Kapitel 3

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mir kalt. Meine Zunge fühlte sich pelzig an. Das Bett war leer, die Decken lagen alle in einem Haufen auf dem Boden. Von Madigan war keine Spur zu sehen, und mein Herz rutschte mir in die Hose bei dem Gedanken, dass sie sich so früh, so mühelos weggeschlichen hatte, um mich wieder ohne ihre Telefonnummer zurückzulassen, es sei denn …

Stimmen. Leise, aber definitiv weiblich und definitiv mehr als nur eine, drangen aus dem hinteren Teil des Hauses an meine Ohren.

Ich grub Jeans und ein sauber riechendes T-Shirt aus dem Kleiderhaufen in einer Ecke, zog sie mir über und fuhr mir mit steifen Fingern durch die verknotete Masse, die zu der Zeit mein Haar bildete.

»Wirklich schön, Alex«, murmelte ich. »Ich kann sehen, warum sie geblieben ist.«

Sie waren in der Küche, Madigan und Ruth, sie lehnten an verschiedenen Arbeitsflächen und tranken aus den Tassen der letzten Stunde – angeschlagenen, rosa Steinguttassen, gespendet von meiner Mutter, die letzten Überlebenden ihres ältesten Tafelgeschirrs, die wir nur benutzten, wenn sonst nichts mehr sauber war.

»Kaffee, Alex?«, fragte Ruth und warf einen vielsagenden Blick auf die Spüle, in der sich dreckiges Geschirr stapelte. Ich war dran mit dem Abwasch. Ich versprach schon seit drei Tagen, dass ich ihn bald machen würde. »Vorausgesetzt, wir können noch eine Tasse finden …«

Ich rollte mit den Augen. »Heute Nachmittag, versprochen.«

»Hmmph.«

Sie goss mir trotzdem einen Kaffee ein und schob ihn mir auf diese sorgfältige, vorsichtige Weise zu, in der sie alles tat.

Ruth war Architekturstudentin, schrieb an ihrer Doktorarbeit, und ich hatte mich oft gefragt, ob ihre intensive – manche hätten vielleicht gesagt zwanghafte – Aufmerksamkeit fürs Detail sie auf dieses Fach gebracht hatte oder ob diese Eigenschaft sich erst später entwickelt hatte, eine Gewohnheit, die nach Jahren intensiven Studiums zur zweiten Natur geworden war. Manchmal konnte es unglaublich nerven, aber sie hatte sich als die noch am wenigsten Verrückte in einer langen Abfolge von Mitbewohnern entpuppt. Und sie war wahrscheinlich so etwas wie die engste Freundin, die ich seit Jahren überhaupt gehabt hatte.

»Gut geschlafen, Lexi?« Madigan starrte mich an, mit einem intensiven, irritierenden Blick, den ich nicht deuten konnte. Es lag keine Trauer, kein Zweifel, keine Furcht, kein Überbleibsel der gestrigen Geständnisse darin. Es war, als wäre alles wieder normal und das Schreckgespenst des Todes, das dafür gesorgt hatte, dass sie sich so fest an mich geklammert hatte, wäre durch das Licht des Tages gebannt worden.

Ich wagte ein Lächeln. »Schon lange wach?«

»Ungefähr eine halbe Stunde. Ruth und ich haben Erfahrungen ausgetauscht.«

Ihr Ton war besitzergreifend, vielleicht sogar ein wenig eifersüchtig und ich warf einen Blick auf Ruth. Statt ihr übliches sardonisches Lächeln auf den Lippen zu haben – eine weitere ulkige Irre, die ich ertragen muss? –, starrte sie an die gegenüberliegende Wand und ihre kurzen braunen Haare warfen einen scharfen, dunklen Schatten über ihr Gesicht.

Und dann fühlte ich es. In der Spannung zwischen ihnen schwangen so unmissverständlich Revierstreitigkeiten mit, dass eine Welle von Selbstgefälligkeit mich überschwemmte. Ich distanzierte mich fast sofort davon, empfand einen Anflug von Scham und fühlte mich mehr als nur ein wenig unbehaglich.

»Ich hoffe, nichts allzu Verfängliches?«

Madigan lachte. »Aber natürlich! Wir sind den gesamten Katalog deiner vergangenen Sünden und Vergehen durchgegangen.«

»Ja«, fügte Ruth leise hinzu. »Wir wollten gerade das Urteil fällen.«

»Oh?«

»Schau nicht so besorgt, Lexi.« Madigan streckte die Hand aus und wuschelte mir durch die Haare, wobei sie Ruth einen bedeutsamen Blick zuwarf. »Ich kann ziemlich gnädig sein, wenn ich in der Stimmung bin.«

Diese Miene kannte ich nur zu gut. Ihre unverhohlene Finger-weg-Warnung – das gehört mir –, dieselbe sture Verweigerung zu teilen, an die ich mich noch aus unserer Kindheit erinnerte, jetzt irgendwie noch eindringlicher, weil sie unausgesprochen blieb. Katherine hatte sie ständig deswegen ermahnt, wegen dieser kleinlichen Selbstsucht, die oft von solch banalen Dingen hervorgerufen wurde: einem neuen Satz Buntstifte, einem alten, mottenzerfressenen Teddybär, den sie auf dem Boden der Spielzeugkiste wiederentdeckt hatte, dem letzten fleckigen Apfel in der Obstschale, das alles drückte sie mit demselben besitzergreifenden Schrei an die Brust: Mein!

Madigan mein, Madigan mein, ertönte dann der vorwurfsvolle Singsang ihrer Mutter, während sie widerwillig die Finger von dem begehrten Objekt löste. Sollen wir dich so nennen, Liebes? Madigan mein?

Immer noch dieselben alten Spiele. Nur diesmal war es ich, der beansprucht wurde.

Madigan mein. Ich hielt den Atem an, bevor die Worte meine Lippen passieren konnten, denn ich war mir sicher, dass das Wiederaufleben ihres alten Spitznamens nicht gut ankommen würde.

Stattdessen: »Habt ihr euch schon auf ein Strafmaß geeinigt?«

Madigan warf die Haare zurück und zwinkerte mir dramatisch zu. »Oh, ich bin mir sicher, dass du meine Anwesenheit als eine mehr als angemessene Strafe für deine Vergehen empfinden wirst.«

»Wirklich?«, fragte Ruth mit bittersüßem Sarkasmus. »Du willst ihn nicht einfach auf die Streckbank legen und es hinter dich bringen?«

Das Lächeln, das Madigan ihr schenkte, war zuckersüß. Ihr Blick schwenkte in meine Richtung, und sie küsste mich auf die Wange. »Ich muss wirklich duschen, Lexi.«

»Den Flur entlang, dann rechts«, erklärte ich ihr. »Du kannst mein Handtuch nehmen – das grüne.«

»Danke.« In der Tür hielt Madigan noch einmal kurz an. »Das ist das Problem an einer Nacht hemmungsloser Ausschweifungen, oder? Man muss am Morgen so verdammt viel sauber machen.« Ein letztes Grinsen, dann war sie verschwunden.

Ruth schnaubte und schüttelte den Kopf. »Nur für den Fall, dass ich die eine Million und eine andere Andeutung nicht mitbekommen habe, die sie gemacht hat.«

Ich verzog das Gesicht. »Ihr zwei versteht euch nicht besonders?«

»Oh, Alex, wo hast du denn die aufgetrieben?«

»Witzige Geschichte, eigentlich. Ich kenne sie schon fast mein ganzes Leben.«

»Und du bist geistig noch gesund?«

»Schau« – ich breitete meine Hände flehentlich aus – »Madigan ist okay, mehr als okay. Sobald du sie besser kennst, wirst du es sehen.«

»Sobald ich sie – o jemine. Erzähl mir nicht, das könnte was Ernstes werden.«

»Ich hoffe es.«

Ruth biss sich auf die Lippe.

»Was?«, drängte ich. »Komm schon, spuck es aus.«

»Okay.« Sie räusperte sich und sah mir in die Augen. »Es ist nicht nur, dass ich sie nicht mag, Alex, oder dass sie mir gegen den Strich geht oder worauf auch immer du sonst es schieben willst. Es ist mehr als nur das. Irgendetwas an ihr ist … ich weiß nicht … falsch.«

»Komm schon, Ruth. Du hast noch nie eins der Mädchen gemocht, mit denen ich ausgegangen bin.«

»Na ja, stimmt.« Milde Herablassung in ihrer Stimme, als hätte ich plötzlich verkündet, die Sonne ginge im Westen auf. »Weil sie alle dämliche, selbstsüchtige Tussen waren, die niemals …«

»Madigan ist nicht dumm.«

»Nein, das ist sie sicher nicht. Sie ist … Ich bin mir nicht sicher, was sie ist.«

Eine Gefahr.

Ein unangenehmes Schweigen folgte dem unausgesprochenen Gedanken.

Wie blind, wie begriffsstutzig von mir, dass ich das nicht früher bemerkt hatte. Ruth war durchaus nicht unattraktiv – ihr scharf geschnittenes Gesicht und ihre gebräunte Haut, ihr schlanker und fitter Körper von all diesen morgendlichen Läufen – und zum ersten Mal fragte ich mich, warum zwischen uns nie etwas geschehen war. Hatte sie schon vorher Signale ausgesendet, nur um zurückgewiesen oder ignoriert zu werden? Oder war das eine neue Entwicklung, eine vorübergehende Anziehung, ausgelöst von der Aussicht auf eine echte Rivalin?

Keine Zeit, um zu fragen, selbst wenn ich den Mut besessen hätte.

Ruth wandte sich bereits ab und kippte den Rest ihres Kaffees in die überquellende Spüle. »Du wirst das heute erledigen, oder?«

»Versprochen.«

»Hmmm.« Sie runzelte die Stirn. »Wir sind befreundet, richtig?«

»Natürlich.«

»Dann rate ich dir als Freundin, vorsichtig zu sein.«

»Vorsichtig?«, wiederholte ich. »Was, bei Madigan?«

Ruth nickte. »Ich werde dir nicht von dem Gespräch erzählen, das wir heute Morgen geführt haben – das bleibt zwischen mir und ihr, und Gott weiß, wahrscheinlich bin ich zu feinfühlig –, aber mit dieser Frau stimmt etwas nicht. Sie scheint Verzweiflung zu versprühen

Verzweiflung. So konnte man es auch nennen.

Alles. Ich will alles tun.

»Es gibt Dinge, die du nicht weißt, Ruth. Ich kann dir nicht erzählen, was es ist, also wirst du mir einfach vertrauen müssen: Zeig ein wenig Nachsicht. Bitte.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte. »Alex, es bist nicht du, dem ich nicht vertraue.«

Ich verlagere mein Gewicht auf der Bank und verziehe das Gesicht, als das alte, widerspenstige Holz knarrt. Wird jede Erinnerung an sie jetzt bitter werden, zerstört durch die kühle Betrachtung des Rückblicks? Ergeben all die Teile, die kleinen Omen und beklemmenden Momente ein einziges spöttisches Bild: Warum konntest du es nicht sehen?

Aber es ist nicht nur meine Einbildung, nicht nur Wunschdenken. Es gab eine Zeit – ich weiß, dass es sie gab –, als Madigan anders war, besser als das, zu dem sie geworden ist. Eine Zeit, in der ich sie ohne Angst, ohne Entschuldigungen liebte.

Ohne Schmerz.

Ruth würde natürlich widersprechen. Sie würde erbittert den Kopf schütteln und mich beschuldigen, ständig Fehler absichtlich zu übersehen, und mich der schlimmsten Art von Masochismus bezichtigen, nur für … was? Eine Erinnerung? Eine Illusion, die schlecht zu der widerlichen Wahrheit passte?

Ruth, die Erste, die es bemerkte, und die Erste, die ging. Sie packte ihre Taschen, kaum vier Wochen nachdem Madigan angefangen hatte, bei mir einzuziehen. Ein allmählicher, inoffizieller Einzug, der mit einer Zahnbürste und Tampons, getragener Kleidung und dem Buch anfing, das sie gerade las. Dann vielsagendere Gegenstände: Pinsel und in Plastik gewickelte Tonklumpen, überquellende Skizzenblöcke und ihre Staffelei, fleckig und angeschlagen, die wie ein Skelett in einer Ecke des Wohnzimmers herumstand. Zu Ruths Missfallen stank das gesamte Haus bald nach Ölfarbe und Terpentin. Hat sie dich auch nur gefragt, Alex? Mich hat sie auf jeden Fall nicht gefragt.

Ruths Zimmer ist das einzige, das von der Annektierung verschont bleibt, bis schließlich auch dieser Raum besetzt wird. Eine Haarbürste, ein Stift oder was auch immer es war, das Madigan sich ohne zu fragen ausgeliehen hatte. Ich glaube nicht, dass es eine Rolle gespielt hat. Es ging um das Eindringen in Ruths Gebiet; das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

An diesem Abend wartete Ruth nach der Arbeit in der Einfahrt auf mich, der geliehene Kombi ihres Bruders bereits gefüllt mit ihren wenigen Möbeln und mehreren zugeklebten Kartons. Mit bleichem Gesicht und rotgeriebenen Augen drückte sie mir einen Umschlag in die Hand – das sind zwei Wochen Miete, ich gehe – und als ich sie nach dem Warum fragte, spuckte sie aus, spuckte tatsächlich auf das Gras vor meinen Füßen.

Frag sie. Außer, du willst diesmal tatsächlich die Wahrheit hören.

Laut Madigan war es Eifersucht, ganz einfach. Ein Kichern von der Couch, eine der unbedeutenderen Marionetten – Leigh? Brett? – schlürfte etwas Sprudelndes, Orangefarbenes aus einem Glas und reinigte pflichtbewusst ihre Pinsel. Auf der Staffelei stand ein neues Gemälde, wildes Rot und Schwarz und zu wüst, um es lange zu betrachten, ihm wandte Madigan sich mit einem Achselzucken wieder zu.

Eifersucht. Die arme Ruth, bei ihr ging es immer um Eifersucht.

Ihr Rücken war warnend angespannt. Lass es nicht drauf ankommen. Stell mich nicht infrage.

Und ich tat es nicht.

Während ich hier sitze, die Predigt oder das Evangelium oder wie immer sie es nennen nur ein dumpfes Hintergrundgeräusch, frage ich mich, was Ruth sagen würde, wenn ich sie anriefe und fragte, was genau an diesem Tag passiert war. Eine lächerliche Idee. Wie sollte ich das jetzt überhaupt ansprechen?

Hey, Ruthie, rate mal? Ding dong, die Hex’ ist tot und so. Jetzt ist sie unter der Erde und kann nicht mehr zurückkommen, um dich zu holen, also wie wäre es, wenn du mal erzählst? Tut mir übrigens leid, dass ich dich nicht zur Beerdigung eingeladen habe, aber vielleicht willst du dich später mit den Marionetten treffen und beim Ententanz auf ihrem Grab mitmachen?

Vielleicht haben all diese alten Frauen recht, wenn sie sagen, dass es besser ist, die Geheimnisse der Toten nicht zu kennen.

Der Pfarrer hat das Thema gewechselt und spricht jetzt über Madigan selbst. Ein farbloses, sicheres, dürftiges Porträt, das überhaupt nicht der Frau gleicht, die ich kannte. All dieses Gerede über Stärke im Leiden und das tapfere Tragen seines Kreuzes. Sanfte Worte, nicht so sehr auf Wahrheit ausgerichtet, eher auf Trost, und hätte Madigan sie hören können, wie sehr hätte sie sie verachtet.

Hinter mir lacht jemand. Kaum hörbar, ein unfreiwilliges amüsiertes Schnauben, das sofort in ein Husten verwandelt wird, aber trotzdem ein Lachen. Ich drehe mich halb um und sehe sie alle in der letzten Reihe, Ellbogen an Ellbogen aufgereiht wie Krähen, die auf eine Leiche warten. Joaquin fängt meinen Blick auf, sein langsames, langbewimpertes Zwinkern übermäßig verschwörerisch und so fast schon obszön.

Wütend wende ich den Blick ab und ramme mir die Fingernägel in die Handfläche. Wie kann er es wagen! Dieser pathetische kleine Wichser, wie kann er es wagen, auch nur anzudeuten, dass ich zu ihrem Kreis gehörte. Ich bin keiner von ihnen und ich war es nie. Ich war so viel mehr als eine Marionette und so viel länger. Und das ist die Wahrheit, die ich ihm ins Gesicht schreien will, die ich jedem einzelnen von ihnen ins Gesicht schreien will.

Ich war vor euch da. Ich war als Erster da.

Aber selbst mitten in diesem plötzlichen Wutanfall höre ich ihre Worte, ihren trockenen, spöttischen Tonfall.

und als Letzter, Lexi, wer war als Letzter da? Du, meine gelegentliche Liebe? O nein, du nicht. Erinnerst du dich?

Nein. Ich werde nicht darauf hören und ich werde mich nicht daran erinnern. Diese Erinnerungen sind zu frisch. Weniger als eine Woche alt und noch scharf genug, um zu verletzen: ihre Tiraden und mitternächtlichen Beschuldigungen, die sie ins Telefon kreischte, und ich, der ich zurückschrie – du hast verfickt noch mal verloren, Madigan, du irres, psychotisches Flittchen –, bevor ich schließlich einfach auflegte, das Telefon ausschaltete und mich in einen kranken, bewusstlosen Schlaf trank. Weil genug wirklich genug war.

Bis es spät am nächsten Morgen, das Telefon war seit weniger als einer Minute wieder angestellt, wieder klingelte und ich zögerlich abhob, um nicht sie, sondern Bailey am anderen Ende der Leitung zu hören.

Bailey, schonungslos und mit gebrochener Stimme. Alex, sie ist tot.

Nein, nicht diese Erinnerungen, jetzt noch nicht.

Aber das Bedürfnis nach einer Erinnerung ist drängend und hell wie der Zwang, wieder und wieder an einem verfaulten Zahn herumzuspielen, egal, wie weh es tut – oder vielleicht sogar gerade deswegen. Mein Geist dreht und dreht sich, um sich schließlich für einen anderen Tag zu entscheiden, einen anderen Morgen: Ich, als ich erschöpft nach einer Nachtschicht im 7-Eleven nach Hause kroch, um sie zusammen auf der Couch zu finden, sein Kopf in ihrem Schoß, während ihre Finger dünne, lose Zöpfe in seine Haare flochten.

Das murmelnde Gespräch brach plötzlich ab, als zwei Paar Augen sich auf mich richteten.

»Hallo, Lexi.« Ein mysteriöses Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

»Hi.« Ich zögerte in der Tür und starrte erst Madigan an, dann den dünnen, schwarzgekleideten asiatischen Jungen, der sich neben ihr zusammengerollt hatte. Einen Jungen, der unter meinem Blick nicht einen Zentimeter zurückwich: keine plötzlichen Schuldgefühle, kein unruhiger, befangener Positionswechsel. Er lag einfach da, als wäre das alles vollkommen natürlich, als gehöre er dorthin.

»Das ist Joaquin«, sagte Madigan, als könnte der Name alles erklären.

Der Junge wedelte leicht mit den Fingern, bewegte sich sonst aber nicht.

Unzählige Fragen schossen mir durch den Kopf, angestachelt von, o ja, von dem plötzlichen Aufflackern von Eifersucht – wer war er, um so nah herangelassen zu werden? –, aber ich stellte keine davon. Inzwischen kannte ich die Regeln. Sie würde mir alles erzählen, könnte sich tatsächlich gar nicht davon abhalten, aber nur, wenn ich nicht als erstes nachfragte.

Die Herausforderung eines starken Gegners.

Also gähnte ich stattdessen. »Ich muss wirklich schlafen gehen. Schön, dich kennenzulernen, Joaquin. Wir sehen uns, ja?«

Ich war nicht länger als zehn Minuten im Bett, die Decke über den Kopf gezogen, um das Tageslicht auszusperren, als sie in den Raum schlich. »Macht es dir was aus, wenn ich mich zu dir geselle?« Ihre Finger an meiner Hüfte, ihre übliche eiskalte Berührung, so kalt, dass es mich all meine Willenskraft kostete, nicht zurückzuweichen. Sie schien diese winterliche Kälte zu kultivieren und weigerte sich sogar, die Heizung anzumachen, unter dem Vorwand, dass es ihre Augen austrocknete. Manchmal fragte ich mich, ob es gar nicht die Kälte war, die sie so sehr liebte, sondern eher der thermodynamische Prozess: der Übergang der Wärme von meinem Körper in ihren.

»Ich bin selbst ziemlich geschafft«, flüsterte Madigan und legte einen Arm um meine Hüfte. »Wir haben uns die ganze Nacht unterhalten, Joaquin und ich.«

»Mmmm.«

»Über Kunst, überwiegend über Kunst. Er pennt übrigens auf der Couch.«

Kaum eine Bitte um Erlaubnis, aber trotzdem nickte ich. »Sicher.«

Ein paar Momente praller, schweigender Erwartung und dann war sie bereit. Musste alles erzählen, musste es einfach tun wie ein Kindergartenkind: Schau, siehst du mein neues Spielzeug?

Ihr neues Spielzeug. Joaquin, ein Junge, der sich in den kleinen Galerien von Northcote und Fitzroy herumtrieb, gekleidet in zerfetzte Gothic-Kleidung mit einem Skizzenblock unter dem Arm, dessen Inhalt er jedem zeigte, der ihm auch nur einen kurzen Blick schenkte. So hungrig, der Ausdruck auf seinem Gesicht, eine eifrige Gier, die sie am Nachmittag dazu bewogen hatte, sich seine Bilder einmal anzusehen. Größtenteils jugendliche Morbidität – Dämonen und Kerker und bluttropfende Kreuze –, aber darunter ein Funken von Potenzial, der sie genug interessiert hatte, um ihn mit nach Hause zu nehmen, ihn im Duft von Ölfarbe vor eine leere Leinwand zu stellen und zu schauen, was er wirklich konnte.

»Und?«

»Oh, da ist absolut etwas. Aber man muss ihm ein paar Dinge beibringen.«

»Und du wirst ihn unterrichten?«

Madigan kuschelte sich fest an meine Brust. »Warum nicht? Er will einfach nur eine Weile hier abhängen. Du weißt schon, zuschauen, was ich tue, und vielleicht hier und dort ein paar Anregungen bekommen. Ich kann nichts Schlimmes daran finden.«

»Er wird dir nicht im Weg umgehen?«

Ein leises, halb selbstvergessenes Lachen. »Im Gegenteil. Ich habe Joaquin ein paar meiner Bilder gezeigt und er versteht sie, versteht sie wirklich. Er sieht, was ich versuche zu erreichen, er hört genau, was ich sage. Ich glaube, genau das brauche ich. Jemand, an dem ich meine Ideen ausprobieren kann, endlich mal richtiges Feedback.«

So hatte ich sie noch nie reden hören. Bis jetzt hatte ich den Eindruck gehabt, ihre Kunst sei halb Hobby, halb Verpflichtung; etwas, das sie überwiegend wegen ihres Vaters tat, weil er einen Studienabschluss von ihr verlangte, und nicht weil sie selbst davon überzeugt war. Es füllt den Tag, hatte sie mir gesagt. Nun schien es, als füllte es mehr als nur das und es schmerzte, es jetzt von ihr zu hören, auf diese Art; zu wissen, dass Joaquin es zuerst gehört hatte. Diesem fast Fremden, einem dünnen kleinen Kind, um Himmels willen, hatte sie sofortigen Zugang gewährt.

Was noch, wollte ich fragen. Was hast du noch da drin versteckt? Was versteckst du noch vor mir?

Aber sie war bereits woanders, erzählte mir von der geplanten Ausstellung, in der es ihr gelungen war, sich einen Platz zu sichern – wenn sie nur noch die richtigen Stücke schaffen konnte. Ein halbes Dutzend unvollendeter Gemälde im Studio der Universität und nicht eines davon wurde ihrer Vision gerecht. Also dachte sie darüber nach, sie alle zu übermalen und neu anzufangen. Allerdings spielte die Zeit gegen sie.

Wie in allem.

Sie tippte mir auf die Wange. »Hey, Lexi?«

»Hmmm?«

»Du bist nicht eifersüchtig? Auf Joaquin?«

»Natürlich nicht«, log ich. Eifersucht, Neid, Ablehnung; in meinen Eingeweiden tanzte jede Form von Missgunst.

»Gut. Denn abgesehen von allem anderen ist dieser Junge stockschwul.«

Ich seufzte. »Madigan, ich vertraue dir. Okay?«

»Das ist gut.« Ein unerwartetes Lachen, teuflisch und spöttisch, und ihre Stimme senkte sich um eine halbe Oktave. »Aber hältst du das wirklich für klug?«

Sie kamen einzeln oder in kleinen Grüppchen, alles Freunde von Joaquin oder Freunde von Freunden. Manche von ihnen nur Schaulustige, beim einzigen Besuch getrieben von Neugier oder Langeweile oder Gott weiß was sonst, die genauso leise, wie sie gekommen waren, wieder in ihrer gefühlsbeladenen Welt verschwanden. Andere kamen wieder und wieder, um aufmerksam in ihrer Gegenwart zu sitzen, um ihr mit dem Eifer frischrekrutierter Jünger zu lauschen. Diese letzte Gruppe entwickelte einen harten Kern von vielleicht acht oder neun Leuten – anscheinend jedoch in ständiger Rotation, sodass selten mehr als zwei oder drei gleichzeitig im Haus waren.

Abgesehen von Joaquin, natürlich.

Ein eifersüchtiger junger Leutnant, ständig wachsam gegenüber potenziellen Thronräubern, der selten von Madigans Seite wich, wenn andere Marionetten da waren. Gelegentlich beschloss er, mich zu belästigen, lehnte am Küchentresen oder breitete sich auf meinem Bett aus, je nachdem, in welchen Raum ich mich zurückgezogen hatte. Er plapperte über alles, von Malerei bis Mondsucht, von Lakritze bis zu unerwiderter Liebe, und warf mir währenddessen immer wieder hinter seinem dichten Pony raffiniert scheue Seitenblicke zu.

Ich duldete seine Aufmerksamkeit Madigan zuliebe. Wann immer es mir zu viel wurde, verließ ich einfach für frei erfundene Erledigungen das Haus. Manchmal vermutete ich, dass Madigan die Situation unterstützte, vielleicht indem sie Joaquin glauben ließ, dass er Erfolg haben könnte, wenn er nur beharrlich blieb.

»Vielleicht nur, weil es Spaß macht«, schlug Ruth vor, als ich es ihr gegenüber erwähnte. »Vielleicht einfach, weil sie es kann.«

Die einzige andere Marionette, die mich beachtete, war Kate. So dünn, so zerbrechlich, dass es schien, als könnte schon ein Atemhauch sie umwerfen, kam sie manchmal in die Küche, um sich eine Tasse heißes Wasser mit Milch zu machen und fröhlich mit mir zu reden, während sie ihre üblichen drei Löffel Zucker einrührte. Engel-Tee nannte sie es. Ich habe nie gesehen, dass sie etwas anderes getrunken hätte.

Mit ihrer farbenfrohen, weitgeschnittenen Kleidung und dem scheuen Grinsen hob Kate sich so sehr von den anderen Kindern ab – ein eleganter Flamingo, der sich mit launischen Krähen eingelassen hatte –, dass ich sie einmal fragte, warum sie überhaupt mit ihnen abhing. Hatte sie keine anderen Freunde, die ein bisschen weniger seltsam waren?

»Es geht nicht um die.« Lächelnd nippte sie an ihrer Tasse. »Es ist sie.«

»Wer, Madigan?«

Ein schnelles Nicken. »Sie weiß so viel, Alex. Ich höre ihr gerne zu.«

Madigan. Natürlich war es Madigan. Sie verbrachte jetzt immer mehr Zeit im Haus, das Wohnzimmer ihr Studio, übersät mit Leinwänden, die sie aus der Universität hierhergeschleppt hatte, wo sie in schweigender, verhüllter Erwartung an den Wänden lehnten.

Nicht, dass ich viel von ihr gesehen hätte.

Am Anfang hatte ich mir ein paar ihrer Mal-Sessions angesehen, ich saß auf einer Ecke der Couch, die widerwillig von einer schmollenden Marionette freigegeben worden war. Aber ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so wenig willkommen gefühlt hatte. Niemand hatte etwas gesagt, es hatte keine vielsagenden Blickwechsel gegeben, aber trotzdem war schmerzhaft offensichtlich gewesen, dass ich dort nicht hingehörte, dass ich einfach keiner von ihnen war. Wenn ich dabei war, waren ihre Unterhaltungen gestelzt und langweilig, untermalt von finsteren Blicken und dem Kauen an schwarzlackierten Fingernägeln. Ich war etwas, das man ertragen musste, eine Strafe, die man, ohne sich zu beschweren, auf sich nehmen musste, weil Madigan es so wünschte.

Madigan, die hochaufgerichtet, die Haare im Nacken zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden, vor ihrer Staffelei stand und auf die Leinwand vor sich einstach: eine abstrakte Linie in brutaler Farbe, auf ihre eigene, unverständliche Weise schön, und Welten von allem entfernt, was ich je zu schaffen versucht hatte.

Madigan, die nichts sagte und damit alles.

Geh weg, Lexi. Das ist nichts für dich.

Als ich die Botschaft verstanden hatte, versuchte ich nicht länger, mich aufzudrängen – obwohl ich mich manchmal in der Küche versteckte, eine Tasse Kaffee und die Zeitung vor mir, um auf die leisen Rhythmen ihrer Stimmen im nächsten Raum zu lauschen. Manchmal verstand ich Worte und ganze Sätze klar genug, um mir eine Vorstellung von der Unterhaltung zu machen, oh, wie sehr ich ihr dann grollte, weil sie mich von all dem ausschloss.

Weil ich dieses Spiel ebenfalls verstand.

Madigan gegen den Tod (ein bisschen Schummeln erlaubt).

Wir können ewig leben, aber nur durch die Kunst. Die Dichter wussten es, alle großen Maler wussten es. Kunst ist das einzige, das uns über unser sterbendes Fleisch erhebt. Kunst siegt jedes Mal über Krankheit und der Verfall kann sie nicht zerstören.

Ihre Worte wurden begleitet von dem zustimmenden Gemurmel ihrer Jünger, als hätten sie das noch nie zuvor gehört.

Denn Kunst ist die einzige Wahrheit und die Wahrheit ist ewig.

Und vielleicht hatten sie es noch nicht gehört. Die meisten von ihnen gingen noch in die Schule, zumindest diejenigen unter ihnen, die den Unterricht noch nicht auf der Suche nach etwas Besserem hatten sausen lassen, und ich bezweifelte, dass solche Philosophie im Lehrplan stand oder dass sie so etwas auf Facebook gelesen hatten.

Aber bei Madigan fanden sie es.

Und vielleicht waren sie genau das, was Madigan brauchte. Ihre jugendliche Aufnahmefähigkeit, die erst noch abgestumpft werden musste von dem Zynismus oder der Ironie oder dem gelangweilten Desinteresse, das unsere Altersgenossen schon aus Stolz an den Tag legten. Ich fragte mich, ob ich deswegen ausgeschlossen worden war, ob es das eventuelle Aufblitzen von Spott in meinen Augen war, das sie fürchtete, der Widerspruch, der mir zu leicht über die Lippen kommen konnte.

Hatte sie also Angst vor mir?

Es spielte kaum eine Rolle. Ich wollte sie trotzdem alle aus dem Haus treiben, Madigan an mich drücken und sie anbetteln, mit mir zu reden, mir zuzuhören, weil ich derjenige war, der sie liebte, weil ich derjenige war, der sie brauchte. Bedeutete ihr das denn gar nichts mehr? Wollte sie mich nicht?

Vollkommen selbstsüchtig, diese Gedanken – ich sterbe, Lexi – und ich hasste es, sie zu denken, hasste mich dafür, dass ich überhaupt fähig war, sie zu denken, aber trotzdem waren sie da.

Ich fing an, mehr und mehr zu arbeiten, machte Überstunden im 7-Eleven und nahm jede Schicht an, die mir bei Slick Video oder dem anderen halben Dutzend Läden angeboten wurde, in denen ich ab und zu einsprang. Ich erklärte mir selbst, ich bräuchte das Geld, bräuchte es immer, obwohl tatsächlich nichts weiter von der Wahrheit entfernt war. Madigan hatte die Hälfte der Miete übernommen, sobald Ruth gegangen war, und trug mehr als ihren Teil zum Lebensunterhalt bei; es war immer eine dienstbeflissene Marionette anwesend, um sie mit der Kreditkarte zum Supermarkt zu schicken, wenn die Vorräte knapp wurden.

Nein, Geld war nicht das Problem. Ich fuhr eine Vermeidungsstrategie, so einfach war es. Und es war nicht Madigan, der ich aus dem Weg gehen wollte, sondern dem leeren, überflüssigen Gefühl in mir, der Vermutung, dass ich inzwischen weniger Bedeutung für sie hatte als eine Topfpflanze.

Zu oft kam ich nach Hause, wenn sie noch bis in die frühen Morgenstunden Hof hielt oder fieberhaft allein arbeitete, sodass mein Erscheinen kaum mit einem Murmeln begrüßt wurde, während ich mir vorsichtig meinen Weg durch die halbzerdrückten Farbtuben und halb gegessenen Pizzareste bahnte, die überall herumlagen. Zu anderen Zeiten war das Wohnzimmer leer und still, bis auf die abgedeckte Staffelei und das leise Schnarchen einer übriggebliebenen Marionette, die auf der Couch schlief.

Die Staffelei.

Ich hasste sie, verachtete sie, fürchtete sie sogar auf eine eifersüchtige Art. Ich schlich fast auf Zehenspitzen daran vorbei, verfolgt von dem Gedanken, dass sie jeden Moment ihr Tuch abwerfen könnte und mit einem selbstgefälligen, hölzernen Grinsen auf mich zuspringen: Sie gehört mir, Alex; das weißt du, oder?

Dumm, erklärte ich mir selbst immer wieder, während ich neben Madigan ins Bett glitt. Es war vollkommen irre und trotzdem weigerte sich die Unsicherheit in mir zu verschwinden. Und aus irgendeinem Grund konnte ich nicht mit Madigan darüber sprechen. Jedes Mal, wenn ich es versuchte, wurde meine Kehle eng und es endete damit, dass ich einfach davonging, davonfuhr. Ich saß es aus und hoffte, dass dieses ganze verdammte Schlamassel sich von allein lösen würde.

Bis sie mich in einer Nacht mit Küssen und drängenden Liebkosungen aus dem Schlaf riss, ihre kalte Hand glitt in meine Boxershorts. Der Gestank von Terpentin in ihrem Haar, auf ihrer Haut verursachte mir Übelkeit, als wäre es der Gestank von siegreichen territorialen Urinmarkierungen, und zum ersten Mal stieß ich sie von mir.

»Ist das alles, was ich für dich bin? Ein geeigneter Schwanz?«

Ihre Hand zog sich an meine Hüfte zurück. »Wo kam das denn jetzt her?«

»Nirgendwoher«, murmelte ich. »Vergiss es, es spielt keine Rolle.«

Aber so einfach sollte ich nicht davonkommen. Stück für Stück zog sie es mir aus der Nase, all meine aufgestauten Frustrationen und die Eifersucht, die Einsamkeit und das bittere Gefühl, ausgeschlossen und isoliert zu sein. Zurückgewiesen. Und es klang alles so kindisch, so lächerlich, als ich es in Worte fasste, dass ich sofort bereute, es versucht zu haben.

Madigan seufzte. »Lexi, die Ausstellung ist in weniger als fünf Wochen.«

»Ich weiß.«

»Sie ist wirklich wichtig für mich.«

»Das weiß ich auch und es tut mir leid, ich habe einfach …«

Sie brachte mich mit einem Kuss zum Schweigen oder mit so etwas Ähnlichem wie einem Kuss. Eine Hand umfing mein Kinn und kaum geöffnete Lippen drückten sich hart und schnell auf meinen Mund: Halt den Mund, du machst es nur schlimmer. Ungeschickt griff ich nach ihr, aber sie hatte sich bereits weggerollt und wandte mir mit wütender, schweigender Zurückweisung die fahle Kurve ihres Rückens zu.

»Madigan?« Ich berührte ihre Schulter.

»Was?«

»Es tut mir wirklich leid. Aber so fühle ich mich.«

Das darauf folgende Schweigen dauerte eine gefühlte Ewigkeit und tat weh. Als sie schließlich sprach, war es mit kalter, überlegter Stimme. Sie hätte damit Nägel in Holz treiben können.

»Ich liebe dich, Lexi. Aber ich bin nicht dein Haustier und du kannst mich nicht für dich allein behalten.«

»Das habe ich nicht gesagt! Himmel, Madigan, warum hörst du eigentlich nie zu?«

»Oh, ich höre immer zu«, blaffte sie. »Und ich höre mehr, als du denkst.«

So vertiefte sich der Graben zwischen uns. Die Spannung, die ich mir vorher vielleicht nur eingebildet hatte, verstärkte sich und füllte das Haus wie der Geruch nach ranziger Milch. Die Marionetten bemerkten es natürlich sofort und stellten die Bürsten auf. Joaquin hörte auf, mich zu verfolgen, wandte mir den Rücken zu, wann immer ich durch den Raum ging.

Selbst Kate fing an, mir verletzte, verwirrte Blicke zuzuwerfen, als hätte ich sie irgendwie betrogen. An einem Tag trieb sie mich in eine Ecke, als ich aus dem Bad kam und mir mit einer Hand ein Handtuch um die Hüfte hielt, während aus meinen nassen Haaren Wasser auf den Teppich tropfte. »Sie braucht dich, Alex.« Kate starrte die Wand hinter meiner Schulter an, während ihre Finger nervös mit der bunten Perlenkette spielten, die sie um den Hals trug.

»Das zeigt sie ja toll.«

Kate schüttelte den Kopf und die Enttäuschung war klar aus ihrer Miene zu lesen. »Vielleicht sollte sie es dir nicht zeigen müssen

Aber ich war zu stur – zu wütend –, um auf sie zu hören.

Es war so viel einfacher, dem Problem aus dem Weg zu gehen, all die unangenehmen Stunden mit Arbeit zu füllen oder, wenn das nicht möglich war, mit langen, ziellosen Fahrten durch die Stadt. Ausflüge, die gewöhnlich damit endeten, dass ich in irgendeinem Pub den Märtyrer spielte, in einer Ecke überteuerten Whisky trank und mir Versöhnungsszenarien mit Madigan ausdachte, in denen sie immer die Erste war, die sich entschuldigte, mit gesenktem Kopf und weinend zu mir kam, während sie darum bettelte, dass ich ihr vergab.

Und in den schlimmsten dieser Visionen wandte ich ihr einfach den Rücken zu und lauschte ihrem Weinen.

Spät an einem Abend stolperte ich in ein leeres Wohnzimmer. Keine Marionetten, keine Madigan, aber ein schwammiger Verdacht, dass etwas Kleines, Schattiges in den Ecken lauerte, also schaltete ich das Licht an, um nachzusehen. Nichts. Nur die üblichen angelehnten Leinwände und – natürlich – die Staffelei.

Groß und stolz und mit ihrem letzten, sorgfältig abgedeckten Kind im Arm: Siehst du, was wir gemacht haben?

Ich und die Staffelei, endlich allein und, o ja, jetzt war die Zeit, um die Dinge ein für alle Mal zu klären. Ich schlurfte vorwärts, riss den Stoff herunter und –

Hielt inne.

Atemlos.

Meine vage, rachegetriebene Absicht löste sich vor der enthüllten Leinwand sofort auf. Ein Porträt, ein Selbstporträt, so leuchtend, so mächtig, dass es sich fast zu bewegen und unter meinem Blick zu zittern schien. Das gesamte Werk eine phantastische Abstraktion, ein subtiles Spiel von Schatten und Licht, ein Aufruhr aus Farben und Strichen. Aber absolut, zweifellos, Madigan.

Da: das grüne Leuchten ihrer Augen.

Da: die feuerroten Strähnen und Wellen ihres Haares.

Da: ihr zum Schrei aufgerissener Mund.

Angespannte Muskeln und verkrampfte Finger, hoffnungslos verbogene Gliedmaßen und eine Kehle, die offen und verletzlich mitten in der tiefempfundenen Qual aus roten und schwarzen Kurven lag. Ein Porträt, das nicht einfach nur Madigan zeigte, sondern alles, was sie ausmachte: ein rohes, verzweifeltes Lied aus Schmerzen und Qual, aus Angst und Wut.

Und, unverkennbar, ein Gefühl des Stolzes und der kühnen Herausforderung.

Des Sieges.

Meine Augen brannten: Krokodilstränen. Wer war ich, hier und jetzt zu weinen, nach dem, was ich vorgehabt hatte?

Kunst ist die einzige Wahrheit, und die Wahrheit ist ewig.

Ja. Ich griff nach der Leinwand. Wenn es das war, was Madigan tun konnte, dann hatte sie vielleicht doch eine Chance auf die Ewigkeit. Ungeschickt fuhren meine Finger über die nasse, glitzernde Oberfläche und hinterließen einen kleinen Schmierfleck, auf den ich mich vollkommen konzentrierte, während ein besessener Gedanke sich in meinem Kopf immer wiederholte: Ich bin jetzt Teil davon, ich bin jetzt Teil von ihr, für immer und immer und …

Ein schlurfendes Geräusch hinter mir, nackte Füße auf Linoleum, und ich drehte mich, um sie in der Küchentür zu entdecken. Mit einer Hand hielt sie ihren Pyjama vor der Brust geschlossen. Ihre Haare waren vom Schlaf zerzaust, aber ihre Augen leuchteten hell. Hellwach.

»Also, was denkst du, Lexi? War es das wert?«

»Madigan.«

Ich flüsterte ihren Namen ein zweites Mal, als sie durch den Raum zu mir kam. Sie umarmte mich so fest, dass ich das Gefühl hatte, meine Rippen müssten brechen, aber ich umarmte sie noch fester, atmete ihren sauberen, frischgewaschenen Geruch ein, jede Andeutung von Terpentin gebannt durch Seife und Apfelshampoo. Wie lange hatte sie sich unter der Dusche geschrubbt, ihre Haut von der Hitze gerötet, um dieses Aroma loszuwerden? Ich schloss die Augen und wankte leicht.

»Es tut mir leid, Baby«, flüsterte ich. »Es tut mir so leid.«

»O Gott, Lexi. Mir auch.«

Ausnahmsweise war ihr Körper warm und nachgiebig, als ich sie auf die Couch zog, meine Lippen über ihre Kehle, ihr Ohr, die kleinen Adern ihrer Augenlider gleiten ließ und nach jeder weichen, geheimen Stelle an ihr suchte, um sie für mich zu beanspruchen.

»Mein, alles mein. Das und das und das.«

»Du bist betrunken.« Madigan lachte und schob mir sanft die Hosen über die Hüften nach unten. »Und das kitzelt!«

Es war zu schnell vorbei. Ich rollte mich mit einem Stöhnen und gemurmelten Entschuldigungen zur Seite. Aber sie lächelte nur und schüttelte den Kopf, umklammerte meine Hand, als ich versuchte, sie zwischen ihre Schenkel zu schieben, und drückte sie stattdessen an ihren Mund.

»Es spielt keine Rolle«, sagte sie leise. »Manchmal reicht das.«

Das: unsere Glieder in einem warmen Knoten, das Heben und Senken ihrer Brust unter meiner Wange, während ihre Finger sanft durch meine Haare fuhren. Ein wunderbarer, ewiger Moment; all unsere Vergangenheit vergeben, all unsere Zukunft vergessen.

Ja, sie hatte recht, das war genug. Manchmal.