Kapitel 11
»Alex, hast du mich gehört?«, fragt Sarah. Im Hintergrund höre ich Straßenlärm und ihre Stimme setzt immer wieder aus.
Ich halte mir das Telefon ans andere Ohr. »Fährst du gerade?«
»Fang nicht damit an, ich habe eine Freisprechanlage.«
»Ich wollte gar nichts anfangen, ich war nur neugierig.«
Die Videothek ist heute Vormittag sehr ruhig, selbst für einen Wochentag. Nur ein Mann in den mittleren Jahren in einem langen schwarzen Mantel, der die Science-Fiction-Regale mustert, und drei dürre junge Mädchen in engen Jeans und noch engeren Oberteilen, die sich zankend durch die Neuerscheinungen bewegen.
»Also, kannst du kommen?«, fragt meine Schwester. Heute Abend steht irgendein Essen mit Ginny an, Martin kommt auch und ich frage mich, ob ich nur deswegen eingeladen bin, damit wir zu viert sind.
»Das ist ziemlich kurzfristig«, sage ich.
»Hör ab und zu mal deine Mailbox ab. Ich habe drei Nachrichten hinterlassen.«
Das überrascht mich. Mein Telefon hat seit Tagen nicht geklingelt.
Hinter mir kichert jemand. Alison, die Aushilfe, ist bereits sauer, weil ich heute Morgen zu spät dran war und sie zwanzig Minuten in der Kälte vor dem Laden warten musste. Sie hatte ihre Zigarette auf der Türmatte ausgetreten und mir, als ich ihr erklärte, dass sie das wegmachen soll, den Stinkefinger gezeigt. Also habe ich sie dazu verdonnert, die Familienfilm-Ecke wieder alphabetisch zu ordnen und dabei nach verirrten Softpornos Ausschau zu halten.
Sarah seufzt mir ins Ohr. »Alex, geht es dir gut? Du klingst irgendwie nicht, als wärst du ganz auf der Höhe.«
Ich erkläre ihr, dass ich einfach müde bin, weil ich momentan nicht besonders gut schlafe, was zumindest ein Teil der Wahrheit ist. Ich habe es nicht geschafft, den Traum der letzten Nacht aus meinem Kopf zu verdrängen, zumindest die Teile, an die ich mich erinnere.
Ruth im Mondlicht. Eine Klinge in meiner Hand.
Ich bin so viel mehr.
Aber es war nur ein Traum, denn Ruth geht es gut. Sie saß zusammengesackt am Küchentisch, als ich zur Arbeit aufgebrochen bin, umgeben von Büchern und Fotokopien und Stapeln handgeschriebener Notizen, ihren Laptop vor sich aufgeklappt und einen panischen Blick in ihren Augen. Prüfungen, sagte sie. Ich habe weniger als drei Wochen Zeit, um mich an all das zu erinnern.
»Alex, wir haben dich seit Ewigkeiten nicht gesehen.« Sarahs Stimme klingt dünn, ungeduldig. Sie ähnelt Mums so sehr, dass es schon unheimlich ist. »Wir vermissen dich. Ich vermisse dich.«
Also verspreche ich meiner Schwester, dass ich mitkomme, und sie sagt mir, dass sie mir eine SMS mit dem Ort schreibt, wo wir hingehen, dann legen wir auf. Dreißig Sekunden später piept mein Handy und verkündet mir die Adresse irgendeines Restaurants in Camberwell. Es klingt französisch und nicht gerade billig. Wahrscheinlich hat Martin es ausgesucht und wir müssen ihm den ganzen Abend zuhören, während er über Rotweine und Gänseleberpastete doziert. Und schon frage ich mich, warum ich überhaupt Ja gesagt habe.
Ich finde einen Stift, blättere durch die neueste Ausgabe unseres kostenlosen Werbemagazins – voll mit wunderbaren Filmkritiken und dämlichen Gewinnspielen, ein Ergebnis unseres Zusammenschlusses mit einer großen Kette – und fange an, Miley Cyrus einen Schnurrbart zu malen. Warum ist keiner der Blackouts je in der Arbeit passiert? Wenn es je Zeit gab, die ich gerne an die Amnesie-Feen verlieren würde …
Ich bemale ein paar perfekt weiße, perfekt gerade Vorderzähne, als die Eingangstür bimmelt. Ich sehe auf und entdecke Joaquin. Er zögert, dann trudelt er zum Tresen und kratzt sich durch ein Loch in seinem Hemd am Ellbogen. »Alex, hey.«
Verdammte Marionetten, habe ich wirklich geglaubt, ich würde sie jemals loswerden?
»Was willst du, Joaquin?«
»Nichts«, antwortet er abwehrend. »Ich schaue nur vorbei, verklag mich doch.«
»Ich versuche hier zu arbeiten, okay?«
Joaquin sieht sich mit hochgezogenen Augenbrauen um. »Ja, Mann, das sehe ich absolut.«
Der Junge wirkt ziemlich mitgenommen, zittrig und reservierter als gewöhnlich. Ich seufze und lege den Stift zur Seite. »Okay, was ist los?«
Er spielt an seinem Ohrring herum, dann an den silbernen Ringen an seinen Händen, dann mit dem Aufsteller voller Schokoriegel vor sich.
»Ich vermisse sie«, sagt er schließlich. »Alles hat sich verändert, wir treffen uns nicht mehr, nicht seit der Beerdigung. Es ist, na ja, wie es früher war, weißt du, und das ist beschissen. Echt beschissen.« Bei den letzten Worten kippt seine Stimme, er schluckt schwer und fängt an, seinen Nagellack abzukratzen, sodass das Zeug wie glitzernde schwarze Schuppen auf den Teppich rieselt.
Und plötzlich sehe ich den Jungen als das, was er wirklich ist. Der Außenseiter, der Ausgestoßene, das seltsame Kind mit der komischen Kleidung und dem weibischen Auftreten. Der Schwule, der Irre. In der Schule hat er wahrscheinlich keine Freunde und auch anderswo nicht viele. Außerhalb des Internets zumindest. Madigan und die Marionetten müssen für ihn eine Art Rettung gewesen sein, ein Ort, an den er gehörte, ein Ort, an dem er wichtig war. Bis ihm das alles plötzlich genommen wurde. Und hier ist er nun, verwirrt und wieder allein, er versteckt sich hinter seiner Gothic-Kleidung und tut so, als wäre er zu cool für seine Altersgenossen, damit ihre Zurückweisung nicht so schmerzt.
Der arme Junge tut mir tatsächlich leid.
»Du siehst die Mar…« Ich schlucke das Wort gerade noch rechtzeitig herunter und versuche stattdessen, mich an die Namen derjenigen zu erinnern, denen er nahestand. »… die anderen nicht mehr? Leigh? Elisabeth?«
Joaquin schnaubt abfällig. »Leigh ist dem Football-Team beigetreten.«
Die drei Mädchen aus der Abteilung mit den Neuerscheinungen kommen mit ihren Filmen an den Tresen und reichen mir einen verknitterten Nachlass-Coupon, von dem ich ihnen sagen muss, dass er abgelaufen ist. Sie stecken für einen Moment die Köpfe zusammen, bevor einer der Filme aus Mangel an Geld zurückgeht und ich die anderen zwei einscanne. Sie mustern Joaquin mit der unverschämten Verachtung der Jugend im Blick von oben bis unten, dann verschwinden sie in einer Wolke aus hohem Kichern.
»Weißt du, wer daran schuld ist?«, verkündet Joaquin.
Meine Nackenhaare stellen sich auf. Wenn er auch nur darüber nachdenkt, mich zu beschuldigen, dann trete ich ihn in den Hintern und mein neugefundenes Mitgefühl soll verdammt sein.
»Wer, Joaquin? Wer trägt die Schuld?«
Vorsichtig zieht der Junge eine schwarze Ledergeldbörse aus der Jeans, aufgebläht von Zetteln und an den Ecken schon sehr fadenscheinig. Er gräbt gerade lang genug darin herum, um mich ungeduldig werden zu lassen, bis er schließlich etwas herauszieht und mir über den Tresen zuschiebt.
»Er«, sagt Joaquin. »Er ist an allem schuld.«
Dreckig und verknickt starrt eine Visitenkarte zu mir auf.
Belials Söhne. Serge K.
Und die Telefonnummer.
Aber als ich danach greife, verschwimmt mein Blick und eine Welle von Schwindel überrollt mich.
Nicht jetzt, nicht jetzt.
Ich schließe fest die Augen und kämpfe um Kontrolle, darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Es ist, als würde ich gegen eine Barriere drücken, einen sirupartigen Nebel, der sich dunkel und eng um meinen Geist schließt. Und in dem etwas zurückdrückt. Dann gibt es nach, der Sieg ist so plötzlich wie süß, und meine Gedanken sind wieder klar, mein Geist gehört wieder mir. Für den Moment.
»Alles okay, Mann?« Joaquin mustert mich seltsam, wachsam. »Was war los? Ist dir dein Hirn geschmolzen oder was?«
»Nichts, vergiss es.« Ich deute auf Serges Karte. »Woher hast du die?«
Auf seinem Gesicht erscheint ein argwöhnischer Ausdruck, und ich muss noch einmal nachfragen, bevor er schließlich zugibt, dass er sie aus Madigans Tasche gestohlen hat. Vor Ewigkeiten, sagt er, und ich frage mich, was er ihr sonst noch gestohlen hat. Nichts allzu Wichtiges anscheinend, da er noch alle zehn Finger hat.
»Warum denkst du, dass Serge schuld ist?« Ich muss nachfragen, obwohl ich die Antwort auch erraten kann. Die fette Kröte hat ihm schließlich Madigan gestohlen, genauso wie er sie mir gestohlen hat, uns allen eigentlich.
»Du weißt, was Serge ist, oder?«, fragt Joaquin.
Ich schüttle den Kopf. »Was meinst du?«
Er lehnt sich verschwörerisch vor und lässt seine Augen durch den Laden gleiten, als wolle er abschätzen, wer in Hörweite ist. »Mann, Serge ist ein Hexenmeister. Wie eine Hexe, nur eben eine männliche Hexe.«
Ich grinse. Ich kann nicht anders. Sobald er das Wort ausgesprochen hat, habe ich direkt ein Bild von Serge im Kopf: sein ausufernder Körper mühsam auf einem Besenstiel ausbalanciert, einen spitzen schwarzen Hut auf dem Kopf. Sein Cape flattert hinter ihm durch die Luft, bis der Stock bricht und er für einen Moment in der Luft hängt wie in einem Comic, mit einem Ausdruck von Entsetzen auf seinem Gesicht, bevor er zu Boden stürzt.
»Lach nicht über mich!«
»Tut mir leid, Joaquin.« Ich klebe mir ein Lächeln auf die Lippen, aber es gelingt mir nicht ganz. »Aber komm schon, eine Hexe? Dann bist du was? Der verdammte Harry Potter?«
Aber er besteht darauf, dass es wahr ist. Er hat Madigan unzählige Male mit Serge telefonieren hören, nie das ganze Gespräch, aber genug, um die generelle Richtung einzuschätzen. »Schwarze Magie, verstehst du? Serge hat sie verhext oder irgendwas, ich schwöre es. Ich denke mir nichts aus.«
Und ich glaube ihm, zumindest den letzten Teil. Es ist leicht, mir vorzustellen, wie der Junge lauscht, mit gespitzten Ohren hinter einer fast geschlossenen Tür kauernd. Außerdem lief irgendetwas zwischen Madigan und Serge, und wenn man bedenkt, was für verrückte Scheiße mir in letzter Zeit passiert, sollte ich es vielleicht nicht einfach so abtun. Schwarze Magie und Besenstiele? Nein, wahrscheinlich nicht. Aber irgendwas.
Ich greife nach meinem Handy, dann überlege ich es mir anders. Auf keinen Fall will ich, dass Serge meine Nummer hat. Stattdessen ziehe ich mir das Telefon der Videothek über den Tresen und drücke die Nummern auf der Visitenkarte.
»Was tust du?«, fragt Joaquin.
»Was glaubst du? Ich will wissen, was der fette Arsch tatsächlich weiß.«
Das Telefon klingelt viel zu lange und ich bin schon fast bereit, aufzulegen, als ein Klick ertönt, ein kurzes Summen und dann eine weiche, lispelnde Stimme. »Ja? Was?«
»Serge? Ich bin’s, Alex.«
Es folgt eine längere Pause, bevor er antwortet. »Ich hatte dich schon aufgegeben, kleiner Alex. Du hast den Kontakt nicht gepflegt.«
»Na ja, also, jetzt hast du deinen Kontakt. Ich will mit dir reden.«
»Nicht möglich, fürchte ich. Ich bin dieser Tage außergewöhnlich beschäftigt und habe keine Zeit für leeren Smalltalk. Und jetzt möchte ich mich entschuldigen …«
»Es geht um Madigan.«
Wieder eine Pause, bedeutungsschwer und eifrig. »Etwas ist passiert, Alex? Etwas, was eher ungewöhnlich ist, ja?«
»Ja.« Jetzt habe ich ihn. »Ich nehme an, das fasst es ganz schön zusammen.«
»Wirklich? Dann kommst du wohl besser zu mir.«
»Wann?«
»Heute. Es muss heute sein.«
»Ist okay«, erkläre ich ihm. »Ich bin so um fünf mit der Arbeit fertig, also …«
Aber Serge fällt mir ins Wort. »Es muss jetzt sein, in der nächsten Stunde. Ich fliege heute Abend nach Sydney und es gibt noch eine Vielzahl von Aufgaben zu erledigen, bevor ich abreise. Du musst jetzt kommen oder warten, bis ich nach Melbourne zurückkehre.«
»Was wann wäre, Serge?«
»In vier Wochen. Hat es so lange Zeit?«
Blufft er in einer Art Machtspiel, um mich im Nachteil zu halten? Sein Eifer, sich mit mir zu treffen, ist offensichtlich, ein guter Hebelpunkt für mich, aber ich kann es nicht riskieren, das hier um einen ganzen Monat zu verschieben. Gott allein weiß, in welchem geistigen Zustand ich bis dahin sein werde.
»Ich brauche eine Antwort«, drängt Serge.
Laut der Uhr an der Wand ist es noch nicht einmal Mittag. Es wird kein Problem sein, Alison für ein paar Stunden die Aufsicht zu übergeben – sie wird sich zweifellos darüber freuen, dass niemand sie beaufsichtigt –, und ich kann zurück sein, bevor der Boss kommt, um die Abendschicht zu übernehmen. Der Laden ist kaum in Gefahr, in einem Kundenansturm unterzugehen.
»Okay«, erkläre ich ihm. »Dann machen wir es gleich.«
∞
Die Adresse, die Serge mir gegeben hat, gehört zu einem geziegelten Eckhaus in Fitzroy, auf dessen vorderer Veranda sechs Kakteen in Terrakottakübeln stehen. Dicke blaue Vorhänge sind vor die Fenster gezogen. Nicht gerade die Art von Haus, in dem man eine Hexe vermutet. Entschuldigung, einen Hexenmeister.
Die Türklingel bimmelt die ersten vier Noten von Beethovens Neunter. Ach du Schande!
Serge reißt die Tür auf. Zum ersten Mal trägt er nicht sein Cape, sondern stattdessen einen hässlichen Jogginganzug. Der dunkelblaue Stoff hat fast dieselbe Farbe wie die Vorhänge.
»Das hat ja gedauert«, sagt Serge, als er mich über die Schwelle und in einen dunklen Flur bittet.
»Ich bin da, oder?«
»Hmmph.« Er verschließt die Eingangstür von innen und lässt den Schlüssel an einer dünnen Kette von der Klinke hängen.
Ich folge ihm durch den Flur und in ein kleines Zimmer, das nur vom schwachen Leuchten einer einzigen Lampe mit orangefarbenem Schirm erhellt wird. Nicht mal das kleinste bisschen natürliches Licht dringt durch diese Vorhänge. Das ganze Haus stinkt nach Sandelholz, fast so widerlich wie der Gestank dieses ungewaschenen Menschen, den es überdecken soll. Die Luft ist so unbeweglich und schwer, dass ich fast spüren kann, wie sie über meine Haut gleitet. Bücherregale mit Glastüren ziehen sich an den Wänden entlang, alle zu und zweifellos sicher verschlossen. Eine dick gepolsterte, durchgesessene Couch und ein dazu passender Sessel kämpfen mit einem Couchtisch um den Rest des Platzes.
Meine Augen bleiben an einem gerahmten Druck hängen, der über dem Gaskamin hängt: eine voll bekleidete Frau, die in einem Bett aus Wasser treibt, ertrunken oder kurz davor, einen verwelkenden Blumenstrauß in der Hand. Morbide, aber trotzdem schön.
»Ophelia.« Serge steht direkt neben mir, sein Atem ist so sauer wie alte Milch.
»Entschuldigung?«
»Ophelia«, wiederholt er. »Von Millais. Meiner Meinung nach viel besser als die sentimentale Waterhouse-Version. Bitte, setz dich doch.«
Bewusst entscheide ich mich für die Couch und beobachte mit tiefer Genugtuung, wie Serge seinen beträchtlichen Hintern in den Sessel schiebt. Er lehnt sich so weit vor, wie sein Bauch es ihm erlaubt, und verschränkt die Hände so, dass Daumen und Zeigefinger hervorstehen. »Du hast eine Frage an mich.«
»Was weißt du, Serge?«
Ein kurzes Feixen gleitet über sein Gesicht. »Ich weiß eine Menge. Vielleicht solltest du die Breite deiner Erkundigung ein wenig einschränken.«
»Ich will einiges über Madigan herauskriegen und das weißt du, verdammt noch mal. Sag mir, was ihr passiert ist.«
»Madigan hat sich umgebracht.«
»Hat sie das?«
Das Feixen wird breiter. »Was um Himmels willen meinst du, Alex? Wir waren doch beide auf ihrer Beerdigung.«
Aber es gibt mehr, um einiges mehr; ich kann es daran sehen, wie seine Augen glitzern. »Lass den Scheiß, Serge. Ich weiß, was ihr zwei vorhattet. Madigan hat es mir erzählt.«
Ein hoffnungsloser Bluff und er lässt ihn, ohne zu zögern, auffliegen. »Wirklich, Alex? Worauf um Himmels willen beziehst du dich?«
»Hexerei.« Ich zögere und ziehe mich genau auf die Worte zurück, für die ich Joaquin ausgelacht hatte. »Schwarze Magie.«
Serge lacht, ein leises, widerliches Geräusch, das er tief in seiner Kehle erzeugt. »Du weißt nichts, aber ich bin der Spiele müde. Und was ich tue … es gab Zeiten, da hätte man mich als Magier oder Zauberer verehrt, ein Begriff, der in diesen traurigen Zeiten von den David Copperfields dieser Welt in Beschlag genommen wurde. In einer anderen Kultur wäre ich vielleicht als Schamane bekannt, obwohl ich selbst die Bezeichnung Nekromant bevorzuge.«
»Nekro-was?«
»Nekromant. Nekromantie.« Die Worte gleiten ihm glatt über die Zunge. »Traditionelle Praktiken, die das Kommunizieren mit den Toten, die Wiederbelebung von Leichen und Voodoo-Magie genauso einschließen wie … esoterischere Beschäftigungen.«
»Die Wiederbelebung von Leichen?« Ich schüttle den Kopf. Serge ist verrückt. »Was meinst du damit, Zombies?«
Er verwirft die Frage mit einer Handbewegung. »Ein häufiger Irrtum. Auf jeden Fall hat mein Zirkel diese Disziplin weit über ihre … groteskeren Elemente erhoben. Madigan, das liebe Mädchen, zeigte eine übertriebene Neugier für gewisse Richtungen unserer Forschung. Sie war besonders an dem Fortbestand des Bewusstseins nach dem körperlichen Tod interessiert.« Serge lehnt sich zurück und sein Blick gleitet über mein Gesicht, als suche er dort nach etwas. »Und sie hat sich als würdige Eingeweihte herausgestellt, wie du anscheinend inzwischen festgestellt hast.«
»Meinst du damit, dass Madigan mich heimsucht? Dass sie ein Geist ist?«
Wieder dieses obszöne Lachen. Ich kann kaum der Versuchung widerstehen, ihn zu schlagen.
»Ein Geist?«, wiederholt er. »Oh, ganz und gar nicht. Geister sind … um ganz ehrlich zu sein, niemand ist sich vollkommen sicher, was Geister sind. Die Schatten verdammter Seelen vielleicht, für immer dazu verurteilt, ihre schrecklichen, letzten Momente zu durchleben, oder vielleicht auch nur psychische Fußabdrücke, so leblos und weit entfernt von ihrem eigentlichen Selbst wie aufgenommene Musik von ihrem Komponisten. Glaubst du wirklich, Madigan wäre an einer so flachen Existenz interessiert gewesen?«
Ich weiß nicht mehr, was ich glaube. »Verdammt, Serge, du hast gesagt, du wärst die Spielchen leid. Sag mir, was vor sich geht.«
»Noch nicht.« Er lehnt sich wieder vor und leckt sich die Lippen. »Erst erzählst du.«
Ein langer Moment des Schweigens, die Zeit erstarrt in meiner Unschlüssigkeit, bis ich schließlich nachgebe. Was spielt es schon für eine Rolle, was Serge weiß? Also gebe ich alles preis: die Blackouts und die Stimmen, die erzwungenen Bewegungen, die verlorene Zeit und die schreckliche, absolute Sicherheit, dass Madigan immer noch irgendwo hier ist. Irgendwo in der Nähe.
Serge wird mit jedem Wort aufgeregter. Seine Augen leuchten und er verschlingt seine Finger zu fleischigen Knoten. »Es ist wirklich erstaunlich, dass du es noch nicht erraten hast, Alex. Sie war sehr unvorsichtig, ziemlich ungeschickt. Aber na ja, da ihr ein erfahrener Führer fehlte …«
Er stemmt sich auf die Beine. Seine Finger trommeln auf seine Brust, als er auf mich zukommt. Irgendetwas an ihm ist jetzt anders, er strahlt eine Bedrohlichkeit aus, die mich nervös macht, und ich stehe ebenfalls auf. Meine Schläfen beginnen zu pulsieren.
»Allerdings sehr leichtsinnig.«
Mit plötzlicher, unglaublicher Geschwindigkeit packt er meine Schultern und zieht mich so nah an sich, dass ich den frischen Schweißgestank unter dem Sandelholz riechen kann. Ich schreie ihn an, mich loszulassen, packe seine Oberarme und meine Finger versinken tief in seinem Fleisch, als ich versuche, ihn zurückzustoßen. Aber unter seiner Haut liegt nicht nur Fett. Irgendwo muss es auch eine erstaunliche Menge Muskeln geben, denn der Mann ist stark.
»Leichtsinniges, dummes, hinterhältiges Luder!«
Spucketropfen treffen mein Gesicht, während das schon vertraute Gefühl des Schwindels mich übermannt. Jetzt halte ich mich an Serge fest, um nicht zu fallen.
»Komm raus und rede mit mir, Madigan«, brüllt er. »Komm raus, oder ich bringe euch beide um.«
Ich bemerke kaum, dass Serge seine Hände um meine Kehle legt, denn der Druck dort kann nicht im Mindesten mit dem in meinem Kopf konkurrieren. Es tut weh, als würde dort gleich etwas platzen. Schlimmere Schmerzen, als ich sie je erlebt habe. Sie bauen sich auf, brechen, und Oh Scheiße, ich kann nicht atmen, kann nicht …
Nichts.
Nur das wunderbare Gefühl des Vergessens, das mich zurückzieht in ein weiches, fleischiges Vakuum. Weit entfernt höre ich, wie ich Serge ebenfalls anschreie, fühle nur zum Teil, wie mein Ellbogen nach oben saust, um sein Kinn zu treffen.
Denn diese Stimme gehört nicht mir und auch den Schlag habe nicht ich geführt.
Sie ist es. Madigan. In mir, neben mir, um mich herum. Mir fehlen die Worte, es zu beschreiben, sie ist einfach hier. Madigan, meine Madigan, ihre Worte in meinem Mund scharf wie eine Rasierklinge.
»Fass mich noch mal an, Serge, und ich werde deine verdammte Beerdigung besuchen.«