Kapitel 19
Mein Rücken tut weh und ich rolle mich auf den Bauch, um dem gleißenden Licht der – was zur Hölle ist das, die Sonne? – zu entkommen. Etwas liegt auf meiner Zunge und reflexartig spucke ich es aus. Sand, Sand unter meinem Gesicht und meinen Händen, im Hintergrund rauschen Wellen und über mir schreien Möwen.
Ein Strand?
Okay, also bin ich nicht wach. Ich träume, aber es wirkt alles unglaublich real, ich drehe mich um und finde Ruth neben mir. Ihr hellblaues T-Shirt ist nass und klebt an ihrem Rücken, etwas Haut schimmert rot durch die Baumwolle. Ich strecke die Hand aus und fahre die Hügel ihrer Wirbelsäule nach, lasse meine Finger über die knochigen kleinen Erhebungen gleiten.
»Ruth, wach auf. Wo sind wir?«
Ich packe ihre Schulter, schüttle, und …
Nein, bitte nein. Ich bete zu allen Göttern, die vielleicht zuhören, dass ich wirklich träume, dass nichts von dem hier real ist; denn Ruth rollt träge auf den Rücken, ihre Augen sind halb geschlossen und blind, die Ringe darunter tiefdunkel, ihre Lippen leicht von den Zähnen zurückgezogen und blau. Ihre Brust ist eingesunken und bewegt sich nicht. Tot, sie ist tot, also muss es ein Traum sein, ein Albtraum, was auch immer – nur nicht wahr, bitte, nicht wahr.
»Ruth?« Ich kauere mich neben sie, tätschle ihr dümmlich die Wange, als könnte das helfen – aber ihre Haut ist so kalt, ihre Muskeln sind schlaff und klamm unter meinen Händen. Ich lasse mich nach hinten fallen und stöhne. Der Strand ist menschenleer, vollkommen still bis auf das Schreien der Möwen, die über mir kreisen und in der Luft tanzen. Gierige, seefeste Geier, würden sie sie anpicken, wenn ich nicht hier wäre, um Wache zu halten, würden sie ihre spitzen Schnäbel in ihren Augen vergraben, in ihrer Zunge?
Galle steigt mir in die Kehle; warum denke ich überhaupt daran?
Weil ich es denke, weil es in meinem Kopf sein muss, richtig? Eine Art Angsttraum oder … oder Madigan spielt wieder ihr Spielchen mit mir, hat mich irgendwo im Labyrinth unseres Geistes eingeschlossen und dieses ganze schreckliche Märchen organisiert. Als was, als Rache?
»Madigan!« Ich schreie ihren Namen und das Geräusch wird von den Sanddünen hinter mir geschluckt. »Ist es das, was hier los ist, Madigan, ein weiteres von deinen bösartigen Spielchen? Du krankes Flittchen, ist es das?«
Schweigen. Mir stockt der Atem und meine Augen brennen vor Tränen.
Und dann ihre ruhige, gelassene Stimme, die kalt aus dem Innersten unseres Geistes erklingt.
nein, Lexi. das ist absolut real
»Aber Ruth, sie ist …«
weniger als nichts. wie ich versprochen habe
Nein, ich werde nicht auf sie hören. Wie könnten wir Ruth hierhergebracht haben, wo auch immer hier ist, wie sollen wir sie davon überzeugt haben …
sie hat dir sehr vertraut, Lexi, und an mich hat sie nicht ansatzweise so fest geglaubt, wie sie es hätte tun sollen
Aber so hat sie mich schon früher hereingelegt und ich werde ihr nicht glauben, kann ihr nicht glauben; nicht, wenn Ruth so kalt und still neben mir liegt. Wir müssen zu Hause im Haus sein, schlafen, unsere Hände immer noch verschlungen, oder vielleicht haben wir uns in der Nacht auch getrennt, uns in ihrem Bett unser eigenes, schläfriges Revier gesucht – aber auf jeden Fall schlafen wir und träumen. Lebendig, beide lebendig. Und dieser Ort, der Strand und die Vögel und das Mädchen mit der bläulichen Haut neben mir, das ist nur ein weiterer von Madigans Tricks, wie mein Studio, wie das Apartment in Ostberlin, wie die Leere …
kein Trick, Lexi, echte Orte, errichtet aus Erinnerungen und Träumen, also wenn du dir keinen Ort wie diesen vorgestellt hast …
… und ich werde ihr nicht zuhören, versuche mich stattdessen darauf zu konzentrieren, ein Portal zu finden, irgendein Symbol für einen Ausweg, wie ich es schon früher geschafft habe. Aber es gibt nichts, nichts, nur die endlose Weite des Meeres und überall um mich herum Sand, hinter den Dünen karge Grasbüschel und Büsche und ein Stück entfernt die Klippen, die sich felsig Richtung Himmel erheben.
soll ich es dir zeigen?
Und bevor ich protestieren kann, bevor ich auch nur nachdenken kann
Nachdem Lexi endlich eingeschlafen ist, gleite ich völlig mühelos in unseren Körper. Mit seinem Bewusstsein ist auch der letzte Rest seiner Abwehr gefallen. Ein Kopf liegt auf unserer nackten Schulter, weicher Atem wärmt unsere Haut.
Ruth. O Lexi, warum Ruth? Deswegen hast du mich betrogen? Für sie? Ich kontrolliere die Wut, die droht, mich zu überwältigen. Vielleicht werde ich sie später zulassen, aber nicht jetzt. Jetzt muss ich besonnen und präzise vorgehen. Gefühllos.
»Ruth?« Ich löse mich aus der Umarmung der Frau und schüttle sie sanft an der Schulter. »Ruth, wach auf, wir müssen hier verschwinden.«
Sie gähnt schlaftrunken. »Was ist los, wo müssen wir hin?«
»Jemand hat angerufen, vielleicht war es Serge.« Ich habe das Bett bereits verlassen, trenne meine Kleidung von ihrer. »Wir müssen weg, es gab Drohungen. Komm schon, zieh dich an.«
»Was für Drohungen? Wo gehen wir hin?«
Sie umklammert ängstlich meinen Arm. Es kostet mich alle Kraft, sie nicht von mir zu stoßen. Stattdessen lege ich eine Hand über ihre und drücke sie sanft. »Das können wir entscheiden, wenn wir unterwegs sind, lass uns jetzt zum Auto gehen.«
Ich beobachte, wie sie sich anzieht, wie sie sich im Halbdunkel des Schlafzimmers in ihre Kleidung tastet, wie sie niederkniet, um einen Schuh unter dem Bett hervorzuziehen. Arme Ruth, so fügsam, so vertrauensselig. Sie macht es mir so einfach, dass sie mir fast leidtut. Fast. Aber es ist ihre eigene Schuld; sie hat Lexi von Anfang an nachgestellt. Dürr und hübsch, eine Rivalin, die ich längst überwunden glaubte. Wenn sie auch nur für eine Sekunde annimmt, dass sie ihn je haben wird …
Das Auto bricht kurz aus, als wir von der Autobahn abfahren. Ruth reißt besorgt die Augen auf, aber es braucht nur ein kurzes Lächeln, um sie wieder eindösen zu lassen, den Kopf gegen das Fenster gelehnt.
So vertrauensselig.
Ein Strand, habe ich ihr gesagt. Ich kenne da diesen tollen kleinen Strand, war dort schon ein paar Mal, wenn ich eine Weile allein sein musste. Das war eine hübsche Note, so vertrauenerweckend. Die Art von Idee, die Lexi vielleicht gehabt hätte. Wir könnten dort bleiben und zusammen den Sonnenaufgang beobachten, habe ich ihr erklärt, dann später Erin anrufen und sie dazu bringen, sich mit uns zu treffen. Ruth akzeptierte alles. Romantisch, merkte sie an, misstrauisch aus den vollkommen falschen Gründen. Hatte wirklich jemand angerufen oder suchte ich nur nach einer Ausrede, um sie an einen einsamen Strand zu bringen, wo ich mich mit ihr dem Vergnügen hingeben konnte?
Ich grinste nur.
Jetzt, immer noch grinsend, drücke ich aufs Gaspedal.
Mein Strand. Nicht Lexis Entdeckung natürlich, sondern meine. Ich bin auf einer dieser sinnlosen Ausfahrten darüber gestolpert, die ich so oft unternommen habe, nachdem ich zurück in Melbourne war. Ich habe im Zweitwagen meines Vaters, einem Mercedes, Kilometer abgeritten, weil ich sonst nichts zu tun hatte. Fahren, einfach fahren. An einem Tag habe ich angehalten, weil ich mir die Beine vertreten wollte, und vollkommen zufällig einen überwucherten Weg entdeckt, der sich durch die Büsche am Rand der Straße wand.
Jetzt, als ich ihn wieder mit Ruth gehe, fühle ich mich gleichzeitig überschwänglich und feierlich. Fühlen sich so Henker, die mit ihren Gefangenen im Schlepptau zur Hinrichtungsstätte gehen?
»Schwimmen?« Ruth kann es nicht glauben. »Bist du verrückt? Das Wasser muss eiskalt sein.«
Die Morgendämmerung naht und der Himmel wird langsam hell. Ich schlage sie sanft auf die Schulter, weil es das ist, was Lexi getan hätte. »Komm schon, es wird toll. Dir ist nicht kalt, oder?«
»Nein, aber das Wasser wirkt … außerdem habe ich nichts zum Schwimmen dabei.«
»Ruth, sei nicht so prüde.« Ich ziehe mir bereits das T-Shirt und die Jeans aus. »Trag einfach, was du anhast, okay? Beeil dich, lass uns reingehen, bevor die ganzen Surfer kommen.« Die nächste Lüge; ich habe hier nie jemand anderen gesehen. Das ist ein Geisterstrand, allein und verlassen.
Nur in Boxershorts wate ich in das unruhige Wasser. Ja, es ist kalt, aber alles andere als unerträglich. Ruth folgt mir schließlich doch und kreischt, als ich sie mit Wasser bespritze.
»Ich kann das nicht, das ist eisig!«
»Erfrischend!«, rufe ich. »Sobald du dich dran gewöhnt hast, ist es toll, also mach schneller.«
Ich habe die Brandung hinter mir gelassen und das Wasser steht mir schon bis zur Brust, als sie mich einholt. Sie umklammert mit klappernden Zähnen meinen Arm. »Ei-eis-kk-kalt.«
»Ich wärme dich.« Aus einem Impuls heraus ergreife ich ihr Kinn und küsse sie hart auf die Lippen, bevor ich mich wieder löse. »Komm schon, Ruth, lass uns weiter rausschwimmen.«
Weiter raus, bis meine Zehen kaum noch den Boden berühren. Mit jeder Welle verlieren sie den Kontakt. Ruth, fast einen Kopf kleiner als ich, muss schon seit einer ganzen Weile schwimmen.
»Alex, lass uns zurückschwimmen.«
»In Ordnung, nur noch eine Sache, bevor wir umdrehen.«
Ich lächle, oh, was für ein Lächeln, und Ruth erwidert es und schwimmt in meine ausgebreiteten Arme. Dann, als ich sie zu fest umklammere, sehe ich es. Das erste Aufflackern von Zweifel in ihren Augen, das erste Aufwallen von Angst.
Ich lächle noch strahlender.
Sie kämpft. Ihr Ellbogen bohrt sich in meine Rippen und für einen atemlosen Moment frage ich mich, ob ich die Frau unterschätzt habe. Aber nein, denn Ruth ist so klein. Schmale Handgelenke, die ich packen und hinter ihrem Rücken festhalten kann, zerbrechlicher kleiner Hals, den ich unter Wasser drücken kann. Wieder bin ich überrascht, welche verschiedenen Arten Stärke dieser Körper, dieser männliche Körper, so mühelos einsetzen kann. So starke Arme und Schultern, so große Hände. Ich ändere meinen Griff, halte sie unter Wasser, länger und länger.
Bis sie aufhört, sich zu bewegen, schlaff und still. Selbst dann halte ich sie noch eine Weile fest, zähle laut mit dem Rücken zu den Wellen bis hundert, bevor ich sie wieder hochziehe. Ihr Gesicht ist schlaff und leer. Einen Pulsschlag kann ich nicht mehr finden, egal, wie sehr meine Finger danach suchen.
Kein Pulsschlag. Kein Leben.
Mit ihrem Körper in einem Rettungsschwimmergriff richte ich meine Augen auf den Strand und fange an zu schwimmen.
Madigan gibt mich frei und ich keuche, weil ich immer noch das Gefühl habe, Salzwasser in meiner Kehle zu spüren. Und verdammt, ich will ausholen und jemanden schlagen.
Will sie schlagen.
Denn Madigan mag ja am Steuer gesessen haben, aber es waren unsere Hände, meine Hände, die es getan haben, und ich habe alles gespürt, jedes Gefühl empfunden, als wäre es mein eigenes, als wäre ich derjenige, der …
Sie umgebracht hat, sag es: Ich habe Ruth umgebracht.
Diese Hände, dieselben Hände, die sie unter Wasser gehalten haben, jedes verängstigte Zucken ihres Körpers gespürt haben. Am liebsten würde ich sie mir abhaken, sie ins Meer werfen, um sie dort zu begraben. Diese Hände, diese mörderischen Hände. Ich schlage sie auf den Sand, wünsche mir, ich könnte hart genug schlagen, um Knochen zu brechen, wünsche mir …
hör auf
Und ich höre auf, sofort. Nicht, weil ich es will, sondern weil Madigan es befiehlt.
Madigan, die meine Hände von innen heraus kontrolliert. Es ist das erste Mal, dass sie Kontrolle über meinen Körper übernimmt, ohne mich erst aus dem Bewusstsein stoßen zu müssen. Ein schreckliches, fremdartiges Gefühl, das mir das Herz stocken lässt.
ich bin viel stärker, als du gedacht hast, nicht wahr?
Sie lockert ihren Griff, zieht sich aber nicht weit zurück. Ich kann immer noch fühlen, wie sie erwartungsvoll und eifrig an der zerbrechlichen, unbeschreiblichen Grenze kauert, die ihr und mein Selbst voneinander trennt. Ich lasse die Hände in meinen Schoß sinken, die Finger verschränkt und vor Verzweiflung ganz steif.
»Warum hast du das getan?«, flüstere ich. »Warum hast du sie umgebracht? Was hat Ruth dir je getan?«
Ihre Wut schmeckt wie heißer Stahl. Hat sie mich nicht gewarnt, hat sie mir nicht unzählige Male gesagt, ich solle Ruth wegschicken, sie loswerden, weil das, was zwischen uns geschieht, nichts mit ihr zu tun hatte und sie nie etwas anging?
es ist deine eigene Schuld, Lexi, du hast sie mit reingezogen. dachtest du, es ist nur ein Spiel? dass ich so weit kommen würde, nur um mir von diesem kleinen Flittchen und ihrer Hexenfreundin alles durcheinanderbringen zu lassen?
Ihre Stimme ist ein körperlicher Schmerz in meinem Kopf und während sie spricht, flackern Erinnerungen durch meinen Geist, lebendige, emotionale Bilder, fast zu schnell, um sie wirklich wahrzunehmen.
– kalte Klinge, die den Unterarm aufschneidet –
– wieder, tief genug, um die Sehne zu durchtrennen –
– purpurne Flecken auf weißen Fliesen –
– fließendes Blut, kalt, kalt –
– o Gott, ich habe solche Angst –
und ich drücke meine Fäuste auf die Augen. Schmerzen und ein Feuerwerk von Sternen. Ich drücke fester und fester, alles, um die Bilder aufzuhalten, die Gefühle, denn es reicht, o bitte, es reicht.
hast du geglaubt, ich hätte all das umsonst durchgemacht? hast du das geglaubt?
Schließlich verklingt ihre Stimme und lässt meinen Kopf leer zurück, verletzt bis ins Innerste. Keuchend liege ich auf dem sonnenwarmen Sand, absichtlich von Ruth abgewendet. Ich weigere mich, sie anzusehen, weil Madigan zumindest in diesem einen Punkt recht hat: Es ist meine Schuld, weil ich sie mit hineingezogen habe, obwohl es so viele Möglichkeiten gab, sie auszuschließen. Ich habe keine von ihnen wahrgenommen, sogar nachdem ich mir absolut sicher war, was vor sich ging, und hätte verstehen müssen, wie gefährlich die Sache geworden war. Wie gefährlich Madigan immer gewesen war.
Aber ich hatte zu große Angst und war – machen wir uns nichts vor – zu selbstsüchtig, um allein damit klarzukommen, also habe ich mich stattdessen an Ruth geklammert und ihre Skepsis langsam aufgelöst, bis … bis jetzt. Bis das passierte.
steh auf, wir müssen einiges erledigen
Was? Was könnte sie noch tun wollen?
Ich drehe unfreiwillig den Kopf und meine Augen fixieren die rauen Klippen am Ende des Strandes.
»Verpiss dich!«, schreie ich sie wütend an und vergrabe meine Hände tief im Sand. »Hör auf damit!«
Mein Gott, ich kann fast hören, wie sie lächelt.
wir müssen die Leiche da hochtragen und sie ins Wasser werfen, damit es aussieht wie ein Selbstmord
Das muss einfach ein Witz sein.
warum habe ich mir deiner Meinung nach denn die Mühe gemacht, sie überhaupt hier rauszuschleppen? Ich hätte sie überall umbringen können, sogar im Haus. Ich hätte sie in deinem Bett liegen lassen können, obwohl ich bezweifle, dass du das begrüßt hättest
Nein, das wird nicht geschehen, nicht so lange ich noch einen Rest Kontrolle über unseren Körper habe. Madigan kann es selbst machen, wenn es ihr so wichtig ist. Nicht, dass es eine Rolle spielen wird, denn sobald wir zurück in der Stadt sind, werde ich mich selbst der Polizei ausliefern und alles gestehen, werde gestehen, dass ich Ruth getötet habe.
sei kein Idiot. du wirst den Rest deines jämmerlichen Lebens im Gefängnis verbringen. oder schlimmer, wenn du wirklich alles gestehst – alles –, dann stopfen sie dich in ein Irrenhaus. und das heißt kleine rosa Pillen und Zwangsjacken für den Rest deines Lebens, Geliebter
»Und vergiss nicht, du bist mit dabei. Meiner Meinung nach ein fairer Tausch.«
hör auf, unsere Zeit zu verschwenden. Wirf sie dir über die Schulter, dann ist es einfacher
»Fick dich.« Die Worte fühlen sich so wunderbar an, dass ich sie wiederhole, sie so laut schreie, dass ein paar Möwen in der Nähe verängstigt abheben. »Fick dich!«
Schweigen, nachdenklich und kalt, dann:
vergiss nicht, Lexi, die kleine Ruth hier war nicht die einzige Person, die dir etwas bedeutet
Denn schließlich, erklärt sie, wie schwer sollte es ihr schon fallen, ins Haus meiner Schwester zu stiefeln, während ihr idiotischer Freund arbeitet, einfach reinzugehen – hey, Ginny, wie läuft’s? – und ihr ein Messer in den Bauch zu rammen? Und was ist mit Sarah – oder meinen Eltern, wenn wir schon dabei sind? Wie schwer kann es schon sein? Wie viele Leute gibt es, deren Leben ich in den Händen halten könnte?
Ihre Worte widern mich an. Zu viele Leute sind in Gefahr und sie hat recht, ich kann keinen von ihnen beschützen. Ich kann nicht kontrollieren, was Madigan vielleicht tut, wenn man sich ihr in den Weg stellt – der Beweis dafür liegt neben mir auf dem Sand.
»Warum tust du das? Du hättest es selbst tun können, sobald du sie … sobald du sie umgebracht hattest. Du musstest nicht darauf warten, dass ich …«
Oh, aber das musste sie sehr wohl. Weil ich die Verantwortung mittrage, das habe ich mir selbst schon eingestanden, aber sie will, dass ich es auch fühle, kalt und klamm und schwer in meinen Armen.
das ist real, Lexi, und ich will, dass du das verstehst. und jetzt beweg deinen jämmerlichen Arsch und heb dieses tote Teil auf
∞
Zu Hause falle ich erschöpft auf das Bett, dreckig und verschwitzt und jenseits von allem. Mein Geist ist aufgebläht von schrecklichen neuen Erinnerungen: wie ich Ruth über die Dünen und den schmalen, überwucherten Pfad entlang trage, während die warme Morgensonne und die ungewohnte Anstrengung mir den Schweiß auf Gesicht und Arme treiben. Meine Hände, die zweimal von der glatten Haut ihrer Schenkel abrutschen, sodass ich sie fast fallen lasse, wie Madigan mich zweimal anzischt, mich endlich in den Griff zu bekommen, haha, so ein Mäuschen, ehrlich, was kann sie schon wiegen.
Zu viel, es ist alles einfach zu viel. Ich werde das kalte, tote Gefühl von Ruths Haut nie vergessen, die Schlaffheit ihrer Muskeln, die Art, wie sie an Gesicht und Hals bereits steif wurde. Ihre stumpfen, blinden Augen, die ich schließen wollte, bevor ich sie hochhob, um diesen schrecklichen, leeren Blick loszuwerden, aber Madigan hielt meine Hand zurück und erklärte mir, ich solle nicht so dumm sein. Die Leichenstarre setze bereits ein, und wir dürften nichts tun, was vermuten ließ, dass jemand sich am Körper zu schaffen gemacht hatte.
Aber o Gott, wie sie sich angefühlt hat, dieses gespenstische Gefühl. Ich könnte meine Hände waschen und waschen und waschen und doch würde ich das Gefühl nicht loswerden.
Madigan war die ganze Zeit bei mir; sie schwieg, außer um mir Richtungsanweisungen zu geben. Ich konnte sie immer noch dort sitzen fühlen, beobachtend und aufmerksam, als wir Ruth auf den Rücksitz setzten und zu den nahegelegenen Klippen fuhren. Die ungepflasterte Straße führte bis fast an die Abbruchkante. Sie ermahnte mich, die Leiche nicht zu schleifen, als ich sie aus dem Auto holte, sondern sie mir wieder über die Schulter zu werfen. Und, was auch immer geschah, ich sollte darauf achten, keine Spuren auf dem Gras zu hinterlassen. Es musste aussehen, als hätte Ruth sich freiwillig von der Klippe gestürzt.
Und sobald wir an der Kante standen, Ruths Körper in meinen Armen, da gab es einen kurzen Moment, in dem ich darüber nachdachte, mich mit ihr in die Tiefe zu stürzen, sie weiterhin festzuhalten, sodass ihr totes Gewicht mich in meinen eigenen Tod ziehen konnte.
das willst du nicht tun, Lexi, das willst du wirklich nicht
Mehr musste sie nicht sagen. Ich war körperlich und emotional zerstört und sie hätte mich problemlos davon abhalten können, genauso mühelos, wie sie am Strand meine Hände kontrolliert hatte. Ich wollte nicht riskieren, hinterher ihrem Zorn ausgesetzt zu sein.
Oder Zeuge werden zu müssen, wie sie ihn an jemand anderem austobte.
Also ließ ich Ruth los. Und beobachtete, o Gott, zwang mich dazu, zu beobachten, wie sie fiel, ihr Körper einmal an einem felsigen Abhang aufschlug, so nach oben geworfen wurde, dass ihre halb offenen Augen mich anstarrten, vorwurfsvoll, flehend, und mich nach dem Warum fragten.
Ich hatte keine Antworten mehr.
Madigan bestand darauf, dass wir das Auto zurückließen – denn wie sonst sollte Ruth dorthin gekommen sein? –, also marschierten wir an der Straße zurück und noch das leiseste Anzeichen eines sich nähernden Autos jagte uns geduckt in die Büsche, bis wir schließlich auf Eisenbahnschienen trafen und ihnen bis zum nächsten Bahnhof folgten. Um dort eine weitere halbe Stunde zu warten, zusammengesunken auf einer Bank, während Madigan in meinem Hinterkopf sinnlose Melodien summte, immer noch wachsam, immer noch aufmerksam, obwohl mir die Idee, mich vor den einfahrenden Zug zu werfen, erst in den Kopf kam, als wir schon eingestiegen waren.
Und jetzt bin ich einfach so verdammt müde. Jenseits von der Trauer um Ruth, jenseits aller Gefühle, oder zumindest wünsche ich mir, es wäre so. Denn in unserem Geist summt Madigan immer noch unbekannte Melodien, die mich an Berlin und angeschlagene Gitarren denken lassen, an Mädchen mit dunklen Haaren und zornigen Augen – Heike? hieß sie so? Und dann hört sie auf und dann flüstert sie – schlaf, Lexi, jetzt kannst du schlafen –, bevor sie ein anderes Lied anstimmt, ein fast vergessenes Schlaflied, das meine Mum mir früher vorgesungen hat. Ein Lied, das Madigan aus meinen Erinnerungen gestohlen haben muss, um es mir jetzt mit all den vertrauten Rhythmen vorzusingen, ihre Stimme ist so sanft und liebevoll, wie ich sie noch nie gehört habe.
Und niemals habe ich sie mehr gehasst. Noch das letzte bisschen Liebe und verdrehte Begierde ist nun in ein einziges Gefühl verwandelt worden: Hass, reiner, klarer Hass, der mich über den Schmerz, über mein Selbst hinausträgt.
Hass, das einzige Gefühl in dieser ganzen seelenlosen Welt, das es noch wert ist, empfunden zu werden.