65 KÖNIGIN ESTARRA
Die Angriffsflotte der Erde hatte Theroc in Ruhe gelassen, aber die dornigen Baumschiffe blieben im Orbit und hielten nach Feinden Ausschau. Estarra fühlte sich sicher, als sie an Beneto und die anderen Schlachtschiffe der Verdani dachte, die über den Weltwald wachten.
Sie hatte immer gewusst, dass sie auf Beneto zählen konnte. Von den Hydrogern getötet und von den Weltbäumen zu neuem Leben erweckt, war er mehr als ein Mensch, aber immer noch ihr Bruder. Selbst verschmolzen mit einem hybriden Wental-Verdani-Wesen hatte er Therocs Hilferuf gehört und war gekommen, um seine ehemalige Heimat zu verteidigen.
Estarra vermisste ihn sehr. Sie wollte ihren Bruder unbedingt wiedersehen und teilte ihrem Gemahl mit, dass sie Beneto im Orbit besuchen würde. Es behagte Peter keineswegs, dass seine hochschwangere Frau den Planeten verlassen wollte, wenn auch nur kurz, aber es gelang ihm nicht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, und deshalb bat er OX, für Estarra in die Rolle des Piloten zu schlüpfen. Der König verab- schiedete sie, als das heller werdende Licht der Morgendämmerung durchs Blätterdach des Weltwalds drang.
Das kleine Hydroger-Schiff ruhte wie eine Perle auf der theronischen Wiese und sah alles andere als unheilvoll aus. Es funktionierte nach wie vor, doch nur der Lehrer-Kompi konnte seine Systeme steuern. »Es freut mich, Ihnen meine Dienste anbieten zu können, Königin Estarra«, sagte OX. Feuchte Grasschnipsel von der Wiese klebten an seiner Polymerhaut. »Wohin möchten Sie?«
War das ein anderer Ton, den sie in seiner Stimme hörte, weniger förmlich und mehr freundschaftlich? Estarra hoffte es. An jedem Tag bemühten sich Peter und sie, die Wissensbasis des Kompi mit Fakten zu erweitern, und sie fügten Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Zeit hinzu. Estarra lehrte ihn auch das theronische Protokoll, machte ihn mit Traditionen und kulturellen Besonderheiten vertraut und schilderte Anekdoten aus ihrer Kindheit. Sie erzählte Geschichten über ihre Eltern und Großeltern ... und über ihren Bruder Reynald, der beim ersten Angriff der Hydroger ums Leben gekommen war. Und natürlich über Beneto.
»Ich möchte in die Umlaufbahn zu den Baumschiffen und meinem Bruder.«
»Gib gut auf sie Acht, OX«, sagte Peter. »Ich verlasse mich auf dich.«
Estarra hatte Yarrod gebeten, sie zu begleiten, und der grüne Priester kam mit einem kleinen Schössling. Ihr Onkel konnte durch den Telkontakt bei der Kommunikation mit Beneto helfen. Peter gab seiner Frau einen Abschiedskuss, und zusammen mit Yarrod und OX ging sie an Bord des Hydroger-Schiffes.
Yarrod suchte sich einen Sitzplatz, Estarra schloss die Luke, und OX wandte sich den fremdartigen Kontrollen zu. Ein geräuschloser Antrieb wurde aktiv, und die kleine Kugel stieg auf, hinterließ einen Abdruck im Gras. Sie schwebte empor, vorbei an den Stämmen der großen Weltbäume, passierte die Wipfel und erreichte den offenen Himmel.
Vor einigen wenigen Tagen hatten sich Jess Tamblyn und Cesca Peroni von ihren Roamer-Freunden und dem königlichen Paar verabschiedet und sich auf den Weg gemacht. Mit ihrem Hinweis auf die Solidarität zwischen Wentals und Weltwald und der enormen Macht der Wasserwesen hatten sie der TVF viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Nach dem offiziellen Verzicht auf das Amt der Sprecherin konnte sich Cesca anderen Aufgaben widmen, die Estarra nicht ganz verstand. Sie wünschte Jess und Cesca, dass sie endlich Zeit für sich fanden.
Durch die transparenten Außenwände des Hydroger-Schiffes beobachtete Estarra, wie der Weltwald und seine Lichtungen immer weiter unter ihnen zurückblieben. Es dauerte nicht lange, bis sie die Atmosphäre verließen und das All erreichten. OX lenkte sie den dornigen Baumschiffen in der Umlaufbahn hoch über Theroc entgegen.
Die gepanzerten Stämme waren größer als jedes Schlachtschiff. Lange Äste streckten sich in alle Richtungen und tranken die Energie des Sonnenwinds.
Dorne stachen in die Leere, jeder von ihnen so lang wie der Mast eines Segelschiffes. Wurzelgeflechte hingen wie Kommunikationsantennen im All. Ein gewaltiges Baumschiff glitt langsam vorbei und drehte sich dabei der Sonne entgegen.
»Woher soll ich wissen, in welchem Schiff sich Beneto befindet?«, fragte Estarra und blickte durch die transparenten Wände ins All.
Yarrod berührte den Schössling und schien sich seiner Umgebung kaum mehr bewusst zu sein. »Du weißt es.« Estarra sah zu den riesigen Baumschiffen und wusste es tatsächlich. Zwar sahen die Verdani-Giganten alle gleich aus, aber sie spürte die Präsenz ihres Bruders in einem großen Baumschiff, das gerade hinter dem Planeten hervorkam. »Bring uns dorthin, OX, zu dem Schiff.«
Benetos Baum drehte sich langsam, als könnte er sie mit den Augen von tausend Blättern sehen. Seine Äste und Zweige schienen zu rascheln, und einige von ihnen formten eine Art Willkommensnest. Die kleine Hydroger-Kugel sank in diese dornige Umarmung, und mehrere gepanzerte Äste schlossen sich wie Andockklammern um sie.
Yarrod legte beide Händen an den Stamm des Schösslings und schickte eine Nachricht durch den Telkontakt. Als er den Blick wieder auf Estarra richtete, hatte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig verändert. Beneto schien plötzlich ein Teil von ihm zu sein und mit seinem Mund zu sprechen.
»Ich bin immer bei dir.«
»Danke, dass du bei unserer Verteidigung hilfst, Beneto«, sagte Estarra leise. Yarrod schloss die Augen, und Falten bildeten sich in seiner grünen Stirn.
»Die Baumschiffe und der ganze Weltwald sind besorgt. Es droht noch immer Gefahr.«
»Welche Gefahr? Vor einigen Tagen ist es ihnen nicht weiter schwergefallen, die TVF zu vertreiben. Und die Hydroger sind besiegt, nicht wahr?«
Yarrod blickte durch die Wände des Kugelschiffes und schien draußen im All nach Angreifern Ausschau zu halten. »Die Klikiss sind zurückgekehrt«, sagte er mit Benetos Stimme. »Und die Faeros erstarken.«
»Aber die Faeros haben für Theroc gekämpft.« Bei jenem Kampf war Reynald ums Leben gekommen. . .
»Die Faeros haben für sich selbst gegen die Hydroger gekämpft. Theroc war nur ein geeignetes Schlachtfeld dafür.« Yarrod wirkte sehr ernst.
Estarra schauderte und fühlte sich plötzlich nicht mehr sicher, trotz der nahen Baumschiffe. Sie sah nach draußen, be trachtete die großen Äste und stellte sie sich als Benetos Arme vor. Ihr Bruder war als grüner Priester nicht so muskulös gewesen wie Reynald, aber sie erinnerte sich daran, wie fest und gut sich seine Umarmungen angefühlt hatten, als sie ein Kind gewesen war. »Ich vermisse dich, Beneto«, sagte Estarra leise. »Ich weiß«, antwortete Beneto von seinem Baumschiff. Sie hatte keine bestimmte Nachricht für ihn, hielt ihren Bauch mit beiden Händen und fühlte, wie sich das ungeborene Kind bewegte. Estarra wollte ihrem Bruder einfach nur nahe sein. Angesichts all der Gefahren im Spiralarm erschien ihr dies als der sicherste Ort weit und breit.
Sie wies OX an, das kleine Kugelschiff in dem Nest aus Ästen und Zweigen zu lassen. Sie brauchte noch eine Weile Benetos Nähe.