Kapitel 17
»Hast du den Verstand verloren, Erin? Wir tun ihm das nicht noch mal an.«
Wir drei haben uns um den Küchentisch versammelt. Erin und Ruth diskutieren über die nächsten Schritte, während ich danebensitze und trotz der Decke um meine Schultern zittere.
»Aber wir müssen es noch mal versuchen«, drängt Erin. »Wir waren so nah dran.«
Ruth schüttelt den Kopf. »Es ist zu gefährlich. Schau dir an, was ihm passiert ist, schau dir doch an, was aus ihm rausgekommen ist. Ich denke, wir sollten ihn ins Krankenhaus bringen.«
Nein, versuche ich zu widersprechen, kein Krankenhaus. Aber meine Stimme ist zu leise, und sie hören mich nicht.
»Ich glaube nicht, dass ein Krankenhaus die Antwort ist«, sagt Erin.
»Aber er braucht einen Arzt. Schau ihn dir doch an.«
»Ich gehe nicht ins Krankenhaus.« Diesmal lauter, mit einem Anflug von Wut. »Habe ich nichts zu sagen? Mir passiert das hier, es ist mein Geist – zumindest für den Moment noch.«
Ruth entschuldigt sich und nimmt meine Hand. Natürlich habe ich auch etwas zu sagen, erklärt sie, natürlich, und wenn ich wirklich nicht ins Krankenhaus will, ist das in Ordnung, aber vielleicht sollten wir Kaye Allen trotzdem anrufen. Es gibt andere Orte, an die ich gehen kann, Orte, an denen die Leute für Situationen wie diese ausgebildet sind, wo sie wissen, was sie tun, und ob ich nicht …
»Madigan ist real, Ruth. Ich habe sie gesehen, mit ihr gesprochen.«
»Ich sage nicht, dass sie nicht irgendwie real ist, ich …«
»Sie hat versucht, mich umzubringen.«
Ruth beißt sich auf die Unterlippe. »Ich bin mir sicher, dass es dir so vorgekommen ist.«
»Du hast Angst.« Ich drücke ihre Hand. »Oder?«
»Ja«, antwortet sie. »Und du solltest auch Angst haben!«
»Das habe ich.« Ich entziehe mich ihr und drücke meine Finger an die Stirn. Ich bin zu müde, um auch nur zu denken. Es ist eine tiefe Erschöpfung, die weit über Muskeln und Knochen hinausgeht.
»Was ist mit Madigan?«, fragt Erin und tut so, als würde sie die bösen Blicke nicht bemerken, die Ruth ihr zuwirft. »Was, wenn sie zurückkommt, während du ausgeknockt bist?«
»Unwahrscheinlich. Ich habe das Gefühl, dass so etwas auch sie erschöpft.«
»Trotzdem, ich werde dir etwas anrühren.« Sie steht auf und fängt an, in ihrer Ledertasche herumzugraben, zieht Beutel mit getrockneten Kräutern hervor und seltsame, vertrocknete Dinge, die gespenstisch danach aussehen, als wären sie einst lebendig gewesen. All das breitet sie auf der Arbeitsfläche aus, bevor sie auf der Suche nach einem sauberen Topf in den Schrank abtaucht. »Zum Schutz.«
Ruth schnaubt protestierend. »Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«
»Hör auf damit«, sagt Erin. »Ich weiß, dass nichts davon zu dem passt, wie du die Welt siehst, Süße, aber damit musst du allein klarkommen.«
Ich stoße Ruth mit der Schulter an und lächle schwach. »Ich komme in Ordnung, okay? Ich brauche nur ein wenig Schlaf.«
Sie weigert sich, mich anzusehen, und unter ihren fast geschlossenen Lidern glitzern Tränen. Ich suche nach etwas, das ich sagen kann, einer beruhigenden oder tröstenden Phrase, etwas, das besser klingt als Ich komme in Ordnung. Aber ich finde nichts, nichts, was nicht unglaublich dämlich klingen würde. Stattdessen schiebe ich meinen Stuhl nach hinten.
»Ich ziehe mich um.«
In meinem Zimmer ziehe ich die fleckigen, stinkenden Klamotten aus und rolle sie zu einem Ball zusammen. Gott allein weiß, ob sie jemals wieder sauber werden. Ich habe nur einen kurzen Blick auf den Inhalt des Eimers geworfen, bevor Ruth ihn weggebracht hat, aber was ich gesehen habe, war angsteinflößend genug. Nicht der brackige, rote Schleim meiner Vorstellung, sondern dunkle, rötliche Klumpen, die nach Galle und verdorbenem Fleisch stanken.
Ich ziehe mir Boxershorts an und verziehe das Gesicht, als ich mich im Spiegel sehe. Ich sah nie wirklich gut aus, aber bin ich inzwischen tatsächlich so mager? Mein Oberkörper ist fahl, man sieht jede Rippe, die Hüftknochen stehen über meiner Unterhose hervor. Ich schaudere. Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie Madigan gegen Ende aussah, ausgezehrt und dünn bis kurz vorm Verhungern. Waren ihre Hände so fleckig und mit Adern überzogen wie meine, ihre Augen so tief eingesunken und ihre Lippen so rau? Wandelnde Leiche, George-Romero-Darsteller. Sie weiß wirklich, wie man Schnäppchen ergattert, meine Madigan. Müll und verdammte Schätze.
»Man sollte meinen, es gäbe nichts zu lachen.« Ruth steht im Türrahmen, eine dampfende Tasse in der Hand. Sie kann sich so verdammt leise bewegen, ein Geist und ein Zombie, was für ein Paar wir doch sind. Ich strecke die Hand nach dem Getränk aus, aber sie ignoriert es. »Du solltest das wirklich nicht tun, weißt du? Sie will uns nicht sagen, was sie reingetan hat, und nach dem letzten Mal …«
»Was uns nicht umbringt, macht uns hart.« Aber ich lächle nicht mehr, als ich vortrete, ihr die Tasse abnehme und sie vorsichtig an den Mund führe. Diesmal ist es nicht so schlimm, Hühnersuppe kurz vor dem Ranzigwerden, mit einem Nachgeschmack von Anis.
»Und wenn es dich umbringt?«, fragt Ruth.
»Kauf mir einen coolen Sarg.«
Zu flapsig. Ihre Lippen fangen an zu zittern. »Du hast dich selbst nicht gesehen, Alex. Du hast geweint, gekrampft, Blut oder was auch immer das war erbrochen. Wir sind nicht dafür eingerichtet, hier mit so etwas klarzukommen, du solltest im Krankenhaus sein, es sollten sich Leute um dich kümmern, die wissen, was sie tun.«
Ich bemühe mich, meine Hände still zu halten, als ich den Rest der Flüssigkeit trinke und die Tasse auf der Kommode abstelle. »Jetzt mal ehrlich, glaubst du, irgendwer wüsste wirklich, was er in dieser Situation tun soll? Es ist nicht so, als könnte man für so eine Scheiße einen Abschluss machen. Okkultismus-Grundkurs, Parapsychologie für Anfänger.«
»Aber wenn es das nicht ist, wenn es alles …« Ruth wählt ihre Worte sorgfältig und auf ihrer Stirn bilden sich von der Anstrengung Falten. »Wenn es ein psychologisches Problem ist, dann machen wir es mit all diesem Hokuspokus nur schlimmer. Wir verstärken nur deine … deine …«
»Wahnvorstellungen? Psychose? Komm schon, Ruth, das ist real. Du weißt es.«
»Ich weiß, dass ich panische Angst habe. Ich weiß, dass das, was da draußen passiert ist, nicht richtig war, es nicht … Alex, ich mache mir wirklich Sorgen.«
»Es kommt schon in Ordnung, Ruth, wirklich.« Ich breite die Arme aus. »Komm her.«
Sie setzt zu einer Umarmung an, dann löst sie sich von mir, drückt eine nackte Handfläche an meine Brust, meine Stirn. »Alex, deine Haut. Sie brennt.«
Aber mir ist nicht heiß und ich fühle mich nicht fiebrig. So ziemlich das Gegenteil, um genau zu sein; tief in mir breitet sich eine unendliche Kälte aus, fließt durch meine Adern und mit ihr kommt die ruhige, erschöpfte Überzeugung, dass ich vielleicht nie wieder die Chance dazu bekommen werde, wenn ich jetzt nicht schlafen gehe.
»Wirst du bei mir bleiben?«, frage ich sie. »Während ich schlafe?«
»Musst du noch fragen?« Ruth schluckt schwer und blinzelt gegen die Tränen an. »Glaubst du wirklich, ich könnte einfach gehen?«
∞
Nur, dass ich nicht schlafen kann.
Ich kann nur hier im Halbdunkel liegen, die Vorhänge ineffektiv gegen die strahlende Nachmittagssonne zugezogen, während zu viele Gedanken in meinem Gehirn um Aufmerksamkeit kämpfen. Manchmal fühlt es sich an, als würde ich schweben, dann fallen, ein Rausch ohne die Übelkeit, mein Geist immer noch scharf, immer noch klar, wenn auch irgendwie losgelöst von meinem Körper. Schweißtropfen bilden sich trotz der betäubenden Kälte und das ganze Bett scheint zu wackeln, aber nein, das ist nur mein Zittern. Kleine, elektrische Stöße, die durch meine Gliedmaßen fahren. So hatte Ruth wieder einmal recht. Ich habe Fieber, bin wahrscheinlich ernsthaft krank. Aber all das bemerke ich wie aus weiter Ferne, vollkommen emotionslos, noch nicht gleichgültig, aber auf dem Weg dorthin.
Ich höre ein Geräusch. Jemand atmet in meiner Nähe, sanft und flach, und ich öffne die Augen. Ruth sitzt immer noch auf dem Stuhl neben meinem Bett und ihre dunklen Augen beobachten mich aufmerksam. Aber ich will nicht, dass sie mich so sieht, eine Masse aus Haut und Schweiß und Dreck.
»Ruth?« Meine Stimme ist nicht mehr als ein jämmerliches Krächzen, aber sie hört mich, lehnt sich vor und nickt, als ich um Wasser bitte. Kaltes Wasser.
»Natürlich«, sagt sie. »Geh nicht weg, okay?«
Ein verzweifelter Witz, aber ich lächle trotzdem für sie, dann schließe ich die Augen und sehe die roten Wolken, die hinter meinen Lidern schweben, wirbeln, sausen, und plötzlich falle ich wieder. Schnell, schneller als vorher, aber ich werde mich nicht abwenden, werde meine Augen nicht öffnen. Ich lasse mich einfach fallen, halte es aus, bis das Brüllen in meinem Kopf zu einem Murmeln verblasst. Ein Zischen aus flüsternden Stimmen und Gelächter, lang gebrochenen Versprechen und Fetzen von halberinnerten Liedern.
Ist das das Delirium?
Erinnerung und Traum verbinden sich ununterscheidbar. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, wo ich bin und alles, was ich hören kann, ist das Schlagen meines Herzens. Es erklingt lauter als das Trampeln eines Riesen.
ba-dum ba-dum ba-dum
Das Schlagen meines Herzens, das Einzige, dem ich nie entkommen kann, egal, wie weit ich laufe.
Ich rolle mich von der Matratze und schiebe eine Kassette in den billigen Player, den Dory was weiß ich wo gestohlen hat. Raubkopierter russischer Folkpunk. Die Worte wären mir unverständlich, selbst wenn ich die Sprache verstünde, und das ist genau, was ich brauche. Eine Dosis von reinem, bedeutungslosem Lärm.
Das besetzte Haus ist eiskalt. Ich ziehe mir meine Stiefel und einen Mantel an und schwöre mir zum wiederholten Mal, dass ich die fehlenden Knöpfe bald ersetzen werde. Meine Haare sind zu kraus und lächerlich, um mir Mühe damit zu geben, also binde ich sie einfach zu einem Pferdeschwanz nach hinten. Hinter mir erwacht Dory mit einem Grunzen. »Wo du gehst?«
»Raus.«
Er schnüffelt und rollt sich herum, schiebt seine Pranke zwischen die Matratze und den Boden und tastet dort herum. »Wenn du Heike sehen?« Er wedelt mit einer Handvoll zerknitterter Scheine.
»Was auch immer.« Ich nehme das Geld und schiebe es tief in meine Manteltasche. Bis auf Farben und gammelnde Pinsel vom Flohmarkt habe ich noch nie gesehen, dass Dory für etwas Geld ausgibt außer für Heroin. Sein Geld, meine ich. Mit meinem wirft er nur zu gern um sich und gibt es für Wodka und Schnaps und das zuckerüberladene, künstliche Essen aus, das er ständig in seinen Mund schiebt. Aber ich werde seine verdammte Drogensucht nicht bezahlen und das weiß er.
»Stehst du auf?« Ich trete mit meinem Fuß gegen seine Schulter, fester als nötig. Aber er stöhnt nur und zieht sich die Decke über den Kopf. Dann soll er doch da liegen bleiben und verrotten. Ich habe von Dory alles gelernt, was möglich war, und trete jetzt nur noch auf der Stelle. Verschwende Zeit. Ich muss weiterziehen.
Ich schlage die Tür hinter mir zu.
ba-dum ba-dum ba-dum
»Jetzt gehst du nach Amerika, ja?« Heike bläst Rauch aus dem Mundwinkel und drückt ihre Zigarette aus. Natürlich Kools, direkt importiert aus den Staaten. »Vielleicht gehe ich mit. Dann haben wir jede Menge Spaß zusammen, machen eine Menge Dollar, ja?«
Ich lächle und nippe an meinem Kaffee. Was an diesem amerikabesessenen Mädchen geht mir so unter die Haut? Sie ist nur ein weiterer kleiner Dealer mit dem Traum, irgendwann irgendwas anderes zu machen. Schreibt ihre dummen Lieder und spielt ihre abgegriffene Gitarre vor Cafébesuchern, die sich nicht mal die Mühe geben, so zu tun, als würde es sie interessieren. Aber ich mag sie. Und mehr als das. Sie ist lustig und klug und süß, und wenn ich mit ihr zusammen bin, fühle ich mich offen. Ich fühle mich leicht.
Aber: »Ich will nicht nach Amerika, Heike.«
»O doch, du willst. In Amerika ist es anders. In Amerika gibt es keinen Dory.«
»Überall gibt es Dorys. Sie sind wie Schimmelpilze.«
Heike lacht und greift nach der nächsten Zigarette. Als sie sie an ihren Mund hebt und anzündet, versuche ich, mir nicht vorzustellen, wie es wäre, meine Finger zwischen diese Lippen zu schieben, zu fühlen, wie ihre Zunge meine Haut berührt.
Sie sucht meinen Blick. »Du und ich in Amerika. Denk nach, Madigan, wie wunderbar es sein wird.«
ba-dum ba-dum ba-dum
Es tut weh, sie so zitternd im Arm zu halten. Tut mehr weh als alles seit meiner Mutter. Ich küsse ihre nackte Schulter. »Heike, Baby, es ist okay. Ich verspreche, es wird alles gut.«
Sie schüttelt den Kopf. »Sie hassen mich. Sie hören mich nicht.«
»Sie werden dich hören, gib ihnen einfach Zeit.«
Ich lüge, und das tut auch weh, aber mehr kann ich nicht tun. Drei Monate in Seattle und der beste Gig, der ihr angeboten wurde, war in einer Coverband mitzuspielen. Niemand interessiert sich für ihre Musik und niemand will sich der Band anschließen, die sie ins Leben rufen will. Niemand versteht, beharrt sie. Niemand hört.
»Lass uns abhauen«, flüstere ich. »Wir können nach New York, dort neu anfangen. In New York werden sie dich lieben.«
Heike schüttelt den Kopf. »Niemand liebt mich.«
Ich weiß, was sie hören will, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Sie fühlen sich gefährlich an. Ich kann Heike anlügen, aber ihr die Wahrheit zu sagen macht mir Angst.
In dem Schweigen versteift sich ihr Körper und sie löst sich von mir.
ba-dum ba-dum ba-dum
Heike wedelt wieder mit dem Flugticket vor meiner Nase herum. Berlin, einfacher Flug, Business-Class. Mit diesem kleinen Anfall dürfte sie meine Kreditkarte ans Limit getrieben haben.
»Wir sind erst seit einem Monat in New York«, blaffe ich. »Was hast du erwartet? Dass jemand mit einem roten Teppich unter dem einen und einem Plattenvertrag unter dem anderen Arm an deine Tür klopft?«
»Du bist nach New York gekommen, ich wollte nicht nach New York.«
»Du wolltest Amerika. Sieh dich um, Heike. Besser wird es für dich nie werden.«
Ich bin nicht wütend, weil sie die Kreditkarte benutzt hat – der Vater-Fond wird die Summe am Ende des Monats ausgleichen –, sondern weil sie es hinter meinem Rücken getan hat. Ihre Entscheidung getroffen hat, ihr Ticket gekauft hat. Alles ohne mich.
Sie fängt an zu weinen.
»Heike, Baby.« Ein Teil von mir steht immer kurz vor dem Schmelzen, wenn sie um mich ist, und ihre Tränen reichen aus, um mich zu erweichen. »Bleib hier bei mir. Wir ändern das Datum auf deinem Ticket und nächsten Monat, wenn …«
»Ich gehe nach Hause«, sagt sie. »Ich hasse dieses Land, es ist eine Lüge, ein Lügner. Und du auch, Madigan, auch du bist eine Lüge. Du liebst mich nicht, ich bin für dich wie Dory. Du benutzt uns beide.«
»Heike, ich werde mit dir zurück nach Berlin kommen, das verspreche ich.«
Sie schnaubt abfällig. »Dein Versprechen ist Quatsch, stinkender Quatsch, Scheiße, eine Lüge. Du bist eine Lüge.«
»Und du eine Heuchlerin. Redest davon, andere zu benutzen. Seitdem wir hier angekommen sind, lebst du auf meine Kosten. Wer hat die neue Gitarre bezahlt, Heike, wer hat dieses Ticket bezahlt, du undankbares Miststück?«
Sie kneift die Augen zusammen. »Du glaubst, ich rede über Geld? Geld ist nichts, weniger als nichts.«
»Was der Grund ist, warum du nichts zurückzahlen wirst, nehme ich an.«
Es ist ein absolut harter Schlag und trifft ihren Stolz. Aber in mir kocht so viel Wut und Schmerz, dass ich nicht weiß, was ich sonst damit anfangen soll. Selbst als Heike die Zähne zusammenbeißt und meine Hand packt, selbst als sie ihre kantig geschnittenen Fingernägel in meine Handfläche gräbt, zucke ich nicht zusammen. Ich kann nicht. Ich werde nicht.
»Du bist ein Ghul«, zischt sie. »Ein Vampir, Nosferatu. Ich will dich nie wiedersehen. Du und Amerika, ihr pisst auf mich, ihr verdient euch.«
ba-dum ba-dum ba-dum
Die Fliesen bewegen sich schwarz-weiß hinter meiner Schulter, als ich mich in dem Bad des fremden Jungen in eine Ecke drücke. Was war es, verlange ich zu wissen, was hat er mir gegeben? Nur eine Glückspille, sagt er, etwas, was mir einen schnellen kleinen Hype verpasst. Schnell? Amphetamine, o Gott. Ich presse meine Hand auf die Brust, um mein Herz davon abzuhalten, herauszuspringen. Nur eine halbe Dosis, erklärt mir der Junge. Mach keinen Stress, Süße. Ich werde ihn umbringen, erkläre ich ihm, wenn ich das überlebe, werde ich ihn umbringen. Er grinst. Sicher, Süße. Genieß einfach den Trip. Meine Hände zittern, ich kann fühlen, wie mir Schweiß über die Kopfhaut läuft. Ich hätte nie auf diese Party gehen sollen, hätte nie etwas von den sinnlosen, leeren Sachen tun sollen, mit denen ich die letzten paar Wochen gefüllt habe. Ich hätte mit Heike zurückfliegen sollen nach Berlin. O Heike, o Baby, es tut mir leid. Ich liebe dich, tue ich wirklich. Das solltest du ihr wahrscheinlich sagen, meint der Junge und grinst wieder. Er legt seinen Kopf in meinen Schoß und ich lasse es zu.
Wenn ich das überlebe, werde ich es tun. Ich werde ihr sagen, dass ich sie liebe, ich werde ihr sagen, dass es mir leidtut, ich werde alles tun, was nötig ist, damit sie mir verzeiht. Halt durch, flüstere ich, ich komme. Mein Herz schlägt gegen meine Handflächen.
Berlin. Heike. Zuhause.
ba-dum ba-dum ba-dum
Eine Überdosis, erklären mir die zwei Mädchen, die jetzt in ihrer Wohnung leben. Vor weniger als einem Monat. Sie haben ein paar Kisten mit ihrem Zeug aufgehoben, nur für den Fall, dass jemand es abholen kommt. Was, ihrer Meinung nach, genauso gut ich sein kann. Ich nehme die Kisten.
Heike hat nie über ihre Familie gesprochen. Ich weiß nicht, ob sie Brüder oder Schwestern hatte oder ob ihre Eltern noch leben. Ob sie wissen, dass Heike tot ist. Dory weiß es auch nicht. Und ihm ist es auch vollkommen egal. Er hat einen anderen Dealer gefunden. Seine neue Freundin schlägt mir die Tür vor der Nase zu. Ich finde niemanden, der behauptet, mit ihr befreundet gewesen zu sein.
In den Kisten finde ich dreckige Kleidung und halbleere Make-up-Döschen. Eine Bürste. Die Umschläge der Notizbücher, in denen sie ihre Liedertexte gedichtet hat, alle Seiten sind jetzt herausgerissen. Da ist nichts von dem Amerika-Krimskrams, der früher ihre Wohnung gefüllt hat, nicht einmal ihre geliebte Jim-Morrison-Flagge. Und es gibt nicht den kleinsten Hinweis auf mich.
Ich verbrenne alles. Der Geschmack nach Benzin und Asche wird noch Tage anhalten, wenn ich mir die Zähne nicht putze. Alles außer einem Foto von Heike, das wir in unserer ersten Woche in Seattle mit einer Wegwerfkamera geschossen haben. Es ist leicht überbelichtet und nicht ganz scharf, aber Heike wirkt trotzdem wunderschön. Ihre kurzen Haare werden vom Wind um ihren Kopf geweht, ihre Augen sind hell und lebendig. Ich kann es nicht ertragen, sie in Flammen vergehen zu sehen.
Niemand sonst, beschließe ich. Niemand, nicht mehr, nie wieder.
Mein Herz kann den Schmerz nicht ertragen.
ba-dum ba-dum ba-dum
Schmerzen, ein fester Knoten tief in meiner Brust und ich weiche zurück, suche und navigiere instinktiv durch die Formlosigkeit, ohne wirklich zu verstehen, wonach ich suche. Nein, nicht wirklich instinktiv; etwas hier ruft mich, hier, hier, hier entlang. Warme Flüssigkeit auf meinen Lippen und ich trinke dankbar, meine Kehle ist ausgetrocknet, ich trinke und treibe zurück in mich selbst, zurück in die Leere, jetzt keine Gefahr, keine Bedrohung. Das kommt von dem singenden Auf und Ab von Stimmen im Hintergrund, weiblichen Stimmen – Heike? nein –, laut, aber unverständlich, die mich zurückziehen zu dem Schweiß auf meiner Haut, den feuchten Decken unter mir.
Alex? Alex?
Ich kämpfe gegen die Störung, rolle mich herum und sinke, jetzt schneller, tiefer, lausche auf den Herzschlag, damit er mich führt.
Sie zu suchen.
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Jemand in der Menge tritt mir gegen die Ferse und fast wäre ich gefallen. Selbst so früh am Morgen ist die Flinders Street Station voller Leute. Andere Studenten schwärmen in Richtung der Tram-Haltestelle, aber ich bleibe zurück. Vielleicht hole ich mir erst einen Kaffee. Kunstgeschichte kann warten.
Dann sehe ich ihn. Einen Kerl ungefähr in meinem Alter, der die Treppe der Haltestelle hinaufsteigt. Relativ groß und dünn, blonde Haare, die offen um seine Schultern hängen. Irgendwie süß, nehme ich an, aber deswegen habe ich ihn nicht bemerkt. Etwas an seinem Gesicht und seiner Art, sich zu bewegen, ist mir so vertraut. Diese vornübergebeugte, misstrauische –
Oh. Moment. »Hey, Lexi!«
Er schaut auf, und ich lache, rufe wieder seinen Namen, als ich zu ihm gehe. Aber in seinen Augen stehen solche Zweifel, dass ich schon glaube, einen Fehler gemacht zu haben.
»Lexi?«, frage ich. »Du bist es, oder?«
Er zögert, dann nickt er. »Madigan?«
Ich kann es nicht glauben. Lexi, mein Lexi. Ich freue mich so sehr, ihn zu sehen, dass ich nicht mal nachdenke. Ich werfe einfach nur die Arme um ihn und drücke zu. Weil ich das brauche. Diesen Teil meiner Vergangenheit, aus einer Zeit, als meine Vergangenheit gut war. Als sie noch strahlte.
Ich brauche das so sehr.
Als wir uns schließlich voneinander lösen, ist seine Miene so glücklich, so offen, dass mein Herz einen Sprung macht. Und ich fühle es. Ich kann es tatsächlich fühlen, wie die dicke Hülle meiner Einsamkeit einen Riss bekommt.
ba-dum ba-dum ba-dum
Ich habe solche Angst. Um Lexi, der neben mir träumt. Um die Zukunft, um das bisschen Zukunft, das ich vielleicht haben werde. Ich kann heute Nacht nicht mehr schlafen. Ich bin zu aufgewühlt. Ich gleite aus dem Bett und taste mich durch die Dunkelheit. Draußen im Wohnzimmer schalte ich die Stehlampe an. Einmal schlafen keine streunenden Kinder auf dem Sofa.
Ich nehme einen Pinsel und hebe den Stoff von der Leinwand. Ich habe dieses Porträt von Lexi erst vor drei Tagen angefangen. Jetzt beginne ich damit, es zu zerstören. Langsame, vorsätzliche Striche verschmieren die noch nasse Ölfarbe. Wann immer es nötig ist, füge ich weitere Farbe hinzu, bis die Leinwand nur noch von einem dreckigen Braun bedeckt ist. Das wird ein guter Hintergrund für ein anderes Bild. Etwas Düster-Bedrohliches. Vielleicht ein Selbstporträt? Nur das nicht. Nicht Lexi. Diese Beständigkeit macht mir Angst.
Als letztes übermale ich seine Augen. In ihnen liegt kein Vorwurf. Nur Verwirrung und Zärtlichkeit.
Scheiße!
Ich werde alles tun, um mich nicht mehr so zu fühlen. Ich werde nicht mehr zulassen, dass er mir etwas bedeutet, dass das Wir mir etwas bedeutet. Alles, um die Angst abzuwehren, die ständig an mir nagt, sich hebt und senkt mit jedem Schlag meines nutzlosen –
»Madigan?«
Lexi. Ich habe nicht gehört, wie er in den Raum gekommen ist. Ich schlucke schwer, richte mich auf und kläre mein Gesicht. Eine bitter-zerbrechliche Maske, meine automatische Reaktion. Niemand wird mich bemitleiden. Niemand wird es wagen. Lexi hinter mir seufzt. Seine Schritte entfernen sich durch den Flur. Ich weiß, was ich ihm antue, ihnen allen antue. Ich weiß es, aber ich kann nichts dagegen tun.
Ich habe diese Maske zu lange getragen. Jetzt fängt sie an, mich zu tragen.
ba-dum ba-dum ba-dum
Warum können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen, diese erbärmlichen kleinen Schwachköpfe? Ich bin sie unendlich leid, besonders Joaquin mit seinen abfälligen Kommentaren und seinem Schmollmund.
»Verschwindet verdammt noch mal von hier!«, schreie ich sie an. »Geht einfach, ihr alle, geht mir aus den Augen.«
Mark und Elizabeth springen ohne Protest von der Couch auf. Leigh folgt ihnen auf dem Fuß, aber Joaquin zieht nur eine Schnute. Er will wissen, wann sie zurückkommen können.
»Nie«, blaffe ich. »Ich will keinen von euch jemals wiedersehen. Sag das den anderen, okay? Niemals.«
Es wird nicht funktionieren. Sie werden zurückkommen. Und es ist mein eigener Fehler, weil ich sie überhaupt erst eingeladen habe. Ihre Fragen ermuntert habe und sie habe glauben lassen, ich wäre ihr verdammter Guru, obwohl ich doch eigentlich nur einen Resonanzboden haben wollte. Etwas, an dem ich meine Theorien testen konnte, um zu sehen, was hängen blieb und was unterging. All meine abgeschmackten, kindlichen Theorien über das Leben, die Kunst und den Tod. So eine unglaubliche Zeitverschwendung. Denn vor mir hat sich eine neue Welt eröffnet, und nur Serge kann mir beibringen, wie ich mich in ihr zurechtfinde.
Lexi wandert aus dem Flur herein. »Könntet ihr vielleicht ein wenig leiser sein?«
Leigh zieht ein mürrisches Gesicht. Joaquin wirft ihm einen hoffnungsvollen Blick zu.
»Tut mir ja so leid, Lexi«, spotte ich. »Ich wusste ja nicht, dass du etwas Wichtiges tust.«
Ich wünsche mir, er würde einmal zurückbeißen. Ich will, dass er mich anschreit, vielleicht sogar schlägt. Ich will einen Streit. Aber er zuckt nur mit den Achseln, bevor er sich seine Schlüssel schnappt und sich dem Exodus aus dem Haus anschließt. Zur Hölle mit ihm. Zur Hölle mit ihm und seiner ständigen Ausweichstrategie.
Bedeutet es ihm denn gar nichts mehr?
Joaquin hat ein Glas auf dem Couchtisch stehen gelassen. Zwei Fingerbreit Cola schwappen über den Boden, als ich es an mich reiße und gegen die Wand schmeiße. Der klirrende Aufprall ist unendlich befriedigend. Braune Soße tropft auf den Teppich. Scherben fangen das Licht ein. Der Drang, mit meinem nackten Fuß auf eine von ihnen zu stampfen, ist fast unwiderstehlich.
Oh, o Scheiße, ich werde nicht weinen. Ich werde nicht weinen.
Mir wird schwindlig und ich drücke eine Hand an die Brust, den anderen Arm schlinge ich um den Bauch. In mir gibt es jetzt zwei Herzschläge. Ich bin nicht mehr sicher, welchen davon ich mehr fürchte.
langsames Kriechen Richtung Bewusstsein, desorientiert, unterschwellige Wut unter meiner Haut, und irgendwo streitet jemand, laute, hohe Stimmen. Ich stolpere ins Wohnzimmer, viel zu hell, beschatte meine Augen mit einer Hand: Was ist los, könnt ihr mal leiser sein? Ruth und Erin und ausgerechnet Serge halten mitten im Satz inne, um mich anzustarren, und was, was zur Hölle starrt ihr alle an? Plötzliche Bewegung des Bodens und meine Knie geben nach, Ruth läuft mir zu spät mit ausgestreckten Armen entgegen, ich falle, der Teppich brennt an meinem Ellbogen, verschwitzte Haare fallen mir wie ein Netz über das Gesicht, Galle hebt sich scharf in meiner Kehle und
das Messer ist glitschig in meiner Hand, der kupferartige Geschmack seines Blutes so wunderbar, so richtig, und ich schlucke … der Wein seltsam sauer, zwischen den Zähnen sandig wie Erde, aber es ist jetzt zu spät zu zweifeln, also schließe ich die Augen und versuche mich darauf zu konzentrieren, was Serge sagt … mit dem Telefon fest ans Ohr gepresst hasse ich mich dafür, dass ich diese Dinge sage, trotz dem fast hysterischen Ton meiner Stimme, aber ich muss mir sicher sein, wo er ist, muss mir sicher sein, dass er sich betrinken wird, weil … wer hätte gedacht, dass sie so einen Haufen ergeben würden, diese roten Locken, die sich wie rostige Sprungfedern um meine Füße legen und jetzt ist es so weit, Showtime, unmöglich, jetzt noch einen Rückzieher zu machen, und meine Hand zittert, als ich nach der Klinge greife … elend und kalt, der überwältigende Druck des Nichts, Auflösung verfolgt mich wie ein Bluthund, aber das Innere wird halten, wird es, und dort, dort ist es, die Pforte, o bitte, o bitte, wenn ich sie nur berühren kann … Fleisch schließt sich heiß und eng um mich und ich bin verängstigt, überglücklich, lebendig, o Gott, lebendig … im Badezimmerspiegel starre ich den Jungen an, das schmierige, dreckige Spiegelbild, und ich nehme an, das bin jetzt ich, verknotete blonde Haare, die geschnitten werden müssten, unrasiertes Kinn und rotgeränderte Augen, meine Augen, das Erkennen augenblicklich und entscheidend und erschütternd: das bin ich, das bin ich, das bin
ich, das bin ich, Alexander Aaron Bishop, starre mich selbst durch Madigans Augen an, sehe Lexi, sehe sie selbst, sehe mich selbst und der Effekt ist so verstörend, dass mein erster Impuls ist, wegzulaufen, mich so weit wie möglich von all dem zu entfernen, aber nein, nein, denn es ist fast, wo ich sein muss, also dränge ich weiter, tiefer, kämpfe mich durch die Barrieren, bis es nicht länger möglich ist, zwischen Madigan und Alex zu unterscheiden, zwischen Traum und Wirklichkeit, bewege mich schneller, schneller, bis schließlich
knalle den Spind zu, stelle sicher, dass der Riegel eingerastet ist, bevor ich den Schlüssel abziehe. Es ist spät in der Nacht und nur die Überwachungskameras passen auf
der Ort ist mir nicht vertraut, aber auf den Schildern an der Wand steht U-Safe 24-Stunden-Lagerung, und jetzt weiß ich es, ich bin auf meinem Weg zur Arbeit Hunderte Male daran vorbeigefahren. Ich suche weiter, immer weiter, die Barrieren, die hier errichtet sind, sind viel stärker, es ist, als drängte ich mich durch geschmolzenes Glas, aber kalt, eine Kälte, die von tief innen kommt und wehtut, mit scharfem, stechendem Schmerz, unerträglich, aber es spielt keine Rolle, weil ich ihn bereits gesehen habe, den Schlüssel, der überhaupt nicht versteckt ist, so offensichtlich, dass ich nicht anders kann, als zu lachen, als ich von der Bresche weggestoßen werde, ein lautloser Taumel der Geschwindigkeit und ich falle, falle
ins Hier und Jetzt. Das helle Schlafzimmerlicht zaubert einen Heiligenschein über Ruths Kopf, meine gramerfüllte Madonna, die einen kühlen, feuchten Waschlappen an meine Stirn drückt.
»Hey du.« Sie lächelt. »Willkommen zurück in der Welt.«
»Ruth.« Ich packe ihre Hand. »Mein Schlüsselbund, Ruth, er war die ganze verdammte Zeit an meinem Schlüsselbund.«