Kapitel 10

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Das Büro von Kaye Allen ist nicht, was ich erwartet habe. Abgesehen von einem kleinen, aufgeräumten Schreibtisch in einer Ecke sieht es mehr aus wie ein Wohnzimmer. Gut und sehr bürgerlich eingerichtet, enthält es die Art von Möbeln, nach denen sich meine Mum die Finger lecken würde. Mir jagt es einen Schauder über den Rücken. Ich rutsche in meinem Stuhl hin und her, einem großen, blauen Armsessel, den ich der hellgelben Couch vorgezogen habe, die an einer Wand steht.

Ich muss mich nicht da drauflegen, oder?

Das war fast das Erste, das ich zu Kaye sagte. Sie lachte und schüttelte den Kopf, um mir dann zu erklären, dass die Couch überwiegend dort steht, weil die Leute es erwarten.

Erwartungen sind wichtig, erklärte sie mir. Wenn ihre Erwartungen erfüllt werden, beruhigt das die Leute.

Trotzdem entscheiden sich die meisten wie ich für einen Sessel.

Am Fenster steht ein riesiges Aquarium, in dem ein halbes Dutzend Goldfische in sonnenbeschienenen Algen auf und ab schwimmen. Sie müssen es inzwischen leid sein, uns zuzuhören, uns pathetischen Menschen mit unseren belanglosen Geheimnissen und irrationalen Ängsten. Sie müssen sich wünschen, sich die schuppigen Kehlen durchschneiden zu können oder sich aus dem Aquarium zu werfen, um an der trockenen Luft zu ertrinken.

»Bist du noch bei mir, Alex?«

»Hmmm? Ja, Entschuldigung. Ich habe wieder die Fische beobachtet.«

Kaye lächelt. »Mach so weiter und ich muss sie ins Klo spülen.«

Sie ist auch nicht, was ich erwartet habe. Diese schmale, kleine Frau, die mir im Schneidersitz und barfuß im Sessel gegenübersitzt, ein aufgeschlagenes Notizbuch auf dem Schoß. Nicht viel älter als ich und genauso nett, wie Ruth es mir versprochen hat. Sie sendet diese freundlichen, schwesterlichen Schwingungen aus. Ich bin nicht dumm, ich weiß, dass sie das nur meinetwegen tut und sie für jemand anderen die Mutter oder die Tochter oder einfach nur Dr. Allen ist. Aber trotzdem ist es entwaffnend, auf eine gute Art. Es bringt mich dazu, meine Geschichte zu erzählen, ohne auch nur einmal über die Worte nachzudenken. Ich erzähle ihr fast alles: von der Trennung von Madigan, von ihrem Tod, von den Blackouts. Das Einzige, das ich zurückhalte, ist ihre Stimme in meinem Kopf. Weil ich noch nicht im Ansatz bereit dazu bin, diese Worte laut auszusprechen.

»Der letzte Vorfall war nicht wie die anderen«, bemerkte Kaye. »Es war kein Blackout. Du erinnerst dich daran.«

Ja, gebe ich zu, aber nicht klar, nicht bis zu dem Punkt, wo es vorbei war, der plötzlichen Rückkehr von Geräuschen und Licht, als Ruth mir auf die Beine half und mit einem bösen Blick die Neugier der Umstehenden abwehrte. Nicht im Geringsten panisch stellte sie mir ruhige, klare Fragen: ob ich wüsste, was gerade passiert ist, ob ich mich daran erinnerte. Ja, versuchte ich es Ruth zu erklären, ja, und dieselbe Erklärung biete ich jetzt Kaye an: Ja, ich erinnere mich, aber es ist seltsam, mehr wie die Erinnerung an einen Film oder einen Traum. Die Erfahrung vermittelte mir ein gebrauchtes Gefühl, ich war mir bewusst, was passierte, während es passierte – ich hatte nur keine Möglichkeit, es zu kontrollieren.

Kaye schlägt sich den Stift leicht aufs Knie und fragt mich, ob ich mich je einer Hypnosetherapie unterzogen habe.

»Nein.« Die Frage alarmiert mich. »Warum?«

»Weil das, was du gerade beschrieben hast, sehr einer hypnotischen Trance ähnelt, so, wie sich manche Leute daran erinnern.«

Misstrauen gleitet mir in kalten Strahlen über den Nacken. »Könnte ich hypnotisiert worden sein, ohne es zu wissen, ohne mich daran zu erinnern? Könnte jemand dafür gesorgt haben, dass ich es vergesse?«

»Hollywood muss wirklich für eine Menge geradestehen.« Kaye lacht. Aber ihre Miene ist sanft, ihre Augen sind freundlich, auch wenn sie mich manchmal scharf mustert. »Das ist eine recht düstere Vermutung, findest du nicht? Wie wäre es, wenn wir uns für den Moment an Ockhams Rasiermesser halten.«

»Wessen Rasiermesser?«

»Ockhams. Es ist ein philosophisches Prinzip. Im Wesentlichen besagt es, dass die einfachste Erklärung gewöhnlich die richtige ist.«

»Selbst wenn die einfachste Erklärung lautet, dass ich den Verstand verliere?«

»Entspann dich. Niemand wird hier ein Urteil sprechen, Alex, wir sind hier nicht im Kuckucksnest.«

Trotz meiner Anspannung gelingt mir ein Lächeln. »Das hat Ruth gesagt, als sie vorgeschlagen hat, dass ich zu Ihnen komme.«

Ein leichtes Nicken, aber sonst geht Kaye nicht auf die Bemerkung ein, und in dem darauf folgenden Schweigen verstehe ich plötzlich vieles. Warum Ruth diese Visitenkarte in ihrer Tasche herumträgt, wie sie es geschafft hat, mir so schnell einen Termin zu verschaffen, obwohl eine solche Spezialistin wahrscheinlich eine ellenlange Warteliste hat. Es ist offensichtlich: Ruth ist eine von Kayes Patientinnen. Diese Erkenntnis verblüfft mich. Jemand, der so kontrolliert, so unabhängig, so stark und effizient ist wie Ruth geht zu einer Psychologin? Warum und wie lange schon? Seitdem ich sie kenne?

»Kommt Ruth zu Ihnen?«, frage ich.

Kaye schüttelt den Kopf. »Du solltest wissen, dass ich darauf nicht antworten kann, Alex. Ich kann nicht bestätigen, ob jemand einer meiner Patienten ist oder ob nicht.«

Neugier kocht in mir und macht es mir schwer, mich zu konzentrieren. Sitzt Ruth genau hier, in diesem Sessel, oder gehört sie zu den Couch-Leuten?

»Alex?« Kaye schnippt mit den Fingern. »Wir müssen uns jetzt auf dich konzentrieren.«

»Entschuldigung.«

»Die Trennung von deiner Freundin. Was ist wirklich passiert?«

»Die Sache wurde einfach zu intensiv«, erkläre ich ihr. »Sie wissen, wie so was läuft.«

»Nein«, antwortet Kaye. »Wie läuft es? Wie lief es zwischen dir und Madigan? Ich verstehe, dass es dir nicht leichtfällt, darüber zu reden, aber bitte versuch es. Es ist wichtig, dass du es versuchst.«

»Ja, es ist schwer.« Die Idee, solche intimen Details irgendwem zu erzählen und besonders einer Frau, die ich vor heute Morgen noch nie in meinem Leben gesehen habe, schmeckt mir zu sehr nach Verrat. Selbst jetzt noch.

»Okay, das verstehe ich.« Sie runzelt die Stirn und ihr Blick gleitet für einen Moment zu dem Notizbuch auf ihrem Schoß. »Wie wäre es, wenn wir es andersherum angehen? Warum warst du in erster Linie mit Madigan zusammen?«

»Weil ich sie geliebt habe.«

»Süß.« Ihre Hände bewegen sich in langsamen Kreisen und beschwören aus der leeren Luft Worte. »Sehr … romantisch, sehr … nobel. Aber nicht die ganze Geschichte.«

Nein. Also versuche ich, weiter auszuholen, erkläre, wie Madigan und ich quasi miteinander aufgewachsen sind und wie ich, selbst nachdem sie mir weggenommen worden war, nie das Gefühl hatte, sie wäre wirklich weg. Es fühlt sich immer noch nicht so an, noch nicht ganz, nicht nachdem an dem Tag in der Flinders Street alles so mühelos wieder zusammenkam, sich wieder zusammensetzte. Ich merke, dass ich es nicht richtig erkläre, und die Worte vertrocknen auf meiner Zunge. Warum habe ich sie geliebt, warum bin ich so verdammt lange bei ihr geblieben, nicht wirklich glücklich, aber zumindest bereit, ihre Scheiße zu ertragen und mich im Sumpf selbstauferlegten Unglücks zu suhlen? Warum bin ich nicht schon vor Monaten gegangen oder habe sie rausgeschmissen? Was war es, was mich gefangen gehalten hat in diesem Teufelskreis …

Gefangen. Der Gedanke trifft mich überraschend, aber ist das nicht das richtige Wort dafür, wie es sich manchmal anfühlte, mit Madigan zusammen zu sein? Eigentlich die meiste Zeit über, besonders gegen Ende. In meiner Wagenburgmentalität ist mir der Gedanke, dass es einen Ausweg gab, nie auch nur in den Kopf gekommen, bis er mit einem blutigen Messer erzwungen wurde. Ist Liebe wirklich so stur, so verdammt dumm?

Oder war das nur ich?

»Alex?« Kayes Stimme ist sanft, aber beharrlich. »Was geht dir gerade durch den Kopf?«

»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.« Ich reibe mir die Stirn, suche nach etwas, das ich sagen kann, um das Schweigen zu füllen. »Madigan und ich, wir waren … es war, als wäre es Schicksal.« Das ist etwas, was Madigan selbst gesagt hätte. Sie hat es einmal gesagt, glaube ich, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wann. Aus meinem Mund klingt es ziemlich lahm.

Kaye seufzt und kritzelt ein paar Worte in ihr Notizbuch. »Ich denke nicht, dass du an Schicksal glaubst, Alex, aber volle Punktzahl für die Ausweichstrategie.« Sie lächelt und schaut mir direkt in die Augen. »Du hast inzwischen ein paar Mal ihre Mutter erwähnt.«

»Katherine?«

»Sie war wichtig für dich, als du ein Kind warst, richtig?«

»Ja und? Glauben Sie, ich war die ganze Zeit eigentlich in Katherine Sargood verliebt oder irgendeine ähnliche Psychokacke?«

»Nein«, sagt Kaye. »Ich glaube, du warst in Madigan verliebt. Ich glaube, du bist es immer noch.« Sie kritzelt wieder etwas und ich kämpfe gegen den Drang, ihr das Notizbuch aus den Händen zu reißen und es ins Aquarium zu schmeißen. »Liebe ist kompliziert, Alex, sie basiert auf den verschiedensten Faktoren. Vielleicht hängt es sogar davon ab, was du gerade gegessen hast, als du jemanden zum ersten Mal getroffen hast, oder von der Farbe der Kleidung, die derjenige zufällig trug, oder von der Stimmung, in der du gerade warst.«

»Ein bisschen zynisch, oder?«

Kaye zuckt mit den Achseln. »Ich gehöre nicht zur Wein-und-Rosen-Fraktion. Aber sagen wir mal, du gehörst dazu. Lass uns annehmen, du glaubst an Schicksal und daran, dass es dir bestimmt war, mit Madigan zusammen zu sein. Wenn das wahr ist und du sie so sehr geliebt hast, warum hast du die Beziehung beendet? Wieso hast du dich gegen das Schicksal gestellt?«

Weil es unerträglich wurde, sage ich ihr. Weil es besser war, als zum zweiten Mal ein Messer in die Eingeweide zu bekommen. In meine Eingeweide oder an eine noch schlimmere Stelle, und warum muss sie unbedingt die dreckigen Einzelheiten kennen, warum ist es so wichtig?

»Weil ich nicht glaube, dass du dich wirklich von Madigan getrennt hast, und wir herausfinden müssen, warum das so ist.«

»Haben Sie mir nicht zugehört?« Meine Stimme ist zu laut, aber ich muss entweder schreien oder auf etwas einschlagen. Meine Hände sind bereits zu Fäusten geballt. »Ich habe sie aus dem Haus geworfen. Ich habe sie nie wiedergesehen, ich habe nicht mal mehr mit ihr gesprochen bis auf diesen letzten Anruf, und jetzt ist sie tot. Tot und verdammt noch mal beerdigt – wie viel Trennung wollen Sie noch?«

»Physisch gesehen, ja, da gab es eine Trennung. Aber nicht hier, wo es eigentlich zählt.« Kaye drückt ihre Hand gegen die Brust. »Hier hast du sie noch geliebt. Hier liebst du sie immer noch, Alex, und ich halte das für das Kernproblem. Du trauerst und du empfindest Schuldgefühle.«

Ich zwinge meine Hände dazu, sich wieder zu öffnen. »Sollte ich das nicht?«

»Warum? Soweit ich bis jetzt gehört habe, war Madigan eine extrem manipulative Frau. Sie hat dich furchtbar behandelt, hat dich mit einem Messer angegriffen, dein Vertrauen missbraucht, Geheimnisse vor dir gehabt – sogar die Tatsache, dass sie von dir schwanger war. Warum glaubst du, dass du andere Gefühle haben solltest als eine tiefe Erleichterung, dass diese Person endgültig aus deinem Leben verschwunden ist?«

halt deine beschissene Fresse

Es ist schwer zu entscheiden, was mich mehr schockiert: die Worte der Frau mir gegenüber, die nicht im Mindesten so klingen wie die Ansprachen, die man von einer Psychologin erwartet – oder die Stimme von Madigan in meinem Kopf, diesmal so laut und klar, dass ich mich fast umgesehen hätte, weil ich halb erwartete, sie hinter mir zu finden, vor Zorn kochend und die Krallen geschärft.

Kaye beobachtet mich genau. »Was ist los, Alex?«

Nichts, versuche ich ihr zu erklären. Nichts, nur …

»Es hat dich förmlich vom Stuhl gerissen. Hast du einen Geist gesehen?«

Und trotz meiner Entschlossenheit, niemals darüber zu reden, nicht mit Ruth und sicher nicht mit einem Seelenklempner, bricht es aus mir heraus: die Stimme, die ich höre, seitdem ich von Madigans Tod erfahren habe, das unerklärliche Gefühl ihrer Anwesenheit, als stände sie direkt neben mir oder sogar noch näher; das Gefühl, dass sie mich – weil mir kein besseres Wort einfällt – heimsucht. Wie die Stimme für eine Weile verschwunden war und ich dachte, es wäre endlich vorbei, bis die Blackouts und die verlorene Zeit ans Tageslicht kamen, bis letzte Nacht im Kino, als alles zurückkam, als sie zurückkam – Madigan. Und jetzt habe ich nicht den Hauch einer Ahnung, was das alles bedeutet.

»Hier.« Kaye zieht eine Packung Taschentücher unter dem Couchtisch hervor und hält sie mir entgegen, aber ich schüttle den Kopf und wische mir stattdessen die Augen mit dem Ärmel ab.

Ich weine. Wieder. Immer noch.

»Also, sagen Sie mir.« Ich starre wieder auf das Aquarium, weil ich ihren Blick nicht einfangen will. »Werde ich vollkommen wahnsinnig oder was?«

»Das ist kein Wort, das ich besonders nützlich finde«, sagt Kaye. »Aber nein, du wirst nicht wahnsinnig. Was du durchleidest, ist eine Unmenge Stress. Stress, an dem du anscheinend schon eine ganze Weile leidest.«

»Und das lässt mich tote Leute hören?« Es ist als Witz gemeint, aber meine Stimme bricht in der Mitte des Satzes und meine Lippen verweigern das Lächeln.

»Akustische Halluzinationen sind tatsächlich relativ häufig. Viele Leute, die geliebte Personen verloren haben, erklären, dass sie ihre Gegenwart spüren können. Sie reden auch mit ihnen, oft noch Jahre nach ihrem Tod. Es kann ein nützlicher Bewältigungsmechanismus sein, obwohl ich nicht glaube, dass das hier der Fall ist. Du bestrafst dich selbst, Alex. Ist das wirklich, was du in deinen Augen verdient hast?«

Genug, mehr als genug.

»Mir ist egal, was genau geschieht«, erkläre ich ihr. »Ich will nur, dass es aufhört. Gibt es nichts, was Sie mir geben können, eine Pille oder irgendwas?«

Kaye schüttelt den Kopf. »Es gibt hier keine schnelle Lösung, Alex. Ich glaube, du musst das Problem erst verstehen, bevor du es lösen kannst. Du musst deine Geister kennen, bevor du sie bannen kannst.«

»Meine Geister?«

»Metaphorisch gesprochen.«

»Sie sagen mir also, dass es alles nur in meinem Kopf stattfindet.«

Kaye lächelt. »Du sagst das, als wäre es etwas Einfaches, aber der menschliche Geist ist alles andere als einfach. Wir haben es hier mit einem extrem empfindlichen und komplexen Organ zu tun, und die medizinische Wissenschaft steht erst ganz am Anfang ihres Verständnisses. Tu es nicht so leicht ab.«

»Ich tue gar nichts ab, ich will nur wissen, was los ist.«

»Meiner Meinung nach?« Sie hält inne und sieht mir einige Sekunden direkt in die Augen. »Ich weiß noch nicht genug über dich, also muss ich vorsichtig sein. Aber ich glaube, ich kann mit relativer Sicherheit das, was du erlebst, mit deinen Gefühlen zu Madigan, ihrem Tod und deiner Rolle dabei in Verbindung bringen. Natürlich möchte ich dich trotzdem an einen Neurologen überweisen, nur um sicherzustellen, dass hinter den Symptomen nichts Körperliches steckt. Es hilft vielleicht auch dabei, deine Ängste zu lindern.«

Neurologe: ein kaltes, kompliziertes Wort. Hirnscans und Tumore und andere Implikationen, die mir zu viel Angst einjagen, um darüber nachzudenken. Ich drücke mir die Handballen fest gegen die Augen und genieße die Sternenexplosion und den sofortigen Schmerz.

»Ich will einfach nur, dass alles verschwindet.«

»Das wird es.« Eine leichte, schnelle Berührung ihrer Hand an meinem Knie. Ich schaue auf, mein Blick klärt sich, aber sie sitzt bereits wieder in ihrem Sessel. »Aber nicht von allein und nicht ohne Anstrengungen. Du musst daran arbeiten, Alex. Ich bin hier, um zu helfen, aber überwiegend hängt es von dir ab.«

Sie sieht auf ihre Armbanduhr, ein kleines weißes Aufblitzen innen an ihrem Handgelenk, und ich schaue auf die Uhr, die über der Tür hängt. Ist meine Stunde wirklich so schnell vergangen? Kaye klappt bereits ihr Notizbuch zu und schlägt vor, dass wir einen weiteren Termin für nächste Woche ausmachen, wenn das okay ist.

Ich nicke und stemme mich auf die Füße.

»Wenn du das Gefühl hast, dass häufigere Termine besser wären, können wir das auch arrangieren.«

Ich erkläre ihr, dass einmal pro Woche in Ordnung ist.

»Sprich beim Rausgehen mit Jennifer und sie wird dir einen festen Termin zuweisen.« Kayes Haut ist warm und trocken, als sie meine Hand ergreift, und die Stärke ihres Händedrucks ist unerwartet. »Wir können dich da durchbringen, Alex. Das verspreche ich.«

Ich bin immer noch nicht überzeugt, nicht ganz, aber als ich die zwei Blocks zu meinem Auto gehe, fühle ich mich tatsächlich etwas besser. Besser, weil ich mich über meine Ängste ausheulen durfte und jemand mir gesagt hat, dass es okay ist, dass alles geregelt werden kann – geregelt werden wird. Irgendwann. Fast empfinde ich eine gewisse Vorfreude auf nächste Woche.

Der Nachmittag ist grau und feucht, und der Schlüssel hakt im Fahrerschloss, wie es bei diesem Wetter immer der Fall ist. Es ist wirklich Zeit, mich darum zu kümmern, ich hätte wirklich …

wir kommen nicht hierher zurück

Nein, nicht jetzt, nicht hier. Ich reiße am Türgriff, bis die Tür sich mit einem Quietschen öffnet, dann gleite ich ins Auto. Mir ist ein wenig schwindlig und sehr, sehr kalt. Ich umklammere das Lenkrad, als könnte es mir Halt geben, bis meine Finger weiß werden.

hast du mich gehört?

Diese Stimme ist nicht real. Sie ist es nicht, es ist nicht Madigan, es ist nur irgendein neurologischer Kurzschluss und ich muss …

… atmen. In meinem Mund steckt etwas Unförmiges, ganz hinten, fast schon in der Kehle, und ich würge und huste, während meine Finger das zu fassen versuchen, was mir die Luft abschneidet.

Ein Ball aus zerknülltem Papier, klebrig vor Spucke, glänzend und bunt. Das Design ist mir vertraut, als ich den Zettel auf meinem Schoß glatt streiche: eine Seite aus dem Straßenatlas, der jetzt aufgeschlagen neben mir auf dem Sitz liegt.

Mir bricht der Schweiß aus. Noch ein Blackout? Wie lang war es diesmal? Dreißig Sekunden, fünf Minuten, eine Stunde? Auf jeden Fall lang genug, um den Atlas unter dem Sitz hervorzuziehen, eine Seite herauszureißen und …

Gott, o Gott. Nicht nur irgendeine Seite, sondern die Karte von Toorak. Und direkt in der Mitte, genau an dem Ort, an dem das Sargood-Anwesen stehen würde, ist ein Stück herausgerissen, in der Größe eines Fingernagels, wie ein Einschussloch. Wie eine leere Augenhöhle, die zu mir aufstarrt.

Ruth dreht die Seite aus dem Atlas ein paarmal um, als suche sie nach einem Geheimcode. »Das bedeutet gar nichts, oder zumindest sagt es uns nichts Neues.«

Ich setze mich neben sie auf die Couch. »Es steckte in meiner Kehle, Ruth. Ich hätte ersticken können.«

»Sicher, es ist ernst, das habe ich ja gesagt. Aber du hattest wieder einen Blackout, richtig? Es ist nicht so, als wäre … ich meine, es war niemand bei dir im Auto.«

»Es war ihre Stimme, das habe ich dir doch gesagt.«

»Ja, ich weiß.« Sie seufzt. »Warum hast du mir davon vorher nichts erzählt?«

Sie klingt verletzt, aber ich bin schließlich nicht der Einzige, der hier Geheimnisse hat. »Wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem du nicht erwähnt hast, dass du auch zu Kaye Allen gehst.«

Ruth ignoriert mich und starrt weiter auf die Seite in ihren Händen. »Ich nehme an, du brauchst jetzt einen neuen Straßenatlas.«

»Warum gehst du zu ihr, Ruth? Gehst du zu ihr?« Ich knuffe sie sanft in den Arm, um die Spannung herauszunehmen. »Ich hätte niemals geglaubt, dass ausgerechnet du einen Seelenklempner brauchst.«

»Es ist persönlich, Alex.« In ihrer Stimme liegt ein warnender Ton: Bedräng mich nicht, so nahe sind wir uns noch nicht. »Ich gehe schon seit ein paar Jahren zu Kaye und für mich war es gut. Um einiges aufzuarbeiten. Ich dachte, sie könnte dir vielleicht auch helfen.« Sie gibt mir die Seite zurück und verschränkt die Arme. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht zu dem Schluss gekommen ist, dass du vom rachsüchtigen Geist deiner Exfreundin heimgesucht wirst.«

»Sie hat es als metaphorischen Geist bezeichnet.«

Ruth schnaubt. »Versuch es, Alex. Kaye ist wirklich gut bei solchen Sachen.«

»Was? Redet auch mit dir ein toter Liebhaber?«

Ich habe das Falsche gesagt, etwas absolut Falsches. Ihr Gesichtsausdruck wird hart und dann absolut leer, während sie von der Couch aufsteht. »Ich mache Kaffee, willst du einen?«

»Ruth, hey, komm schon.« Ich hole sie an der Küchentür ein. Ihre Schultern versteifen sich, als ich sie berühre. »Ruth? Es tut mir leid, okay? Was auch immer es war, ich entschuldige mich dafür.«

»Ich will wirklich nicht darüber reden«, sagt sie. »Können wir das Thema einfach fallen lassen?«

»Fertig und abgeschlossen. Ehrlich.«

Ein kurzes Zögern, dann nickt sie. Sie akzeptiert meine Entschuldigung mit einem angespannten Lächeln, aber etwas steht jetzt zwischen uns, wachsam und vorsichtig und kühl, und ich wünsche mir mehr als alles andere, dass ich die Zeit um fünf Minuten zurückdrehen könnte.

»Noch Freunde?«, frage ich.

»Immer«, antwortet sie. Aber ihr Lächeln verblasst bereits.

Später an diesem Abend döse ich vor dem Fernseher, als Ruth in den Raum kommt, in der Hand ein gefaltetes Stück Papier.

»Hör mal«, sagt sie und schaltet den Ton vom Fernseher ab. »Diese Phrase, nach der du dich neulich erkundigt hast, ›Belials Söhne‹? Ich hab für dich nachgeschaut.«

Natürlich hat sie das. Das Gefühl, etwas nicht zu wissen, hätte so lange an ihr genagt, bis sie schließlich danach gesucht hat, um es mir jetzt so stolz zu präsentieren wie eine Katze eine soeben gefangene Maus.

»Cool«, sage ich mit einem Lächeln. »Woher stammt sie?«

»Milton. Du kennst Das verlorene Paradies?« Ruth öffnet den Zettel und gibt ihn mir. Es ist ein Ausdruck einer Webseite, eine Seite, über die sich enggesetzte Verse ziehen. Einen Absatz hat sie mit Gelb hervorgehoben:

An Höfen und Palästen herrscht er auch,

In üppigen Städten, wo des Schwelgens Jubel

Und Schuld sich über ihre höchsten Thürme

Erhebt. Wenn Nacht die Straßen dunkel hüllt,

Dann wanken Belials Söhne wild heraus

Von Wein und frechem Übermuth erfüllt.

»Okay.« Ich lege das Blatt auf dem Couchtisch ab. »Kannst du mir die Kurzzusammenfassung geben?«

Ruth rollt mit den Augen, aber zumindest lächelt sie. »Das verlorene Paradies ist ein gigantisches episches Gedicht, das letztendlich die gesamte Adam-und-Eva-Geschichte nacherzählt, genauso wie den Fall Luzifers und der anderen rebellierenden Engel aus dem Himmel. Verstanden?«

Ich schenke ihr einen scharfen Blick. »So viel wusste ich auch noch.«

»Okay, also Belial ist einer dieser gefallenen Engel, der zum Dämon wird. Milton setzt ihn in Verbindung mit Korruption, Trunkenheit und Exzessen, aber in manchen religiösen Texten – zum Beispiel in den Handschriften vom Toten Meer – scheint Belial einfach nur ein anderer Name für den Teufel zu sein.«

»Das steht alles im Gedicht?«

»Nein, steht es nicht.« Ruth zuckt mit den Achseln. »Aber es war interessant, also habe ich noch einige Kommentare gelesen und andere Webseiten besucht.«

Natürlich hat sie das getan. »Und Belials Söhne, was sind sie? Eine Art Kult? Teufelsanbeter?«

»Ich habe nichts in der Richtung gefunden. Es scheint einfach eine Anspielung auf Sünder generell zu sein oder im Speziellen für gottlose oder rebellische Leute. Oder Säufer. Oder Schwule. Oder welche Gruppe auch immer zur jeweiligen Zeit am meisten gehasst wurde. Oh, und es ist auch der Titel von Songs von mindestens zwei verschiedenen Death Metal Bands.« Sie grinst. »Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, dir die Texte auszudrucken. Sie waren ziemlich tragisch.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Was ich mir nicht vorstellen kann, ist, warum Serge genau diese Phrase auf seiner Visitenkarte stehen hat. »Also hast du niemanden gefunden, der sich selbst Belials Söhne nennt, keine Bands oder Clubs oder irgendwas in der Art?«

Ruth kneift die Augen zusammen. »Das hat etwas mit Madigan zu tun, oder?«

»Ja«, gebe ich zu. »Ich meine, vielleicht. Ich weiß es nicht mehr.«

»O Alex.« Sie setzt sich neben mir auf die Couch und umfasst meine Hand mit ihren Händen. »Hör mir zu, okay? Du musst Madigan wirklich vergessen, musst aufhören damit, rausfinden zu wollen, was passiert ist, denn das kannst du nie schaffen. Es ist ein Labyrinth, das du nie mehr verlassen wirst.«

»Ruth, ich bin nicht …«

»Sie ist tot, Alex.« Ihre Handflächen glühen fast. »Sie ist tot, aber du bist es nicht. Du hast ein Leben und du musst anfangen, es auch zu leben.«

Ein großer Teil von mir weiß, dass sie recht hat, weiß, dass auch Kaye Allen recht hat, wenn sie über Schuldgefühle und Verlangen spricht und darüber, über beides hinauszuwachsen, aber ein kleiner Teil – ein Teil, von dem ich gehofft hatte, er wäre begraben – weiß es jetzt besser.

Serge. Das Bild hebt sich vor meinem inneren Auge: wie er mich erwartungsvoll aus den Falten seines Gesichts mit seinen Schweineaugen anstarrt.

Madigan und ich standen uns recht nahe. Wir haben gewisse Dinge geteilt.

Denn er weiß es. Er weiß genau, was gerade geschieht, und auch, warum. Das wollte er an diesem Tag in der Kathedrale herausfinden mit seinen kryptischen Fragen und seiner anbiedernden Sorge. Vielleicht ist er sogar dafür verantwortlich. Und ich wünsche mir, ich hätte diese verdammte Karte nicht weggeworfen, weil ich plötzlich den zwingenden Drang verspüre, Serge zu finden, von dem ich, wie mir auffällt, noch nicht einmal den Nachnamen weiß. Ihn zu finden und meine Finger in seinen Hals zu krallen, bis noch das letzte bisschen Wahrheit ans Licht kommt.

Denn Madigan mag ja tot sein, aber sie ist weit davon entfernt, beerdigt zu sein.

nah dran, Lexi. so nah dran

Ruths Schlafzimmer, kühl und ruhig. Mondlicht fällt durch die offenen Vorhänge. Sie liegt auf dem Rücken im Bett, die Decke um ihre Hüfte gebauscht. Sie ist nackt, soweit ich es von meinem Standpunkt an der Tür aus erkennen kann.

allerdings nicht viel zu sehen, oder?

Ich kann die sanfte Kurve ihrer Brüste ausmachen, die Brustwarzen klein und dunkel, kann den Rhythmus ihrer Atemzüge im Schlaf beobachten. Sie weiß nichts von meinem prüfenden Blick und ist so verletzlich, so schön, wie sie dort liegt. Ich will zu ihr gehen, ihr die dunklen Strähnen aus dem Gesicht streichen und ihr einen Kuss auf die Stirn geben.

sie gehört hier nicht her. sie ist kein Teil davon, kein Teil von uns

Ruth bewegt sich im Schlaf und instinktiv ziehe ich mich von der Tür zurück oder versuche es zumindest.

nicht so schnell, Geliebter

Gefangen in dem lähmenden Traum, unfähig, mich abzuwenden, beobachte ich sie weiter. Die Angst, dass sie jeden Moment aufwachen könnte und mich zur Rede stellen, was zur Hölle ich da tue, ist fast aufregend. Meine Augen richten sich auf ihre rechte Hand, die schlaff auf dem Kissen liegt. Meine eigene Hand hängt an meiner Seite, die Finger um den Griff eines Messers geschlossen.

du warst nah dran

Ich fühle nichts. Keine Wärme, keine Kälte. Als stände ich innerhalb eines Vakuums, abgeschnitten von jeder echten Empfindung. Es ist seltsam angenehm – nicht mal ein Anflug der Panik oder der Hilflosigkeit, die ich an dem Abend im Kino empfunden habe, sondern nur ein tiefes Zufriedenheitsgefühl.

aber ich bin kein Geist, Lexi

So sicher. Ich könnte für immer in diesem Traum verweilen, hier stehen und Ruth beim Schlafen beobachten, Madigans Stimme in mir lauschen, die nicht länger wütend ist, nicht länger wahnsinnig, sondern so sanft und weich wie am Beginn unserer gemeinsamen Zeit.

Ich bin so viel mehr