Kapitel VI

Der junge Vermieter war mir verhasst. Ich verabscheute Onkel Ions ängstliche Nachgiebigkeit ihm gegenüber, dabei grüßte ich ihn, wenn ich ihn im Flur traf, selber mit einem verzagten Lächeln. Er schien mich kaum zu beachten, schnippte im Vorübergehen mit den Fingern oder sog sich mit einem plötzlichen Zucken der Mundwinkel Speisereste aus den Zahnlücken. Vor Verlegenheit verkrampften sich meine Gesichtsmuskeln, ich hasste mein weiches Lächeln und meine feuchtkalten Hände, die ich mir noch nicht mit meiner Furcht vor dem Aufbegehren zu erklären vermochte. Ich kam mir wieder fahrig und unbeholfen vor wie in den letzten Jahren, und die Dinge hatten es darauf angelegt, mir aus der Hand zu fallen und auf dem Fußboden in Stücke zu gehen.

Abends im Bett zog ich mir die drei Decken über den Kopf, dazu noch, als häuslich vereinnahmtes Überbleibsel aus dem Krieg, die raue und schwere Felddecke, auf der wir die Wäsche bügelten. In jenem langen Winter gab ich die Felddecke weiter an Onkel Ion, denn der schlief am Fenster und ächzte abends schwer unter rheumatischen und arthritischen Schmerzen. Aus dem immer noch beleuchteten Flur hörte man, wie der junge Vermieter seine Frau beschimpfte.

»Er hat wieder getrunken«, sagte Mutter.

Manchmal gab es auch dumpfe Schläge und zwischendurch die schrillen Schreie von Cornelia.

»Hat aber auch gar kein Glück, das Mädchen …«, sagte Onkel Ion mit hängendem Kopf, während er seine Zigarette ausdrückte.

»Misch dich bloß nicht wieder ein«, fiel ihm Mutter ins Wort. »Mal prügeln sie sich, mal versöhnen sie sich, und am Ende bist du der Dumme …«

Sie war an die Tür gegangen und horchte, ohne dass sie durch das ausgebleichte blaue Papier, mit dem die Scheiben verklebt waren, etwas hätte sehen können.

»So geht das, wenn man sich nicht vorsieht zur rechten Zeit …«, flüsterte sie und ging hinter den Wandschirm in der Ecke, um sich auszuziehen.

»Du kennst dich ja besser aus mit diesen Dingen …«, sagte der Onkel.

Mutter musste das Grinsen an seiner Stimme gespürt haben.

»Ich bin weggegangen, und ich hatte weniger Grund dazu als die hier«, sagte sie hinter dem Wandschirm hervortretend. »Wenn seine Sippschaft nicht gewesen wäre …«

Plötzlich funkelten ihre Augen, und ich wusste nicht, ob es Tränen waren oder ob sie seinem Blick standhielt.

»Die wenigsten sind dazu in der Lage«, lenkte er ein.

Dann legte sich Mutter aufs Bett und tastete mit fahrigen Händen nach dem Schalter der Nachttischlampe. »Als Cornelia geheiratet hat, da hat sie sich wer weiß was eingebildet …«, erinnerte sie sich, und ihre Stimme klang plötzlich bitter. »Und hat erwartet, dass ich sie grüße, dabei kenne ich sie, seit sie mit Letiţia spielen kam und nicht einmal ein Höschen anhatte, geh, Cornelia, zu deiner Mutter, habe ich gesagt, und sag ihr, sie soll dir ein Höschen anziehen.«

*

Der Zaun war mit Stacheldraht bewehrt, wir aber krochen unten durch, wo die Bretter schadhaft waren. Zwischen den Beeten mit aufgeplatzten Kohlköpfen wucherten Quecken, und der verwilderte Dill streute uns Samen ins Haar. Es roch nach später Sonne und nach Erde, als ich zwischen den schmächtigen Pflaumenbäumen durch den Garten hinüberlief. Um den knotigen Stamm des Apfelbaums waren Mist und Stroh angehäuft. Dort ging unser Hof nahtlos in den ihren über, und ich schlich mich an den Wänden entlang zu ihnen.

»Keine Angst, die sind angebunden«, rief Cornelia.

Allerdings zerrten die zottigen Hunde mit vom Bellen blau angelaufenen Lefzen heftig an ihren klirrenden Ketten, die an den Wäscheleinen entlangrasselten. Ich flüchtete mich hinter die Tür, wo man sich die Schuhe auszog, und mit einem Blick auf die ausgetretenen Paare auf der Türschwelle konnte ich erkennen, ob ihre Mutter zu Hause war. Ab und zu schob ein Lehrling den Riegel an dem großen Hoftor auf und öffnete es, dann fuhr ein Wagen über die feuchten, mit schwarzem Schlamm verschmierten Pflastersteine. Von der Schwelle der Werkstatt aus feilschte der schmerbäuchige Kerzengießer, Cornelias Vater, mit den Bauern, schließlich lachte er dröhnend auf, ging hinein und kam wieder, die langen weißen Kerzen in der Hand. Cornelia rief mich, und wir stiegen zusammen auf das noch warme Blechdach des kleinen Hauses, um uns eine Hochzeit beim Nachbarn anzusehen. Der staubige Hof hallte von dem mit Jauchzern durchsetzten Stimmengewirr, und in einer Ecke unter den lilafarbenen Blütentrauben der hochrankenden Glyzinie flatterte weiß der Schleier der Braut. Von hier oben sahen wir nur die vor Brillantine glänzenden Haarschöpfe und die langsamen Tanzschritte zu den Donauwellen, die der Akkordeonist ohne Unterlass mit solch schrillem Klageton intonierte, dass sie die starre Luft des Sonntags ganz und gar durchdrangen. Feixend polterten Cornelias Brüder die alten Holztreppen zum Dachboden herauf.

»Wir haben ihn gesehen«, rief Fane, »über der Großmutter haben wir ihn gesehen, wie er sie gevögelt hat …«

»Haltet den Mund, die Kleine ist hier …«, schimpfte Cornelia und zeigte auf mich.

Von unten schrie ihnen die Großmutter – mit Fleischwülsten und Rockfalten bewehrt, mit wirren, zu einer Sturmhaube aufgetürmten weißen Haaren – Verwünschungen nach.

»Ich sag’s eurer Mutter«, keifte sie und machte Anstalten, ihnen hinterherzusteigen. »In der Hölle sollt ihr schmoren, verdammte Teufelsbrut …«

Und hinter dem Rücken der Alten duckte sich mit gesenktem Kopf mucksmäuschenstill der junge Lehrling, ein langhaariger Lulatsch mit Pickeln zwischen den spärlichen Barthaaren. Mit einem Mal wurde es Abend, zottige Wolken verfinsterten das Blau des Himmels, und ich krümmte mich vor Kälte.

»Wir müssen los«, sagte Cornelia und warf ihre schweren Zöpfe über die Schulter, »wir müssen los, denn jetzt geht es an die Arbeit …«

In der Tür zur Werkstatt flackerte die Gaslampe und warf lange Schatten auf den gestampften Boden. Sehnsüchtig sah ich mit an, wie die drei an die Arbeit gingen zu einer Zeit, wenn ich schlafen ging.

»Geplagte Kinder«, sagte die Mutter, »die müssen die ganze Nacht ran zum Kerzengießen, und an Feiertagen schleppen sie sie mit auf die Märkte … Wie sollen die denn noch zum Lernen kommen?«

Sie blieben dort an den Spulrädern mit öltriefenden Dochtschnüren, zwischen den fettglänzenden Paraffinblöcken, in der heißen, gasgeschwängerten Luft.

Später spielten wir dann nicht mehr, und Cornelia ging mit den Jungs auf dem Korso spazieren. Sie trug faltenreiche geblümte Seidenkleider und Schuhe mit hoher Kreppsohle. In einem der folgenden Sommer ließ sie sich eine Dauerwelle machen und wollte mir weismachen, sie habe von Natur aus lockiges Haar. Sie ließ sich in einer der ersten Nylonblusen, die ich gesehen habe, im Fotostudio fotografieren, und ihr retuschiertes Porträt mit tiefrot eingefärbten Lippen und eckig abgesetzten Brauen gilbte über mehrere Sommer im Schaufenster vor sich hin. Sie erzählte mir von den Jungs, die ihr Freundschaft geschworen hatten, und zeigte mir dann ein blaues Schulheft, ihr Poesiealbum. In einem von roten Blumen umrankten Rahmen hatte sie als NELLY gezeichnet. WAS MEINT IHR, WAS IST LIEBE UND WAS IST FREUNDSCHAFT, stand mit großen Druckbuchstaben ganz oben, die Antworten darunter waren sorgfältig nummeriert. WAS HALTET IHR VON DER BESITZERIN DIESES ALBUMS war die letzte Rubrik, und ihre Mitschülerinnen hatten geantwortet, sie sei eine noble, intelligente und feine Person.

Nachdem sie beim Abitur durchgefallen war, war sie die Erste in unserer Straße, die heiratete. Jetzt hatte sie zwei lange glänzende Morgenröcke, ihr Gesicht war in die Breite gegangen und ihre Hüften ebenso. Die Dauerwelle ließ sie sich immer seltener machen, stattdessen ging sie ständig auf dem Hof hin und her, die Haare auf Papierwickeln eingedreht unter einem geblümten Kopftuch.

»So ist das halt, wenn man einen Mann hat«, sagte sie zu mir und sah mich gönnerhaft an.

Nach der Geburt ging ich sie und ihren Sohn besuchen, ich betrachtete sein kleines verschrumpeltes, viel zu ernstes Menschengesicht mit der plattgedrückten Nase und den gerade noch unter dem faltigen blauen Steppmützchen hervorlugenden Augen.

»Sieh zu, dass du nie Kinder kriegst, Letiţia«, sagte sie und neigte sich über ihn, um die Windel zu lösen. Seine runzligen geröteten Beinchen zappelten in der warmen Luft, die nach Pisse und Milch roch.

»Es tut so weh, man möchte am liebsten in die Stühle beißen …«

Etwa ein Jahr später kriegte sie allerdings schon das zweite.

»Es ist rachitisch«, sagte Mutter. »Verantwortungslos sind die, sie müssten zum Doktor gehen, damit der ihnen Calcium verschreibt, schau bloß, es ist bald ein Jahr alt und kann noch nicht einmal stehen …«

»Irgendwie sind sie ja auch im Recht«, sagte Onkel Ion. »Sie sind genauso beengt wie wir, in einem Zimmer …«

»Geld haben sie aber genug«, entgegnete Mutter. »Sie haben schon für ein Auto angezahlt … Wieso bauen sie nicht noch ein Zimmer an, wie sie bei der Hochzeit versprochen haben?«

»Sie werden schon noch anbauen, aber erst, wenn sie uns rausgeschmissen haben«, grinste Onkel Ion freudlos. »Und dann wird der Pârvulescu allein wohnen in seinem Haus, denn so nennt er es …«

Das Haus hatte ihm der Kerzengießer, Cornelias Vater, in der Woche vor der Hochzeit überschrieben. Damals war der Alte vor Freude, dass seine Tochter einen Chefingenieur kriegte, ständig betrunken und schaute bei uns herein, um es zu verkünden. Die Geschäfte laufen wieder, sagte er, seit dieser Schwiegersohn im Haus ist, gibt es keinen Kummer mehr wegen der Genehmigung, sein Schwiegersohn kennt die von der Miliz, vom Finanzamt, von der Gewerbeaufsicht, der hat überall seine Leute, mit denen er zur Not reden kann. Vor fünf Wochen hat ihm jemand diesen Ingenieur für Cornelia angeschleppt, die Sache war von vornherein ausgemacht, ein stattlicher Mann um die vierzig, früher Soldat, dann Abendstudium, jetzt aber will auch er einen Hausstand gründen, wie andere auch. Er hat auf der Stelle ja gesagt, wie sollte dem das Mädel auch nicht gefallen, schön ist sie, das Gymnasium hat sie, ein Haus auch, denn das überlässt er ihr, allerdings auf seinen Namen, für die Jungs wird er schon noch sorgen, so Gott will, wird er im Hof neben dem alten Haus noch ein neues bauen. Da ist ja auch noch das Haus von der Alten, wer weiß, wie lange die es noch macht, wo die doch so am Leben hängt, die ganze Straße redet über sie, weil sie neuerdings auf Jungs scharf ist, aber wie auch immer, man hat nur ein Leben …

Später kam Cornelia mit ihrem Verlobten zu uns. Er war so groß wie ich, und die paar dünnen Härchen auf seinem kahlen Schädel waren zart und flockig wie bei einem wenige Monate alten Kind, als wären sie nachgewachsen, nachdem er kahl geworden war. Mit seinen neuen Kreppsohlen trat er lautlos auf, und der gestreifte braune Anzug hing über seinem dürren Hintern und an den Ellbogen in blankgescheuerten Falten herab.

»Wir müssen zum Schneider«, sagte Cornelia nach einer Weile und sah auf die kleine goldene Uhr an ihrem dicklichen Handgelenk. »Danke für die Aufmerksamkeit …«

»Habe die Ehre«, sagte Pârvulescu heiser zu Onkel Ion.

Er setzte die leere Kaffeetasse auf die Untertasse, und als er lächelnd aufstand, sah ich zwei funkelnde Zahnkronen. »Ab jetzt sind wir Nachbarn …«

»Ich bin sicher, dass er vorher bei der Securitate gearbeitet hat … Hast du denn nicht gehört, was er sagte, als …«, wisperte Mutter, als sie draußen waren.

Doch Onkel Ion reckte verzweifelt die Hände in die Luft zum Zeichen, sie solle bloß still sein.

*

Sie hatten in der Laube die Tische zusammengerückt, und Cornelias Mutter kam in einem lila und grün geblümten Seidenkleid, mit glitzernden Perlen am Hals und vor Hitze hochrotem Kopf durch den Garten in unseren Hof und brachte die Tabletts mit Schweine- und Putenbraten. Hinter ihr schleppten zwei oder drei Frauen Teller, Gläser und Besteck herbei und fragten dauernd, wer wo sitzen würde. Auf dem Bürgersteig ging Cornelia im Brautkleid hin und her. Sie klammerte sich an den Arm einer Freundin, die als Brautjungfer ein Krönchen aus rosa Kunstblumen über der pickligen Stirn trug. Sie tuschelten in einem fort und blieben ab und zu kichernd stehen, dann fiel Cornelia plötzlich wieder ein, dass sie die Braut war, und mit zwei Fingern lüpfte sie die Schöße ihres Kleides, um damit nicht den Boden zu fegen, worauf die andere sich beeilte, den Strass wieder in Ordnung zu bringen. Über den Nachbarzaun sahen zwei Mädchen ihnen zu und bohrten in der Nase, während der Kerzengießer an einer Ecke des Tisches pausenlos mit dem Schwiegersohn und zwei Brautjunkern in geliehenen schwarzen Anzügen anstieß. Den einen kannte ich, es war der junge Lehrling. Sie waren seit dem frühen Morgen dran und schon gut dabei, und mit einem Mal schnippte der Kerzengießer, Cornelias Vater, mit den Fingern in Richtung der Combo, die ihn zweitausend Lei gekostet hatte. Sein weißes Hemd war schweißgetränkt, sein Gesicht blaurot angelaufen. Er sang so laut, dass man es bis zur Kirche im Tal hörte: Wenn da noch ein Andrer waaar, soll sie gehn mit Haut und Haaar … Ach, ojeh, die Schönste ist nur schön, wenn sie am Leben ist … Weiter wusste er den Text nicht, er stockte, sah sich verdattert um, und alle begannen zu lachen.

Es war eine Hochzeit mit einem reichen Gabentisch, und Mutter legte die Hunderter, die vom Darlehen für Holz aus dem Sommer übrig waren, nach dem Essen auf einen sauberen Teller.

»Vom Paten fünftausend und ein Sofa für die Braut …«, verkündete der Musikant, und alle lachten und klatschten, und die Frauen, in enge Glitzerkleider gezwängt, kicherten in ihre Ausschnitte und klatschten unterm Tisch ihre kurzen dicken Schenkel zusammen.

Ein hagerer Ziegeleiarbeiter tanzte mit mir und führte mich mit überlangen Schritten langsam zum Tor. Der Hof unter dem welkenden Blattwerk der Laube war ausgiebig gewässert worden, so dass ich immer wieder aus dem Takt geriet, weil ich den kleinen Wasserlachen und samtweichen Morasthäufchen auszuweichen versuchte.

»Ich hatte kein Glück, Fräulein«, sagte er, »darum habe ich noch nicht geheiratet …« Seine Gesichtshaut war von Poren durchlöchert wie von Blatternarben. Er war dreimal so alt wie ich, und ich war fünfzehn. »Die ich wollte, haben mich nicht geliebt, und die, mit denen ich gekonnt hätte, haben mir nicht gefallen …«

Gern hätte ich Mitleid mit ihm gehabt, dabei tat mir nur der Nacken weh, wenn ich zu ihm hochsah und seinen Blick suchte. Er starrte mich mit funkelnden Augen an, und seine feuchte Hand, die meinen Arm im Griff hielt, zuckte unmerklich. Als der Tanz vorüber war, schlich ich mich durchs Tor und ging zum Korso.

*

Ich stand am Ende des Korsos und hielt Ausschau nach Mihai oder Jeni. In zwei perfekt parallelen Schlangen bewegten sich die Menschen wie auf gegenläufigen Fließbändern, alle besorgt, dass keiner dem anderen auf die Hacken trat. Ihre wissenden Blicke begegneten sich, sie verständigten sich durch diskrete Zeichen, und mit etwas Mühe hätte man das dumpfe Scharren der aberhundert Füße als Klangteppich wahrnehmen können, der sich über alles breitete. Die Paare und die Mädchen gingen Arm in Arm, während die Jungs mit ostentativ gereckten Zigaretten ziellos umherschlenderten. Am Ende der Straße machten sie kehrt und gingen zurück. Die Prozession war in immergleicher rechtsdrehender Bewegung, die Arme blieben ineinander verhakt, wieder und wieder wurden die neuen Kleider und Schuhe hergezeigt und die gedankenverlorenen Gesichter. Sie gingen unter den Schildern der staatlichen Genossenschaften entlang, die über den Schaufenstern unbeleuchteter Läden mit ölgetränkten Bretterfußböden hingen; an zwei Kreuzungen beschleunigten die Mädchen den Schritt, weil sie anzügliche Kommentare befürchteten oder gar zu hören bekamen. Dort an den Handläufen des Haushaltswarenladens und der Buchhandlung Das Russische Buch lehnten rauchend die Jungs, die sich schon seit einem oder zwei Jahren um einen Studienplatz bewarben … Oder relegiert worden waren? Das Gerede darüber, was man alles nicht machen durfte, wenn man sein Leben nicht verscherzen wollte, war mir dermaßen wirr im Gedächtnis, dass die Jungs vor der Buchhandlung mich überhaupt nicht interessierten. Fast unmittelbar aufeinander folgten dann die beiden Kinos, Muncitorul (Der Arbeiter) und Vremuri Noi (Neue Zeiten), aus denen um sieben und um neun mit schweiß- und tränenüberglänzten Gesichtern und verträumten Augen ältere Paare und Gymnasiastenpärchen sowie unzählige Grundschüler strömten, die ihre Uniformen an den gekalkten Wänden fleckig gescheuert hatten. Flutartig überschwemmten sie die Promenade.

So strebten die beiden Züge den beiden Enden der Straße zu: Der eine bewegte sich an den langen, an diesem Sonntagabend verstörend leeren Tischen des Marktes entlang zwischen weggeworfenem Papier, welken Salatblättern und Lachen, die sich in den Löchern des Gehsteigs angesammelt hatten und eingefärbt waren von dem tiefen Blau der Leuchtreklame über dem Universalkonsum, dem ersten neuen Gebäude der Stadt. Die Köpfe des anderen Zugs schrammten lautlos am runden Himmelsgewölbe entlang, an dem die pathetischen Farben des Sonnenuntergangs unmerklich ausblichen und in den unpersönlichen Farben des Abends aufgingen.

Es war die Zeit, zu der ich gewöhnlich zu Hause sein musste. An diesem Abend hätte ich mich ohne weiteres verspäten können, denn die Hochzeit ging die ganze Nacht, aber Mihai war nicht da, und so musste ich die Versöhnung in Gedanken noch einen Tag aufschieben. Aus einer Gruppe von Mädchen löste sich Jeni und kam auf mich zu.

»Mihai war heute Abend gar nicht da«, raunte sie. »Komm, machen wir noch eine Tour …«

»Kennst du den?«, fragte ich sie und kniff sie in den Arm, wobei ich auf einen der Jungs vor der Buchhandlung zeigte. Ich warf noch einen verstohlenen Blick zurück, dann hörte ich sie rufen: »Hahaaa …« – aber wir waren schon an ihnen vorbei.

»Welchen? Den langen? Nein«, sagte Jeni. »Oder doch … Ist der nicht längst durch? Ich meine, auch mit der Fakultät. Was sucht der denn noch hier, die Studenten sind doch auch schon weg …«

»Er war Schüler bei meinem Onkel in der letzten Klasse … Weißt du denn nicht mehr, es hieß immer, der ist großartig?«

Jeni schüttelte den Kopf, sie hatte keine Ahnung.

»Der war auch einmal bei uns, Bücher ausleihen vom Onkel, das ist viele Jahre her …«

Er hat mich wohl nicht erkannt, dachte ich verstimmt. Dabei hatte er uns gar nicht gesehen. Er lachte über etwas anderes, den Kopf zur Seite geneigt. Aus dem offenen Hemdkragen ragte sein langer Hals mit dem stark hervortretenden Adamsapfel, der unter der Haut auf und ab hüpfte. Er wirkte gehemmt, wie damals, als er bei uns war und auf der Schwelle verharrte, solange der Onkel in der Bibliothek nach den Büchern suchte, von einem Fuß auf den anderen trat und alle Fragen nur mit ja oder nein beantwortete. Später zeigte mir der Onkel Zeitschriftenartikel unter seinem Namen, die er ihm mit den Büchern geschickt hatte, und sagte, sie seien sehr interessant. Bei der Gelegenheit hatte ich auch gesehen, wie er hieß, aber ich erinnerte mich nicht mehr recht daran.

»Petre«, murmelte ich. »Petre Arcan oder so …«

»Wer?«, fragte Jeni. »Ach ja, der …«

Vielleicht sieht er mich ja, wenn wir zurückkommen, sagte ich mir. Ich wusste nicht, wieso, aber ich hatte ihm immer mit derselben Neugier nachgeschaut. Allerdings standen dann an dem Ladeneingang, wo ich ihn gesehen hatte, alle anderen Jungs, außer ihm.

»Worauf warten wir noch? «, fauchte ich Jeni an. »Siehst du denn nicht, dass alle weg sind?«

»Na klar, wenn Mihai nicht da ist, hast du keine Lust mehr …«, erwiderte sie.

Sie war sauer, denn beim Muncitorul hatte sie Mircea mit zwei Mädchen von der Gesamtschule gesehen. Die Reihen der Spaziergänger hatten sich gelichtet, wir kamen jetzt schneller an ihnen vorbei. Im Schaufenster des Fotostudios sprangen mir noch einmal die vergilbten Fotos ins Auge. Zwischen den weißen Kerzen, mit der gestärkten Schärpe über der Brust und dem mit breitem Strasssaum besetzten Schleier saßen Braut und Bräutigam, die Köpfe bis auf einen Zentimeter Abstand einander zugeneigt. Die nachkolorierten Lippen waren in einem bemühten Lächeln erstarrt, und die blicklosen Augen starrten auf die öde Straße.

»Los, schneller«, sagte Jeni plötzlich. »Wir sind wirklich spät dran …«

Und beide rannten wir los.