedler zu werden, meinst du?«
Ein wegwerfendes Achselzucken. »Könnte nicht schaden.«
Ruth berührt meine Schulter. »Lass mich wissen, wenn du dir darüber im Klaren bist. Diese Tussis, mit denen ich jetzt zusammenwohne, treiben mich in den Wahnsinn.«
Vielleicht wäre es schön, sie wieder hier zu haben, diesem selbstauferlegten Exil ein Ende zu machen, das Schwären einsamer Gedanken und schulderfüllter Vermutungen zu unterbinden. Aber noch während ich über die Idee nachdenke, springt dieses Wort wie ein gefangener Vogel durch meinen Kopf, und es ist ihre Stimme, die ich höre, Madigan mein, giftgrün und tödlich scharf:
nein nein nein nein nein