Kapitel 16
Dunkelheit.
Drehen. Fliegen. Schweben. Fallen. Dunkelheit.
Licht.
Ich fahre auf. Meine Hände schlagen durch die leere Luft und in meinem Mund steht der metallische Geschmack des Grauens. Ich habe zu lang geschlafen. Mein Nacken und meine Schultern schmerzen durch die unnachgiebige Härte meiner Couch. Ich setze mich auf und strecke mich, um meine Muskeln zu lockern.
Was zur Hölle habe ich geträumt?
Ich habe das Gefühl, ich sollte mich daran erinnern, und Gott weiß, dass ich es will – einige meiner besten und atmosphärischsten Arbeiten sind fast vollkommen aus dem Stoff entstanden, aus dem die Träume sind –, aber es hilft nichts. Was auch immer es war, es ist verschwunden; nichts ist zurückgeblieben außer einem schwammigen Gefühl und einer Gänsehaut.
Meine letzte Leinwand, nach vier frustrierenden Wochen immer noch nicht vollendet, steht auf ihrer Staffelei neben dem Fenster, wo ich sie diesen Morgen hingeschoben habe. Ich hatte gehofft, dass eine Lichtveränderung die Sache weiterbringen würde. Eine Landschaft. Aber keine Landschaft, wie es sie irgendwo auf dieser Seite der Verdammnis gibt. Die glitzernde Oberfläche aus Öl zeigt Wellen von Feuer, die auf einen kohleschwarzen Strand schlagen und an der Küstenlinie nagen, während sich im Hintergrund Klippen von der Farbe von Rabenflügeln erheben. Der Himmel ist das einzige Problem. Meine ursprüngliche Vision von giftigem Purpur passt einfach nicht richtig in die Komposition, nicht ansatzweise, und die vor Kurzem hinzugefügten blutroten Striche machen es nur schlimmer. Sorgen dafür, dass es aussieht wie etwas aus dem verdammten Herrn der Ringe.
Genervt von mir selbst habe ich beschlossen, ein Nickerchen zu machen, in der Hoffnung, dass meine Muse sich entscheidet, mal aufzutauchen, die wirre Masse in meinem Hirn zu ordnen und eine Lösung auszuspucken.
Aber anscheinend haben die Musen heute ihren freien Tag.
Stygia, so lautet der Arbeitstitel des Bildes. Das ist zugleich der Titel meiner herannahenden Ausstellung, einer Ausstellung, der, wenn es so weitergeht, vielleicht ihr Hauptwerk fehlen wird.
Ich gehe zur Leinwand, hebe einen Pinsel auf und wische halbherzig an den Farbtupfern auf der Palette herum. Vielleicht kann ein rauchiges Blau den Himmel ein wenig abmildern. Im Moment ist er viel zu grell, lenkt zu sehr von den Flammen ab, die unter ihm prasseln und tanzen. Oder vielleicht …
Verdammt. Ich kann im Moment einfach nicht darüber nachdenken. Mein Kopf schwirrt noch von Träumen, beklemmend und schwer nachvollziehbar, also hebe ich einen Skizzenblock auf und lecke einen weichen Bleistift an. Eine Rettungsaktion. Meine Hand bewegt sich langsam, ziellos über das Papier, eine Reihe von zufälligen Linien und Zeichen, die sich zu einem Gesicht formen, einer Frau, drei Frauen. Die Frau in der Mitte erinnert mich an etwas, an jemanden.
Wilde Locken, die dafür sorgen, dass ich mir Farbe wünsche, ein leuchtendes, brillantes Rot, brennend wie das Meer in Stygia … jemand …
Madigan.
Mein Skizzenblock fällt zu Boden, als ich mich drehe und jedes Detail meines Studios studiere. Das ist der Traum, dieser Ort, der mir nie gehörte, den ich nie besitzen werde, die Landschaft vor mir, die ich nie hätte zeichnen können, die ich niemals auch nur hätte erdenken können. Wut lässt meinen Blick verschwimmen und Hass steigt stark und frisch in mir auf.
Die ganze Sache ist ein Witz, diese dumme Phantasie, in die ich mich unzählige Male zurückgezogen habe. Diese Phantasie und all die anderen, dieser ganze Affenzirkus, den ich gegen ein echtes Leben getauscht habe.
Madigan, das größte Desaster von allen.
Das Bild beginnt, Blasen zu schlagen, die Wellen brennen noch heller und verzehren die gesamte Landschaft, bevor sie schließlich verblassen, um eine weiße, reine Leinwand zurückzulassen. Unberührt, unbeschmutzt und zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlt mein Kopf sich genauso an. Mein Geist ist klar und leer und gehört vollkommen mir.
Ob du bereit bist oder nicht, Madigan, jetzt komme ich.
Ich zögere kurz vor der Tür, als die Erinnerung an das Nichts mir einen kalten Schauder über den Rücken jagt, aber nein. Nein. Diesmal ist es mein Konstrukt, nicht ihres und dort draußen ist keine Leere. Nur mein Geist, mein Revier. Meins.
Unbefugte werden unter Anwendung von Gewalt entfernt.
Ich reiße die Tür auf und – Dorothy, was war das mit Kansas? – trete in einen Flur, der wirkt, als wäre er aus Fleisch geschaffen oder zumindest aus etwas Ähnlichem. Alles ist rosa und roh und pulsiert, durchzogen von Venen und feinen, spinnenartigen Kapillargefäßen. Der rote Gestank nach Fleisch verursacht mir einmal mehr Übelkeit. Die Wände stehen eng, und der Boden unter meinen nackten Füßen ist widerwärtig nachgiebig. Als ich mich in Bewegung setze, quillt etwas zwischen meinen Zehen hindurch, was kein Blut sein kann. Ich ducke mich unter der niedrigen, gebogenen Decke und strecke die Arme aus, um auf dem schwankenden Boden nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Langsam krieche ich vorwärts. Ich finde keine Türen, nur einen gebogenen Weg, von dem ich vermute, dass er sich bis in die Unendlichkeit im Kreis dreht, sich in einem klaustrophobischen Gewirr aus warmen, fleischigen Fluren und Sackgassen immer wieder neu verzweigt.
Wenn es das ist, was Erins Hippie-Trip-Cocktail mit mir anstellt, wäre ich fast lieber zu Madigans Bedingungen hier.
Aber bald erkenne ich an den Wänden ein sich wiederholendes Muster oder glaube zumindest, es zu erkennen; ich kann sehen, wie die Blutgefäße sich in unregelmäßigen Abständen auf ein dunkles, glitzerndes Zentrum zu winden. Ein Nukleus, ein Strudel, und sobald ich einen davon bemerkt habe, fallen mir Dutzende weitere ins Auge, manche so riesig, dass sie ihren eigenen Pulsschlag zu besitzen scheinen, andere fast zu klein, um sie von der umgebenden Ader zu unterscheiden.
Ich strecke den Arm aus und berühre einen der größeren Punkte, drücke vorsichtig gegen das nachgiebige Gewebe. Ohne Vorwarnung wird mein kompletter Arm hineingezogen. Panisch versuche ich, ihn zurückzuziehen, aber der Sog ist zu stark, die Wände sind zu glitschig, um mich daran abzustützen. Ich habe kaum genug Zeit, um den Atem anzuhalten, bevor mein ganzer Körper hineingesogen wird, durch warme, weiche Dunkelheit gleitet, um dann auf dem Boden eines kalten, leeren Zimmers zu landen. Karge Wände erheben sich zu einer Decke, die so hoch ist, dass ich gerade noch die leisen Schatten in den Ecken ausmachen kann.
Tot. Dies ist ein toter Ort. Leer. Verlassen.
Zitternd drehe ich mich um. Ich will nicht mal darüber nachdenken, welcher Teil meines Geistes das sein mag oder warum er so aussieht. Aber das Portal ist verschwunden. Keine Türen, keine Spiralen oder Muster. Kein Ausgang. Entsetzen steigt in mir auf: Jetzt hast du es geschafft, jetzt bist du hier gefangen.
Aber die Winkel der Wände stimmen nicht ganz. Die Oberflächen sind lose und reiben aneinander. Spontan drücke ich meine Finger in eine Ecke, ziehe die Ränder weit genug auseinander, bis ich eine Schulter hindurchschieben kann, dann meine Hüften. So zwinge ich mich aus dem toten Raum zurück in das lebende Fleisch des Flurs. Der jetzt anders aussieht als vorhin, als ich ihn verlassen habe, die Spiralen ein wenig, aber bedeutsam verändert. Das aufwendige Muster der Venen verändert sich unter meinen Augen selbst und dreht sich in Spiralen um ihre Mitte.
Frustriert lehne ich meinen Kopf gegen die Wand. Madigan in dieser ständigen Veränderung finden zu wollen erscheint mir hoffnungslos. Das Labyrinth könnte aus einer unendlichen Anzahl von Zimmern und Gewölben bestehen; es wäre fast unmöglich, sie alle abzusuchen, und außerdem, was ist, wenn sie sich auch bewegt? Immer zwei Schritte vor mir bleibt oder auch hinter mir?
Unmöglich. Es war alles umsonst.
Dann höre ich es.
Flüstern. Kaum hörbar, wie weit entfernte Windböen im Gras, Tausende leise Unterhaltungen, die ineinanderfließen und um Aufmerksamkeit heischen. Jetzt, wo ich sie bemerkt habe, sind die Geräusche offensichtlich, aber trotzdem unverständlich. Sie kommen aus den Wänden selbst oder erklingen dahinter. Ich strenge meine Ohren an, um eine oder zwei Silben zu verstehen, aber das gelingt mir nicht. Also mustere ich die Wände selbst, suche nach einem Muster innerhalb des Musters, einer Eingebung, nach dem Schlüssel, um all das um mich herum zu enträtseln.
Aber wieder nichts. Nichts.
Wie gut kennst du dich selbst?
Anscheinend nicht gut genug. Das einzige, das mir bleibt, ist es auf gut Glück zu versuchen und ich frage mich, wie viel von diesem Ort ich erkunden kann, bevor der Trank nachlässt. Oder bevor Madigan aufwacht und beschließt, mich suchen zu gehen. Bereit oder nicht.
Ich atme tief durch, dann werfe ich mich gegen die nächstgelegene Spirale, die Hände wie im Hechtsprung vor mir ausgestreckt, und dränge mich in –
– das alte Zimmer meiner Schwestern im Haus meiner Eltern. Vor langer, langer Zeit, wenn ich nach dem schäbigen, gestreiften Teppich auf dem Boden gehe und dem Etagenbett, das an einer Wand steht. Bevor ich zu Hause ausgezogen bin, bevor Dad die obere Hälfte des Hochbettes hat verschwinden lassen, damit Sarah beim Einschlafen die im Dunkeln leuchtende Galaxie sehen konnte, die sie an die Decke geklebt hatte.
Denn beide Mädchen liegen jetzt im Hochbett, mit glänzenden Gesichtern und schniefend. Ginny lässt ein Bein heraushängen und auf ihrer Haut sehe ich eine Menge rote, blasige Beulen. Meine Mutter eilt in den Raum, ein Tablett mit Schalen und Tassen und Calamine Lotion darauf – »Du sollst hier nicht drin sein, Alex. Willst du auch krank werden?« – und ich trete zurück und gehe ihr aus dem Weg, wie ich es scheinbar immer tue.
Ginny streckt mir die Zunge heraus, nicht zu krank, um frech zu sein, und Sarah fängt an zu weinen, als Mum ihre winzigen Hände von ihrem Hals löst – »Ich weiß, dass es juckt, Liebes, aber Kratzen macht es nur schlimmer« – und sanft die Creme aufträgt. Mum, sage ich, ich muss dir was sagen, oder vielleicht sage ich es auch gar nicht, weil es ist, als könnte sie mich nicht hören. Sie sorgt sich weiterhin um die Zwillinge, schmiert mehr dieser Salbe auf Sarahs Ausschlag, erklärt Ginny, dass sie ihren Saft trinken soll.
Aber ich muss ihr von dem Streit erzählen, muss ihr erzählen, wie Madigan tatsächlich so wütend geworden ist, dass sie mich geschlagen hat, als ich ihr berichtet hatte, dass ich an Ostern nicht mit ihnen nach Portsea fahren kann. Dad sagt, ich solle bei meiner Familie sein, auf demselben langweiligen Campingausflug am See, aber wenn Mum mit ihm redet, ändert er seine Meinung vielleicht und lässt mich stattdessen mit den Sargoods fahren.
Als würde meine Familie mich vermissen. Dad wünscht sich einfach nur, er könnte nach Portsea, darauf wette ich, und ich sage wieder: »Mum«, diesmal lauter. »Mum, hör mal, kannst du …«
»Nicht jetzt, Alex!« Sie blafft es, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, mich anzusehen. Sie ist vollkommen mit meinen Schwestern beschäftigt, und ich wette, wenn ich auch die Masern bekäme, wäre es ihr vollkommen egal. Ich wette, sie …
Es ist schwer, die Erinnerung von dem Gefühl der Erinnerung zu trennen. Mein zehnjähriges Ich ist so selbstzentriert, dass es nicht mal bemerken kann, dass Tränen in den Augen meiner Mutter schwimmen und ihre Unterlippe zittert. Aber ich sehe es, und das trifft mich ins Herz.
Weil ich mich nicht daran erinnern kann, dass Mum je geweint hätte, außer am Ende von schnulzigen Filmen oder das eine Mal, als ich vom Fahrrad gefallen war und mir den Kopf aufgeschlagen hatte. Selbst damals schien sie eher wütend zu sein – warum hattest du deinen Helm nicht auf, du dummer Junge? – oder verängstigt, aber nicht traurig, wie sie jetzt wirkt.
Mum, will ich sagen, und Es tut mir leid, will ich hinzufügen. Aber ich kann es nicht. Denn das habe ich nicht getan.
Also stampfe ich einfach aus dem Raum und plane bereits neue Wege, diesem dummen Campingurlaub zu entkommen – und hasse mich, hier und jetzt, dafür, dass ich nicht geblieben bin, nicht geholfen habe, denn hätte ich das getan, wäre ich geblieben, um die Zwillinge mit Hühnersuppe zu füttern und ihre Haut mit Salbe einzureiben, wären Mum und ich vielleicht hinterher zusammen in die Küche gegangen, hätten uns wie Erwachsene zusammengesetzt und uns unterhalten.
Aber so ist es nicht passiert, und es wird auch nie so passieren, weil ich jetzt wieder in dem Raum bin, wo Ginnys Bein aus dem oberen Bett hängt. Mum drängt sich an mir vorbei, die Szene wiederholt sich wie ein Teil eines Films und ich weiche durch die Tür zurück, weil ich nicht alles noch mal sehen will. Ich weiche durch die Tür zurück und zurück …
… in den Flur aus Fleisch und Blut und unzähligen Spiralportalen.
Frustriert schlage ich gegen die Wand …
dunkle Flüssigkeit ergießt sich aus einem Glas
… und springe instinktiv zurück. Was zur Hölle? Vorsichtig strecke ich die Hand aus, um die Kurve der Spirale nachzufahren, spüre ihren Puls warm unter meinen Fingern.
ich stoße mit einem ungeschickten Ellbogen im Vorbeigehen das Glas um; Orangensaft. Die breiige Flüssigkeit ergießt sich über das Buch auf meinem Schreibtisch; Büchereibuch, Hochglanz-Kunstdruck, zu teuer, um es zu ersetzen; eilig wische ich mit dem Ärmel über die Sauerei, aber es zieht bereits ein
Mit einem Lächeln ziehe ich die Hand zurück und Erleichterung breitet sich in mir aus. Natürlich, natürlich. Es ist nicht nötig, tatsächlich jedes Zimmer zu betreten – die Zusammenfassung, die Inhaltsangabe, die griffige Schnellversion liegt direkt hier unter meinen Fingern. Wortwörtlich. Fast jogge ich den Korridor entlang, lasse meine Finger über die Wände gleiten, erlaube das Aufflackern von Bildern und Worten; kurze Erinnerungen, die durch meinen Geist schießen, in einem zufälligen, schwindelerregenden Rhythmus übereinander stürzen.
leerer Raum, Dunkelheit quillt aus den Ecken, unendlich unheimliche Formen und Schemen
wie kann ein kleiner Schnitt so verdammt wehtun
»Ich sage es dir nicht noch mal!«
drei mal drei ist neun, drei mal vier ist zwölf, drei mal fünf
Ich biege um Ecken, taste mich mit geschlossenen Augen voran, um den Aufruhr aus Informationen besser zu verarbeiten, die Schwemme der Erinnerungen, die so unmittelbar und rein erscheinen wie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Manches habe ich vergessen oder habe versucht, es zu vergessen, anderes nur verlegt.
»Du magst es? Bist du dir sicher?«
Hier verweile ich einen Moment und zeichne mit den Fingern langsam die Windungen einer der größeren Spiralen nach. Ihr Zentrum ist riesig, üppig und blutrot.
mein Geburtstag. Madigan beobachtet mit leuchtenden, hoffnungsvollen Augen, wie ich ihr Geschenk auspacke, das blaue Papier zerreiße, um einen schweren Wintermantel freizulegen, weiche Wolle in dunklem Schwarz, zweireihig genäht und klar erkenntlich teurer als alles, was ich mir je leisten könnte. Ich versichere ihr, dass er mir gefällt, ja, ich liebe ihn, er ist perfekt, also umarmt sie mich fest und ihr warmer Atem kitzelt mein Ohr – »Ich bin so froh, jetzt kannst du aufhören zu meckern, wie kalt es ist« – ihr Glück ist ansteckend, und ich küsse sie, koste den Geschmack ihres Mundes aus
Selbst als ich mich zurückziehe, bleibt ihre Nähe auf meinen Lippen, und ja, ich habe vergessen, wie es war, dieses reine Gefühl, sie zu lieben, im Gegenzug von ihr geliebt zu werden, und – es ist ein verlockender Gedanke, der sich leise anschleicht. Sie zu suchen, all diese Erinnerungen an Madigan, die guten Erinnerungen, die schönen, die ich jetzt kaum noch spüren kann; fähig sein, sie alle in der Hitze des Moments erneut zu erleben, wieder und wieder, für immer und …
Nein. Die Vergangenheit ist ein vergifteter Ort und ich werde dort nicht länger verweilen.
Ich gehe weiter, achte jetzt sorgfältig darauf, meine Finger nur leicht auf die Portale zu legen, um nur einen Geschmack, einen kurzen Blick, den leisesten Eindruck zu gewinnen, bevor ich zum nächsten gehe und dem nächsten, bis schließlich: eine Spirale, anders als alle anderen, silbern und unnatürlich still. Schon bevor ich sie berühre, weiß ich, dass meine Suche vorüber ist.
Madigan ist hier.
Die Spirale liegt kalt unter meiner Hand und gibt nichts preis. Keine Geräusche, keine Bilder, keine Gefühle außer einer kalten, gereizten Gleichgültigkeit. Hier also versteckt sie sich, und deswegen kann ich ihre Gegenwart nicht spüren, wenn sie dort ist. Dieses Portal ist vollkommen versiegelt, das Portal und der Raum, den sie dahinter für sich selbst geschaffen hat. Aber die Barriere funktioniert in beide Richtungen und das ist mein Vorteil. Hier versteckt kann sie nicht fühlen, was in der Außenwelt geschieht, kann nicht ahnen, wie nah ich bin oder was ich vorhabe.
Das ist mein Geist, und Madigan wird mich nicht aussperren.
Ich drücke testweise gegen das eiskalte Innerste der Spirale, aber es hält, ein glatter, unabhängiger Knopf, scheinbar ohne Möglichkeit, ihn zu öffnen. Wie hat sie das geschafft? Meine Finger folgen dem komplexen Muster nach außen, und es bleibt bis fast zum Ende stumm und silbern, bis es notwendigerweise in das warme, durchblutete Gewebe der umgebenden Wand übergehen muss.
Und jetzt erkenne ich es.
Ein Grinsen erscheint auf meinem Gesicht. »Ob du bereit bist oder nicht, Madigan.«
Ich fange an den Stellen an, an denen das Blut noch pulsiert, und arbeite mich die Spiralarme entlang, massiere sie ins Leben zurück und erlaube dem Blut, seinen Weg zu dem Portal zu finden. Es ist anstrengend und mir läuft der Schweiß über die Stirn, als ich meinen ganzen Körper einsetze, meinen ganzen Geist, um das Silber entschlossen Stück für Stück wieder in Purpur zu verwandeln. Schwitzend, vor Anstrengung grunzend, trifft ein Klagen meine Ohren. Das Geräusch kommt von hinter der Wand und wird lauter und schriller, je mehr sich das Blut der Mitte nähert. Eine Stimme, ihre Stimme, ruft ein einziges Wort – nein nein nein nein nein –, als wolle sie mich aussperren, aber dafür ist es zu spät. Das Portal ist jetzt dunkel genug, flexibel, und ich zwinge meine Hände hindurch, dränge mich gegen das Gewebe. Denn diesmal muss ich mich hineindrängen, statt gezogen zu werden, aber schließlich, endlich, bin ich durch.
Madigan wartet auf der anderen Seite auf mich. Hochaufgerichtet steht sie da, gekleidet in weiße Seide, die Arme über der Brust verschränkt und das Gesicht genervt verzogen, während ein nackter Fuß auf den Boden trommelt.
»Ich nehme an, du erwartest jetzt Glückwünsche.«
Ich sage nichts, sondern dränge mich mit dem Rücken in die nächste Ecke. Ich bin erschöpft und meine Schultern und Oberarme schmerzen, als hätte ich stundenlang Kisten durch die Gegend getragen. Dieser Raum sieht anders aus als die Flure: Die Oberflächen sind metallisch und glatt, eisig wie das Portal, aber die Winkel stimmen nicht, als befänden wir uns in einer an ihre äußersten Grenzen geführten Escher-Skulptur. Und an der Wand, durch die ich gekommen bin, ist ein neues Muster. Eine scharfkantige, geometrische Nachahmung der Wirbel auf der anderen Seite, seine komplizierten Rillen in der Mitte rotgefärbt und mit daraus hervorquellenden purpurnen Tränen.
Ein Ausweg, sollte ich einen brauchen.
Mein Atem bildet Wolken vor meinem Gesicht und meine Lunge verkrampft. Ich drehe mich wieder zu Madigan um und bin mir nur allzu bewusst, wie unvorbereitet ich allem gegenüberstehe, was sie vielleicht zu tun beschließt.
Aber sie zuckt nur mit den Achseln und lässt die Arme sinken. »Ich bin beeindruckt, Lexi, das gestehe ich. Natürlich hattest du ein wenig Hilfe dabei, hierherzukommen – deine eigene kleine Hexe; wie stolz du sein musst.«
Das überrascht mich. »Woher weißt du davon? Du hast dich doch die ganze Zeit hier drin versteckt, oder? Und getan, was auch immer du so tust?«
»Schlafen, um genau zu sein. Dieser Trick, den du bei Serge abgezogen hast, hat mich erschöpft.« Madigan lächelt. Es ist kein besonders freundliches Lächeln. »Aber es spielt keine Rolle, ob ich schlafe oder nicht. Alles, was du weißt, weiß ich auch. Ich muss nur Kontakt zu deinen Gedanken oder deinen Erinnerungen aufnehmen, und wie das funktioniert, habe ich schon in den ersten paar Tagen herausgefunden. Du bist ein offenes Buch, Lexi. Ich kann alles in dir lesen.«
»Aber das funktioniert in beide Richtungen, richtig? Du kannst in meine Gedanken eindringen, ich kann in deine eindringen. Weil wir im selben Geist sind, denselben körperlichen Raum teilen. Also muss es alles hier irgendwo sein.«
»Nein.« Sie schüttelt den Kopf, aber viel zu hastig, viel zu bestimmt. »Du hattest kein Training, keine Vorbereitung. Nicht in einer Million Jahre könntest du es selbst herausfinden.«
»Du lügst. Dich habe ich ziemlich problemlos gefunden.«
»Oh, das hier?« Madigan lacht. »Das ist nichts, das ist, als würdest du das Schloss zum Labyrinth knacken. Gut gemacht, Hut ab. Bedeutet nicht, dass du auch nur die geringste Chance hast, dich zurechtzufinden, jetzt, wo du da bist.« Ihr Lächeln wird noch bösartiger. »Oder eine Chance hast rauszukommen, wenn du dich verirrt hast.«
Verirrt? In meinem eigenen Geist? Ich bezweifle, dass das möglich ist.
»Glaub nicht, dass du da draußen nur schläfst«, sagt Madigan und zeigt auf das Portal an der Wand. Eher bin ich vollkommen bewusstlos, sagt sie. Komatös. Wie schwer kann es ihr meiner Meinung nach fallen, mich so zu halten? Mich hierzubehalten, verloren und allein? Für immer. Wo geht der Geist hin, wenn jemand im Koma liegt, habe ich darüber je nachgedacht? Schwebt er lediglich in einem ständigen Wirbel aus Phantasie und Erinnerung, oder löst er sich letztendlich auf? Vielleicht wird er verrückt, vielleicht verblasst er einfach nur wie psychisches Treibgut.
Sie tritt einen Schritt auf mich zu. »Willst du es rausfinden?«
Ich zucke zusammen und es ist offensichtlich genug, dass sie grinst.
»Lexi, wirklich. Als könnte ich dir so was je antun.«
»Du hast schon Schlimmeres getan.«
Madigan schüttelt den Kopf. »Nicht schlimmer. Niemals schlimmer.«
Es gibt nichts mehr zu diskutieren; dafür ist sie zu weit gegangen.
»Du musst gehen«, erkläre ich ihr. »Ich will dich hier nicht mehr haben.«
Sie hält meinen Blick für einen langen, angespannten Moment, bevor sie unerwartet auf den Boden fällt, die Knie an die Brust gezogen, die Hände gegen die Schläfen gedrückt. Als sie schließlich antwortet, ist ihre Stimme rau, kaum mehr als ein Flüstern: »Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was du da verlangst?«
»Ich verlange, dass du gehst.«
»Du verlangst, dass ich sterbe.«
Sie kann nicht einfach gehen, erklärt sie. Was denke ich denn? Dass sie einfach einen Koffer packen kann und irgendwo in einem Hotel einchecken? Vielleicht zurückgehen nach Toorak und die nächsten paar Jahrhunderte ihre Familie heimsuchen, dort zum melancholischen Geist mutieren, der immer am Jahrestag ihres Todes auf der Treppe erscheint, das Messer noch in der Hand, eine leuchtende Spur aus Blut hinter sich lassend? Nett, nur dass Geister nicht existieren, genauso wenig wie sie, wenn sie geht – zumindest nicht für längere Zeit. Sie braucht eine physische Form, in der sie sich verankern kann, sie braucht einen Körper. Meinen Körper.
»Ich brauche dich, Lexi. Siehst du das nicht?«
»Warum? Was ist so verdammt besonders an mir, dass du …«
»Weil ich dich liebe, du Idiot!« Ihre Stimme stockt und sie lässt den Kopf auf die Arme sinken. Ihre nächsten Worte sind gedämpft, aber immer noch schmerzhaft, schneidend verständlich. »Ich habe dich immer geliebt.«
Fast. Fast hat sie mich. Wie sie da so hilflos sitzt, mit zitternden Schultern und so bleich, beinahe so bleich wie ihr weißes Seidenkleid. Ihre Alabasterhaut übersät mit Sommersprossen, die nackten Füße in einer unendlich verletzlichen Haltung nach innen gedreht. Ich sehne mich danach, zu ihr zu gehen, sie in den Arm zu nehmen und den verzweifelten Druck ihrer Arme um meinen Körper zu spüren.
Diese Worte wieder zu hören.
Ich habe dich immer geliebt.
Aber fast reicht nicht aus.
Denn jetzt, endlich, kann ich sehen, dass nichts davon real ist. Alles ist nur meine Schöpfung. Wie sie aussieht, die Haut an ihren Handgelenken glatt und ohne die Wunden, die sie getötet haben; mein Gott, selbst ihre Haare, ihre phantastischen Haare, die, wenn dieses Bild wirklich korrekt wäre, jetzt verschwunden wären, in dicken Büscheln abgeschnitten, nur kastanienbraune Stoppel zurücklassend. Madigan ist nicht real, nichts von dem hier ist real, noch das letzte Detail ist aus meinem Geist gegraben worden, aus meinen eigenen, verdrehten Phantasien. Ihre Erscheinung ist zu perfekt, so idealistisch wie nur möglich, und Madigan ist nur allzu bereit, das für ihre eigenen, manipulativen Zwecke einzusetzen. Wie immer.
Mir wird übel, weil ich mich selbst anwidere. Ich hole mir wegen dieser Frau immer noch einen runter, obwohl sie inzwischen weg ist, obwohl sie nicht mehr ist als verrottendes Fleisch und Knochen. Selbst jetzt.
»Du kannst mich nicht lieben«, erkläre ich der Kreatur, der Einbildung, die vor mir sitzt. »Du bist tot.«
»Noch nicht«, sagt sie, ruhig und mit klarem Blick. »Nicht, wenn du mich bleiben lässt.«
Gott! Ich will sie nicht ansehen, will ihr nicht mal zuhören. Ihre Stimme hat immer noch Macht über mich, trifft mich im Innersten, bringt meine Entschlossenheit ins Wanken und verletzt mich wie nichts anderes. Und es ist mein eigener Fehler. Ich habe ihr diese Macht gegeben, und ich bin der Einzige, der sie ihr wieder nehmen kann.
Ich schüttle den Kopf. »Du hast dich umgebracht, das war deine Entscheidung. Und du hast auch deine Tochter, unsere Tochter, getötet.«
»In der Hinsicht hatte ich kaum eine Wahl«, sagt sie. »Mein Blutdruck ging durch die Decke, die Schwangerschaft hat mein Herz zu sehr belastet. Du weißt nicht, wie es war.«
»Hör mir zu, Madigan. Ich liebe dich nicht mehr und ich will, dass du verschwindest.«
»Du willst, dass ich sterbe?« Sie legt den Kopf schief und eine einzelne, lange Haarsträhne fällt ihr über die Augen. »Ist es das, was du wirklich willst?«
»Wenn das die Wahl ist, vor der ich stehe, dann ja.« Mein Ton wird hart. »Ich will, dass du stirbst.«
Sie erhebt sich in einer eleganten, gefährlichen Bewegung. »Also, jetzt wissen wir es.«
»Wissen was?«
»Wo wir stehen, wir beide.« Sie wendet sich ab und hinter ihr öffnet sich die Wand zu einem breiten Flur, einer Unendlichkeit aus Schatten und Silber. Ich springe vorwärts und packe ihren Arm, als sie weggehen will.
»Lass mich los.« Sie kneift bedrohlich die Augen zusammen, aber es ist mir egal. Sie wird nicht weglaufen, wird nicht einfach davonschleichen und sich wieder verstecken. Das sage ich ihr und ich meine es auch so. Sie wird verschwinden, und zwar jetzt.
Wir starren einander böse an, Feindseligkeit erfüllt die Luft, bevor sie lächelt, und plötzlich halte ich sie nicht mehr. Es ist, als hätte sich ihr Arm einfach aufgelöst und wäre durch meine Finger hindurch geschmolzen. Das Gefühl ist unangenehm, ölig, und ich schaue auf meine Hand, weil ich erwarte, dort irgendeine Ablagerung zu entdecken.
»Überschätz dich nie, Lexi.« Sie steht jetzt außerhalb meiner Reichweite und deutet in einer wegwerfenden Geste auf unsere Umgebung. »Das ist alles eine Illusion und nicht einmal eine gute. Hättest du nicht ein wenig kreativer sein können? Nicht, dass es eine Rolle spielen würde, du kannst mich genauso wenig festhalten, wie du einen Traum fangen kannst – und du kannst mich sicherlich nicht zwangsräumen. Ich bin wirklich gut in diesem Spiel, ich habe es quasi erfunden. Du dagegen denkst viel zu gegenständlich.«
Dann schlägt sie mich. Ohne Vorwarnung, heftig und mitten auf den Mund.
Sofort empfinde ich Schmerz. Der Schlag wirft mich nach hinten auf den Boden, wie betäubt vor Schock. Blut fließt warm und zäh in meinen Mund, ich rolle herum und spucke es aus, zusammen mit – o Scheiße – einem Zahn, zwei Zähnen, klein und weiß und blutig.
»Siehst du? Es gibt keinen Grund, warum das wehtun sollte.« Madigan beugt sich mit in die Hüfte gestemmten Händen über mich und schüttelt langsam den Kopf. »Du hast bereits verstanden, dass nichts hier körperlich ist, dass wir nicht wirklich hier in dieser langweiligen kleinen Zelle stehen, die du beschworen hast, also muss dir doch klar sein, dass ich dich nicht tatsächlich geschlagen habe, und du solltest fähig sein, dich selbst davon abzuhalten, den Schmerz zu empfinden. Aber das kannst du nicht, richtig? Du weißt nicht, wie es geht.«
Sie geht neben mir in die Hocke und ihre Augen leuchten wie Smaragde. »Vergiss nicht, mein Geliebter, wenn es dem Ende entgegengeht: Ich war bereit zu teilen.«
Dann ist sie verschwunden. Sie geht nicht weg, sie verblasst nicht, sie verschwindet einfach und mit ihr der endlose Korridor. Zurück bleiben nur vier leere Wände, langweilig und nichtssagend. Sogar das geometrisch-verzogene Portal ist verschwunden.
Oh, wie dumm.
Ich lache, hysterisch und hyänengleich, und die Schmerzen in meinem Kiefer sind unaussprechlich. Aber es spielt keine Rolle, ich könnte nicht aufhören zu lachen, selbst wenn ich es wollte. Weil Madigan die ganze Zeit alles kontrolliert hat. Nicht ich, nicht Erin und ihre lächerlichen Tränke und Salzkreise. Madigan. Egal, wie meine Vorstellungskraft es einfärbt und formt, es ist Madigan, der dieser Ort gehört, und ich bin darauf reingefallen, auf sie reingefallen.
Wieder.
Die Decke erscheint niedriger als vorher, gerade hoch genug, um darunter zu krabbeln, als ich in eine Ecke krieche und versuche, meine Finger in den Winkel zu drücken, die Wände voneinander zu lösen, wie ich es in dem toten Raum getan habe. Aber dieser Ort ist noch sehr lebendig und es gibt keine Lücke zwischen den Wänden. Wie dumm bin ich, dass ich das nicht habe kommen sehen? Jetzt weine ich. Blut und Tränen vermischen sich, verstopfen meine Nase, meinen Mund. Mir ist es egal. Hörst du mich, Madigan, hörst du mich verdammt noch mal? Ich trommle mit der Faust gegen die Wand, härter und härter, bis etwas bricht. Frischer Schmerz überschwemmt meine Nerven und es tut gut, bitte mehr davon. Wieder und wieder schlage ich zu und schreie sie an: »Madigan, du Flittchen, öffne diese Zelle!«
Und dann nur ihren Namen – Madigan Madigan Madigan –, stoße ihn durch das Blut und die Schmerzen und das Erbrochene hervor, das sich ohne Vorwarnung aus meiner Kehle ergießt. O Gott, es ist schwarz, glitzernd schwarz mit Rot darin, ausgerechnet Rot. Es sieht übel aus und kam es wirklich aus mir? O ja, weil mein Magen sich weiter zusammenkrampft und hier kommt mehr davon und mehr und mehr, bis ich nichts mehr in mir haben kann. All meine Organe, mein Blut und meine Galle, zusammengeworfen und hochgewürgt, sodass ich nur als leere Hülle zurückbleibe. Ich kneife fest die Augen zusammen, als eine weitere Welle Krämpfe sich ankündigt.
Trink.
Eine Stimme, bestimmt, aber unglaublich weit entfernt.
Trink das.
Kalte Flüssigkeit gleitet über meine Lippen und ich schlage um mich, nicht mehr, bitte nicht noch mehr, ich muss mich nur wieder übergeben.
Alex.
Eine andere Stimme, eine beruhigende Stimme, die meinen Namen wieder und wieder singt. Es ist eine Rettungsleine und ich packe sie, ziehe mich nach oben und raus und in das grelle elektrische Licht meines eigenen Wohnzimmers. Ruth und Erin stehen über mir und in ihren Gesichtern leuchten Erstaunen und Furcht.