Kapitel 6

Kapitel-06.tif

Hinter mir gleitet die Tür zum Speisezimmer auf und ich drehe mich auf meinem Stuhl. Das plötzlich einfallende künstliche Licht ist hell genug, um mich blinzeln zu lassen.

»Ich dachte, du wärst gegangen«, sagt Bailey.

Ich schüttle den Kopf. »Ich musste nur für eine Weile allein sein.«

»Mmm.« Es folgt eine unangenehme Pause. Stimmen driften über den Flur und Bailey scheint auf sie zu lauschen. Oder auf jeden Fall lauscht er auf etwas oder nach etwas. Plötzlich tritt er zurück und deutet mit der Hand auf den Flur. »Komm ins Arbeitszimmer, Alex. Wir müssen uns unterhalten.«

Es war einmal der Wintergarten – Katherines Wintergarten – und es entsetzt mich zu sehen, wie er sich verändert hat: ordentliche vertikale Jalousien, wo früher luftige Spitze hing; Ledersessel und ein Schreibtisch aus dunklem Holz statt der gemütlichen Couch mit Blumenmuster, auf der Katherine gewöhnlich saß, um zu lesen oder zu nähen oder auch einfach nur verträumt ins Nichts zu starren, während das Sonnenlicht ihre nackten Beine beschien. Und, am allerschlimmsten, ein grauer Teppich, der sich von Wand zu Wand zieht, ohne Erinnerungen an den psychedelischen Flokati zu beschwören, auf dem Madigan und ich an regnerischen Nachmittagen lagen und in der Kakophonie aus Farben und Formen Monster, Engel und namenlose, wilde Kreaturen jagten.

»Setz dich, Alex.« Bailey deutet auf einen Stuhl, dann setzt er sich selbst hinter die weite Fläche des Schreibtischs. Er verschränkt die Finger zur klassischen Anwaltspose.

»Worum geht es hier?« Mein Tonfall ist unfreiwillig abwehrend; mein Lächeln kommt zu spät und ist zu schwach, um das wettzumachen.

»Nur ein paar offene Fragen«, blafft Bailey. »Es sollte dich nicht lange aufhalten.«

»Tut mir leid, ich habe nicht … Es tut mir leid, okay? Fangen wir neu an?«

»Fangen wir neu an …« Nur für eine Sekunde sinken seine Schultern genauso nach unten wie seine Lider und ich erhasche einen Blick auf das, was sich hinter der Maske versteckt, hinter dieser Fassade von ruhiger, fähiger Distanz. Schmerz und Trauer, zu tiefsitzend, um angesprochen zu werden; allein die Tatsache, dass ich es gesehen habe, ist uns beiden peinlich, wie die Beichte eines Betrunkenen, an die man sich im hellen Licht der Nüchternheit erinnert.

»Wie hält sich dein Dad?«, frage ich.

»Ganz gut, er ist oben und ruht sich aus. Es war sehr schwer für ihn, aber er ist stärker, als er aussieht. Er wird darüber hinwegkommen.«

»Da bin ich mir sicher.«

»Ja.« Er wirft mir einen harten, prüfenden Blick zu und trommelt mit den Fingernägeln auf das Holz des Schreibtisches. »Wir müssen uns über Madigan unterhalten.« Seine Hand gleitet unter der Tischplatte außer Sicht und ich höre das trockene Kratzen einer Schublade. Instinktiv wird mir flau im Magen. Was für eine neue, hässliche Enthüllung erwartet mich? Aber letztendlich ist es nichts allzu Dramatisches, nur eine eckige Metallkiste, silbern und so klein wie ein Puppensarg. Das windige Schloss daran wird durch ein übergroßes, starkes Vorhängeschloss verstärkt.

»Meine Schwester hat kein Testament hinterlassen, kein richtiges«, sagt Bailey. »Nur eine Notiz, sehr kurz und knapp – keine Entschuldigungen, keine Erklärungen, nur eine Liste von … Forderungen, letzten Wünschen, so was in der Art. Dad möchte, dass sie geehrt werden.«

»Oh.«

Er greift in sein Jackett, zieht einen dicken weißen Umschlag heraus und legt ihn vor mir auf den Tisch. »Da drin sind etwas unter 5000 Dollar, die Summe auf ihrem persönlichen Bankkonto. Es gehört dir.«

»Fünftausend …« Ich starre ihn entgeistert an, die Hände in meinem Schoß verschränkt. »Du machst Witze, oder? Das kann ich nicht annehmen.«

»Dann spende es für wohltätige Zwecke oder verbrenn es, mir ist es egal. Madigan wollte, dass du es bekommst, jetzt will Dad, dass du es bekommst – also nimm einfach das verdammte Geld, okay?«

Seine Augen glühen und in seiner Stimme liegt mehr als nur Frustration, mehr als nur Verärgerung. Er gibt mir die Schuld. Dieser Gedanke schießt heiß und plötzlich durch meinen Kopf wie das Blut in meine Wangen. Er macht mich dafür verantwortlich. Der Umschlag liegt warm und schwer in meiner Hand und ich stopfe ihn so schnell wie möglich tief in meine Manteltasche.

Blutgeld.

Der Drang, die Hand an meinen Jeans abzuwischen, ist fast unwiderstehlich.

»Das hier ist auch noch da.« Er schiebt mir über den Tisch hinweg die Metallkiste zu. »Wir konnten keinen Schlüssel finden und Dad hat darauf bestanden, dass es dir unversehrt überreicht wird, also weiß Gott allein, was sich darin befindet.« Ein bitteres Lächeln begleitet seine Worte. »Gott und meine Schwester.«

Lass sie verschwinden, will ich ihm sagen. Wirf sie weg.

Stattdessen hebe ich die Kiste hoch und drehe sie in meinen Händen. Es überrascht mich ein wenig, wie wenig sie wiegt. So leicht, fast als – für einen Moment drängt sich die Idee auf, dass die Kiste letztendlich leer ist, nichts ist außer ein dummer Spaß über den Tod hinweg. Wie sehr würde das Madigan ähnlich sehen. Aber nein, etwas ist darin, denn als ich die Kiste ans Ohr halte und schüttle, höre ich ein leises Rutschen und Kratzen.

Bailey räuspert sich. »Madigan hat auch verlangt, dass du einige oder alle von ihren persönlichen Dingen erhältst, solltest du sie wollen.«

»Ihre persönlichen Dinge?«

»Ja, obwohl es natürlich einige Dinge gibt – Schmuckstücke und so weiter –, die wir gerne in der Familie behalten würden.« Beiläufig zieht er einen Kugelschreiber aus dem Stiftbecher und dreht ihn zwischen den Fingern. »Du verstehst natürlich, dass nichts davon gesetzlich bindend ist. Sollten wir uns dazu entschließen, können wir alles vor Gericht anfechten.«

Bailey im Boston-Legal-Modus ist einfach zu surreal. Ich schiebe meinen Stuhl nach hinten und stehe auf. »Hör mal …«

»Bitte.« Er steht langsamer auf und hebt seine rechte Hand in einer geübten, beruhigenden Geste. »Das habe ich schlecht formuliert, ich wollte nicht andeuten …«

»Was, dass ich hinter eurem Geld her bin? Ja, sicher, meine Freundin tötet sich mit einem Schlachtermesser und ich kann nur daran denken, wie ich ihre Familie so übers Ohr haue, dass ich mir eine frühe Rente gönnen kann.«

»Alex …«

»Du bist derjenige, der mich in erster Linie hierhergebeten hat, vergiss das nicht.«

»Lass mich dir versichern, dass ich überhaupt nichts vergessen habe.« Seine Stimme ist kälter als Frost und zweimal schärfer. »Wie zum Beispiel, dass du vor ein paar Monaten nicht so scharf darauf warst, sie als deine Freundin zu bezeichnen.«

Meine Fäuste zittern an meinen Seiten. »Pass auf, Bailey.«

»Nein, du passt besser auf. Ich weiß nicht genau, warum meine Schwester sich umgebracht hat, aber ich weiß, dass sie dich geliebt hat und vielleicht, wenn du sie nicht im Stich gelassen hättest …«

»Im Stich gelassen? Hat sie dir das erzählt?«

»Nein«, blafft er. »Sie hat uns erzählt, dass es ihre Entscheidung war, dass sie dir die Zeit geben will, um dich an die Idee zu gewöhnen. Aber ich bin kein Idiot, Alex. Glaubst du, ich konnte nicht zwischen diesen Zeilen lesen?«

an die Idee gewöhnen

Plötzlich fühle ich mich desorientiert, als hätte man mich dreimal um meine eigene Achse gedreht und mich dann auf der Kante einer Klippe abgesetzt. Die Wut in meinem Bauch verpufft mit erstaunlicher Geschwindigkeit.

Schau nicht runter, du willst gar nicht wissen, was da unten ist.

Aber es ist zu spät, ich habe bereits genug gesehen.

»Du hast nicht einmal versucht, dich mit ihr in Verbindung zu setzen«, sagt Bailey gerade. »Nicht ein einziges Mal. Hattest du vor zu warten, bis das Baby die Highschool hinter sich hat?«

das Baby

Und jetzt falle ich. Seine Worte hallen in meinem Kopf wider wie die Töne einer gesprungenen Glocke, während ich nach einem Halt suche. Denn nichts von all dem ergibt Sinn. Die ganze Idee ist so verrückt, dass ich nicht mal anfangen kann, sie zu verstehen, und noch weniger die Folgen daraus, und plötzlich liegt Baileys Hand an meinem Arm und er lässt mich wieder in meinen Stuhl gleiten – Himmel, Alex, ist dir schlecht? –, ich beginne zu zittern. Ein allumfassendes Zucken, das meinen Magen verkrampfen lässt und mir den Atem nimmt, bevor es meine Haut erreicht: meine Hände, meine Schultern, selbst meine Knie zittern so unkontrolliert, dass ich lachen will, aber stattdessen anfange zu weinen.

Ein Baby, mein Baby; wie konnte sie mir das nicht erzählen? Wie konnte sie …

»Du wusstest es nicht«, flüstert Bailey. »O zur Hölle, Alex, es tut mir so leid.«

»Wie lang … wie …« Ich räuspere mich und versuche es noch mal. »Wie weit fortgeschritten war die Schwangerschaft?«

»Fast fünf Monate.«

Ein hastiger geistiger Überschlag, der nächste brutale Stich. Drei Monate schwanger, als wir uns getrennt haben, genug Zeit, um sich sicher zu sein, fast schon genug, um offensichtlich zu werden, aber trotzdem hatte ich nichts vermutet. Und es hatte auch keine Andeutungen von Madigan gegeben, keine indirekten Anspielungen oder spottende, listige Kommentare; nur ein weiteres, schmerzhaftes Geheimnis, über das ich stolpern konnte, eine weitere Schicht, die ich abtragen konnte.

»Sie hat mir gesagt, du wüsstest es«, erklärt Bailey. »Ich schwöre, ich dachte, du wüsstest es.«

Ich lasse den Kopf in die Hände sinken, drücke meine Finger fest gegen meine Schläfen und versuche den Klang seiner Stimme auszublenden. Entschuldigungen und verunsicherte Erklärungen, nichts, was ich im Moment hören will; nichts, was ich jemals hören will.

Aber was ich nicht ausblenden kann sind die Bilder, das erbarmungslose Aufblitzen einer Zukunft, die es nie geben wird: Madigans dicker Bauch unter meinen Händen; das Treten von Kinderfüßen, begierig auf die Welt; mein neugeborenes Kind in meinen Armen, die Haut so warm und weich und süß, während sich Spuckeblasen in seinem Mundwinkel bilden; vielleicht ihrem Mundwinkel, ein kleines Mädchen mit roten Locken und leuchtend grünen Augen, begeistertes Kichern und ihre dicklichen kleinen Fingern in meinen, als sie ihre ersten wackeligen Schritte macht.

Phantome eines Kindes, das zu wünschen ich mir nicht mal erträumt hatte.

»Hier.« Bailey berührt meine Schulter. »Trink etwas Wasser.«

Das Glas ist eiskalt, die Flüssigkeit darin nur ein oder zwei Grad über dem Gefrierpunkt und quasi geschmacklos; der kleinste Schluck hängt kalt in meiner Brust. Ich umklammere die glatte Oberfläche mit beiden Händen. Halte mich daran fest.

»Es ergibt keinen Sinn«, sagt Bailey. »Warum sollte sie dir nichts sagen?«

Ich schüttle den Kopf.

»Und dann das … das zu tun. Ich verstehe nichts mehr.« Er kratzt an der weichen Haut um seinen Fingernagel. Madigan hat dasselbe getan, nur schlimmer: Sie grub sich tief hinein, manchmal tief genug, dass es blutete, sodass weiße Hautfetzen zurückblieben, an denen sie nagen konnte. »Hilf mir, Alex, dir muss doch was einfallen.«

»Wirklich? Warum? Was lässt dich glauben, dass ich etwas weiß?«

Seine Hände sind weit geöffnet, flehend. »Weil du … sicherlich, in all dieser Zeit habt ihr beide … sie muss doch etwas gesagt haben.«

»Nein.«

»Aber Alex, sie …«

»Nein! Sie hat nie ein Wort gesagt. Nicht zu mir.«

»Und zu jemand anderem?«

»Ich weiß es nicht, vielleicht. Vielleicht zu Joaquin, vielleicht zu …«

Madigan und ich standen uns recht nahe, wir haben gewisse Dinge geteilt. Wenn du je reden willst, wenn dich je etwas beunruhigt.

Serge? Hat er es gewusst, dieses fette Arschloch, hat er es die ganze Zeit gewusst? Vielleicht hat sie sich doch an seiner Schulter ausgeweint, ihm all ihre Geheimnisse ins Ohr geflüstert. Der Gedanke, wie sie an ihn gekuschelt liegt, fast verborgen in den schwabbeligen Tiefen seiner Arme, bringt mich fast zum Lachen.

Fast.

»Bailey, ist irgendwer gekommen, um sie zu besuchen, während sie hier war? Ein dicker Kerl vielleicht, wirklich dick, trägt so ein abgetragenes braunes Cape?«

»Nein.« Ohne zu zögern. »Soweit wir wissen, hat nicht mal jemand angerufen. Sie hat ihr Schlafzimmer kaum verlassen, ganz zu schweigen vom Haus. Schau, bist du dir absolut sicher …«

Seine Stimme verklingt, als die Tür zum Arbeitszimmer aufschwingt. Ausgelaugt vom blässlichen Licht der Deckenlampe scheint Mr. Sargood noch ein weiteres Jahrzehnt gealtert. Seine Wangen sind eingefallen, seine Lippen liegen dünn über seinen Zähnen.

»Dad.« Bailey tritt einen halben Schritt auf ihn zu, aber der alte Mann hat sich bereits mit ausgestreckten Händen in Bewegung gesetzt und umfasst die meinen, bevor ich auch nur aufstehen kann.

»Es ist schön, dich wiederzusehen, Alex. Danke, dass du gekommen bist.«

Seine Hände sind weich, fest und glatt, so gebieterisch wie immer.

»Das ist okay, Mr. Sargood. Ich meine, es ist kein Problem, es ist …«

»Schwierig. Ja, ich weiß.« Er lächelt oder tut etwas Ähnliches. »Hinter dieser Tür wartet ein ganzes Haus voller Leute, die es kaum erwarten können, mir zu zeigen, wie schwierig es ist.«

»Dad.« Bailey legt eine Hand auf die Schulter seines Vaters. »Ich dachte, du wolltest oben bleiben. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich mich hier unten um alles kümmere.«

Mr. Sargood sagt gar nichts. Er starrt mich nur weiter mit diesen wässrigen grauen Augen an und ich zwinge mich, den Blick zu erwidern.

»Dad?« In Baileys Stimme schwingt jetzt Ungeduld mit; er wird ungefähr genauso gerne fremdbestimmt, wie es bei seiner Schwester der Fall war. »Alex hat nicht mehr Informationen als wir. Madigan hat ihm nicht einmal gesagt, dass sie schwanger war, ganz zu schweigen von dem Warum ihres …«

»Ja«, sagt Mr. Sargood und starrt mich immer noch an. »Ich will, dass du weißt, Alex, dass du nicht dafür verantwortlich bist. Nicht in irgendeiner Form, nicht für einen einzigen Moment.«

»Mr. Sargood, ich …«

»Ich hoffe, du kannst meinem Sohn seine Anschuldigungen von vorher verzeihen. Er hat seine Schwester sehr geliebt und scheint zu denken, dass er sich nur fest genug an seine Wut klammern muss, um den Schmerz gar nicht erst aufkommen zu lassen. Er erinnert sich nicht, wie es bei seiner Mutter war – dass verzögerter Schmerz verlängerter Schmerz ist.«

Ich nicke, weil ich nicht weiß, wie ich darauf antworten soll.

Bailey schweigt ebenfalls, sein Gesicht ist gerötet von genau dem Zorn, vor dem sein Vater gewarnt hat. Oder vielleicht ist es auch die Erniedrigung oder die Entrüstung darüber, dass jemand ihn so gut kennt. Darüber, dass dieses Wissen so unverblümt preisgegeben wird.

»Komm, Alex.« Mr. Sargood ergreift meinen Ellbogen und führt mich zur Tür. Automatisch passe ich meine Schritte an seine an – langsam und gleichmäßig, nur zwei alte Männer auf einem Spaziergang.

»Wo gehen wir hin?«, frage ich.

»Zum Zimmer meiner Tochter. Bailey hat dir von ihren letzten Wünschen erzählt?«

»Hat er, ja, aber ich will wirklich nichts haben, Mr. Sargood. Ich fühle mich nicht einmal gut damit, das Geld zu nehmen, wissen Sie, es ist nicht so …«

»Ruhig.« Nur dieses eine Wort, kaum mehr als ein Ausatmen.

Ich klappe den Mund zu.

»Hier spricht deine Trauer, gepaart mit ein wenig – wahrscheinlich sogar mehr als nur ein wenig – Schuldgefühl. Unberechtigt, wie ich dir bereits gesagt habe.« Der alte Mann hustet, und sein Griff an meinem Ellbogen wird fester. »Jetzt hör mir zu. Wir werden hochgehen in das Zimmer meiner Tochter und du wirst dich umsehen und alles betrachten, was sie zurückgelassen hat. Vielleicht gibt es etwas, das du vergessen hast, etwas Kleines, ein Relikt der Kindheit, in der ihr beide so eng verbunden wart. Etwas, das du gerne als Erinnerung an sie haben würdest, wenn die Trauer und die Schuldgefühle nachlassen. Oder vielleicht gibt es auch nichts dieser Art.« Eine kurze Pause, dann spricht er weiter: »Aber du wirst schauen. Weil sie es so wollte.«

Die neue Einrichtung im Wintergarten hatte mich überrascht, aber noch schockierender ist es, Madigans Zimmer mehr oder weniger so wiederzusehen, wie es in meiner Erinnerung aussieht. Die Feen-Tapete, die oft als zu kindlich verdammt, aber trotzdem nie ganz losgelassen wurde, die Bücherregale voller Nancy-Drew- und Narnia-Bücher, das riesige viktorianische Puppenhaus, das ihr am eifersüchtigsten bewachter Besitz war – alles unverändert.

Aber warum nicht. So muss es ausgesehen haben, als sie abgefahren war, und so hatte es hier gewartet, geduldig und loyal, die ganze Zeit, während sie um die Welt reiste. Armer alter Raum, so bald wieder verlassen, nachdem sie endlich zurückgekehrt war, ignoriert, kaum dass sich die Chance auf eine andere Unterkunft ergab. Für mich ignoriert, für meine heruntergekommene Bruchbude und eine Handvoll dämlicher Kids.

Und dann wurde von dem Zimmer erwartet, sie zurückzunehmen.

Der Gedanke daran, wie die erwachsene Madigan unter der rosafarbenen, mit Rüschen versehenen Überdecke schläft, lässt erneut Trauer in mir aufsteigen. Nicht um Madigan, die Frau, sondern um das kleine Mädchen, das vor so langer Zeit in diesem Raum gelebt hat. Das kleine Mädchen, das mir ihre Träume davon anvertraute, was sie werden wollte, wenn sie groß war, ohne je zu vermuten, wie schnell all das hinfällig werden sollte.

Ich drehe mich zu ihrem Vater um, hinter dem ihr Bruder steht.

»Hier gibt es nichts, was ich haben will.«

»Nichts?«, drängt Mr. Sargood. »Bist du dir sicher?«

Was erwartet er, das ich wähle: den Schmuckkasten, der »Bruder Jakob« spielt, den Miniaturflügel aus dem Puppenhaus? Aber er wirkt wie ein Antiquitätenhändler, dessen Waren abgetan wurden, also gehe ich zur Kommode hinüber und hebe das zerbrechliche Einhorn aus mundgeblasenem Glas auf, das Katherine ihrer Tochter zum Geburtstag geschenkt hat. Ich kann mich nicht erinnern, in welchem Jahr.

»Das war von Mum«, sagt Bailey.

»Ich weiß.« Ich drehe das Einhorn in meinen Händen, teste die Spitze seines Horns an einer Fingerspitze und durchlaufe so scheinbar alle Stadien des Nachdenkens. Ich werde es mitnehmen, warum zur Hölle nicht, es wird sie glücklich machen – es wird zumindest ihren Vater glücklich machen – und alles, was ich tun muss, ist es in eine der Kisten im Gästezimmer zu werfen, bevor ich das ganze Zeug morgen früh zur Heilsarmee fahre. Es ist ja nicht so, als würden sie je zum Abendessen vorbeikommen, um nachzuschauen, ob es noch da ist.

»Alex, ich frage mich.« Mr. Sargood lächelt kurz. »Würdest du etwas für mich tun, wenn ich sagen würde, es ist wichtig?«

Eine bedeutungsschwere Frage, wenn ich je eine gehört habe. »Ich nehme an. Hängt davon ab.«

»Von der Natur der Bitte, natürlich.« Er schweigt für einen Moment, als müsste er sich entscheiden, ob er fortfahren solle oder nicht. »In den letzten zwei Jahren standest du meiner Tochter sehr nahe. Wir können wohl sagen, dass du sie letztendlich besser kanntest als jeder andere.«

Das Horn des Einhorns ist zu stumpf, um die Haut zu durchstoßen, selbst wenn ich es tief in meinen Daumenballen drücke, aber immerhin reicht der Schmerz aus, um das Lachen zu kontrollieren, das mir in die Kehle steigt.

Ich kannte sie? Himmel, genauso gut könnte ich behaupten, die Geheimnisse der Sphinx zu kennen.

»Ich neide dir diese Vertrautheit nicht«, spricht Mr. Sargood weiter. »Habe ich nie. Aber jetzt will ich etwas wissen. Ich will wissen, warum das passiert ist, was an ihrem Leben so … verdorben war, dass sie die einzige Lösung darin sah, es zu beenden. Ich will wissen, ob es etwas gegeben hätte, was ich hätte tun können.«

Ich muss wissen, dass ich nichts hätte tun können.

Die Empfindung unausgesprochen, aber nur zu vertraut, weil sie die Unsicherheit aufgreift, in der ich meine letzten Tage verbracht habe. Aber ich werde es nie wissen, niemand wird das, und so gebe ich ihm die einzige Antwort, die mir möglich ist, diejenige, mit der ich mich selbst betrogen habe, obwohl ich sogar in dem Moment, in dem ich sie ausspreche, weiß, dass es fast sicher eine Lüge ist.

»Es war wegen ihrer Krankheit, oder? Wegen ihrem Herz.« Ich drücke das Einhorn wieder gegen meine Hand und räuspere mich. »Ich nehme an, sie war es einfach leid. War es leid, auf den Tod zu warten und nie zu wissen, ob es morgen passieren könnte oder am Tag danach. Oder in einem Jahr. Das würde mir auch Angst machen, das kann ich Ihnen sagen. Es hat mir Angst gemacht, und ich war nicht einmal derjenige, der mit dieser Gefahr in mir selbst leben musste.«

Die Blicke, die Bailey und sein Vater wechseln, sind für mich nicht zu deuten.

»Ich bin mir nicht sicher, was Madigan dir erzählt hat«, sagt Bailey. »Aber sie war nicht in Gefahr, einfach umzukippen und zu sterben, weißt du?«

Mr. Sargood nickt zustimmend. »Ihr Zustand war ernst, aber nicht notwendigerweise das Todesurteil, als das sie es manchmal sah. In den letzten paar Wochen haben wir sie ermuntert, einen Spezialisten in der Stadt aufzusuchen. In naher Zukunft gibt es vielleicht sogar eine Operation, und die Medikamente schienen alles sehr gut zu kontrollieren.«

»Medikamente?«

»Ihre Pillen. Sie hat sie doch genommen, als sie bei dir gelebt hat?«, fragt Bailey. »Sie hat uns versprochen, sie zu nehmen.«

Eine Erinnerung: Ich betrete das Bad – bereits jenseits der Grenze, höflich zu klopfen, selbst wenn die Tür geschlossen war –, um Madigan mit einem überrascht-schuldbewussten Gesichtsausdruck zu entdecken, zwei gelbe Tabletten in der einen, ein Glas Wasser in der anderen Hand. Verhütung, ein scharf gesprochenes Wort, als hätte ich kein Recht, sie zu hinterfragen, aber zumindest lächelte sie dabei. Was, nach all dieser Zeit, dachtest du, du schießt mit Attrappen?

Verhütung, im Rückblick ein ziemlich böser Witz.

»Aber was ist mit Katherine?«, frage ich. »Katherine ist doch daran gestorben.«

Mr. Sargood runzelt die Stirn und schiebt sein Kinn vor. »Bei meiner Frau lag die Sache anders. Es gab Komplikationen und es wurde zu spät diagnostiziert. Bei meiner Tochter mussten solche Probleme nicht auftreten, es ging lediglich um die richtigen Tests und das richtige Timing. Die medizinische Wissenschaft hat Fortschritte gemacht, es gibt neue Behandlungsmethoden, zu denen meine Frau noch keinen Zugang hatte.«

Lügner

Bitte, nicht mehr, nicht noch mehr davon. Ich hatte genug für einen Tag, für ein ganzes Leben: Madigan beerdigt; Madigan schwanger; Madigan doch nicht sterbenskrank. Ein neues Kopfweh fängt an, in meinen Schläfen zu pochen. Neu? Nein, geht mir auf, dasselbe, das mich seit Tagen begleitet, mal schlimmer, mal weniger schlimm, ein ständiges Hintergrundgeräusch, das zu vertraut ist, um es noch zu bemerken.

»Also wirst du uns helfen, Alex?«

Ich blinzle, suche nach Worten und versage. »Ähm.«

»Du kanntest sie am besten«, erklärt Mr. Sargood. »Du kanntest die Leute, mit denen sie sich getroffen hat, die Leute, die ihr nahestanden, diejenigen, denen sie sich vielleicht anvertraut hat. Wir brauchen das, Alex, wir alle, wir müssen wissen, warum. Sicherlich kannst du das verstehen?«

Nur zu gut.

vorsichtig, Lexi, lass dich jetzt nicht einfangen

Ich kann die Falle vor mir sehen, als Köder versehen mit gemeinschaftlichem Kummer und Schuldgefühlen. Sie werden mich niemals gehen lassen, diese Leute, genauso wie sie sie niemals gehen lassen können, und es tut mir leid, so sehr leid, aber ich kann das nicht mehr tun.

»Ich kann Ihnen nicht helfen«, erkläre ich ihnen. »Ich kenne so gut wie keinen ihrer Freunde.«

»Du kennst mehr von ihnen als wir«, sagt Bailey.

geh, Lexi, geh einfach

Mr. Sargood macht einen Schritt nach vorne. »Kannst du es rausfinden?«

Lexi, geh!

Erwarten sie jetzt von mir, dass ich den Detektiv spiele? Mit einem Hut auf dem Kopf losstiefle, um mit – was? – zurückzukehren? Einer schön verpackten Erklärung oder vielleicht einem Schuldigen, dessen Kopf man auf das Schafott drücken kann?

Meine Nackenhaare stellen sich auf.

Madigan hat zu viele Geister zurückgelassen, und ich bin kein Exorzist.

Meine Finger schließen sich wieder um das Einhorn aus Glas. Fest, fester, sodass Hufe und Horn sich in mein Fleisch bohren, aber ich kann nicht aufhören zu drücken, denn nicht ich tue das. Es bin nicht ich, es ist nicht meine Hand. Ruhig wie ein Beobachter stehe ich darüber daneben dahinter – irgendwo anders – und beobachte, wie die Hand eines anderen sich zur Faust ballt, höre, wie Glas klirrt und bricht. Und fühle, auf entfernte, gedämpfte Weise, die Scherben im Fleisch und warmes Blut.

»Jesus, Alex!«

Bailey packt meine Hand und öffnet langsam die Finger.

Jetzt wieder meine Hand. Meine Finger. Und, o Scheiße, Scheiße, Scheiße, mein Schmerz.

ja, Geliebter, alles dein

»Scheiße!« Heiße Nägel in meinem Fleisch, rote Flüssigkeit fließt auf den Boden.

Dann zieht er mich ins benachbarte Bad, auf dessen glänzend weißen Fliesen das Blut – mein Blut – entsetzlich rot wirkt. Mr. Sargood schwebt mit grauem Gesicht im Hintergrund, während Bailey meine Hand unter den Hahn hält, Wasser darüber fließen lässt, das so kalt ist, dass es brennt, brennt, brennt und jemand keucht und saugt die Luft in seine Lungen, als wäre es sein letzter Atemzug …

»Sei still jetzt, das muss gesäubert werden.«

… und in meinem Geist hallt Lachen wider, weich und ein wenig mädchenhaft und so über alle Maßen amüsiert.