Kapitel III
Eigentlich war der gleiche Weg an jedem Tag gesäumt von den Zeichen des Scheiterns. Daran dachte ich damals allerdings nicht, und später, als ich es zu verstehen meinte, machte ich mir das Leid des Onkels abstrakt zu eigen; wollte ich es vielleicht sogar schärfer empfinden, als es wirklich gewesen war? Denn jahrelang, in den Wirren so vieler Augenblicke, war ich gewöhnlich nur empört darüber, dass er ein anderer war als ich. Der Augenblick, als wir uns voneinander lösten, als meine Gedanken ihn plötzlich verstörten, sollte mir unbegreiflich bleiben. Es reichte, dass ich, getrieben von jener schuldbewussten Unrast, die in der reglosen Luft der sommerlichen Sonntage nur mich allein erfasste, sobald die Sonne den namenlosen Ruf des Abends hinter die einstöckigen Häuser des Korsos sandte, stillschweigend nach dem guten Kleid und den guten Schuhen suchte, schon spürte ich seinen bösen Blick verhaltener Gereiztheit von dem vertrauten, mit dicken Büchern überhäuften Tisch, die Ringe unter den Augen und die vom Alter in die Breite gezogenen Lippen.
Es waren andere Sonntage als jene, an denen ich, der Zeit enthoben, auf der Gasse gespielt hatte, nur Mutters hagere Gestalt bewegte sich genauso in der Enge der Sommerküche und trat hin und wieder ins Freie, um das Spülwasser hinter dem Haus auszuschütten, wo der Hof mit ein paar verkrüppelten Pflaumenbäumen, schütterem Gras und schmutziger Kamille abfiel. Damals riefen wir uns gegenseitig und rauften uns zusammen, vor allem wenn wir das träge Läuten der Kirchenglocke vernahmen. Beim Laufen spürte ich unter den Sandalen die von Schritten abgeschliffenen Flusskiesel, mit denen die Straße gepflastert war, und wenn wir dann dort waren, hingen wir dichtgedrängt am Zaun des Kirchhofs und pressten die staub- und rotzfleckigen Wangen zwischen die von der Sonne erhitzten rostigen Eisenstäbe. Von oben hallten wie ein runder Regen die Rufe der Glocke, süß und faulig roch es nach dem Rauch der Kerzen, nach welkenden Blumen und Weihrauch, und wir drückten uns vorsichtig zwischen den gebeugten Verwandten herum. Pergamentene Gesichter, tränenüberströmt, Strümpfe und Kopftücher aus durchsichtigem schwarzem Gewebe. Hin und wieder wurde es einer Frau übel, dann wurde sie unter Geraune hinausgebracht, an die vor Sonne und Staub flimmernde Luft. Aus dem kühlen Kirchengestühl begafften wir unermüdlich das bläuliche oder gelbliche Gesicht des Toten, die von der inneren Leere gestrafften Züge und die Schuhsohlen, die senkrecht aus dem Haufen von Blumengebinden ragten.
»Wie schön er ist, wie wenn er schläft«, flüsterte man wehmütig im Umkreis.
Doch wir stellten keine Vergleiche an, sondern verharrten schaudernd vor Neugier unter den knochigen Heiligen der Vorstadtkirche in ihren grellbunten Gewändern.
Spät setzte sich der Leichenwagen dann in Bewegung, verschlissene Troddeln baumelten an den Umhängen der Pferde, deren Fell unter Mückenstichen bebte, und an den Vorhängen, die an den Ecken der Glaswände von ineinander geknäulten, geschwärzten Engeln gehalten wurden, zwischen denen die Kränze mit steifen Papierblumen in den grellen Farben billiger Bonbons und bronzen beschrifteten Bändern hingen. Die Verwandten handelten im Flüsterton aus, wer in die abgezählten Kutschen steigen durfte, die sich nacheinander im Schritt in Bewegung setzten. Langsam verklang das Wehklagen auf dem Markt, dafür wurden die Stimmen im Trauerzug um so lauter. Anfangs begrüßten die Leute sich nur gegenseitig, dann bildeten sie Grüppchen, in denen die Unterhaltung immer lebhafter wurde, je weiter sie die Straßen der Stadt hinaufstiegen. Eine Weile hingen wir noch am rostigen Zaun des Kirchhofs wie zu Anfang; als wir dann unschlüssig auseinandergingen, trug jeder von uns, ohne es zu merken, die aufgeblähte Leere des Nachmittags mit sich.
*
Er hätte also merken müssen, dass in seinem Leben nichts geklappt hatte. Zumindest mir erschien das später so. Aber hatte Onkel Ion jemals darüber nachgedacht? Vergeblich suchte ich noch Jahre später nach Anzeichen, dass es ihn bekümmert hätte. Auf dem obersten Brett seiner Bibliothek lag zwischen den Aktenordnern, die er einmal im Monat von Staub und Kohlenasche säuberte, eine Schachtel, deren Deckel mit roten und goldenen Schnörkeln verziert und deren Wände zerbeult waren. Sie duftete immer noch nach ausländischem Pfeifentabak. Darin lagen dünne Heftordner ohne ein einziges Bild, auf der ersten Seite buchstabierte ich seinen Namen, der mit einem Mal ehrwürdig klang: Prof. ION SILIŞTEANU.
»Geh da nicht dran, das sind Auszüge aus den Referaten deines Onkels, er hat keine mehr davon«, rief Mutter. Für einen Augenblick verweilte ihr Fuß auf dem schwarzen Tretrost der Nähmaschine, dann warf sie mit leichter Hand das Schwungrad von neuem an, und wieder erbebte das Fenster von dem schweren Rattern.
Noch lieber war mir die Kiste aus Ebenholz, die ihren Platz unter der Anrichte hatte. Sie war so schwer, dass ich sie nicht heben konnte, also schleifte ich sie über den Teppich, dass die Münzsammlung des Onkels klirrte. Ich drehte den Schlüssel im Schloss so lange nach rechts und nach links, bis sie aufging. Dann lachte ich vor Freude beim Anblick des Futters aus rot schimmernder Seide. Sie hatte mehrere Böden, die ich heraushob und zwischen den hohen Tischbeinen um mich herum auslegte. In den Fächern funkelten ein paar Ringe und der breite Ehering der Mutter, verbogene Armbänder, die ich mir bis zum Ellbogen hinaufschob, um sie dann durch Armschlenkern zum Klirren zu bringen, ein dünnes Goldkettchen, an dem ein geschliffener grüner Stein entlangglitt, und neben vielen vergilbten Fotografien eine Menge Münzen, die einen geschwärzt, die anderen klein und mit einem Loch in der Mitte, die meisten funkelnd wie neu, mit Köpfen von Männern, umrundet von unverständlichen Wörtern.
»Was ist das denn?«, fragte ich und faltete das steife, an den Kanten abgestoßene und in schnörkeliger Schrift mit schwarzer Tusche beschriebene Blatt auseinander.
Onkel Ion konnte es nicht sein, dieser dermaßen junge Mann auf dem Foto, das in einer Ecke klebte, obwohl er ihm ähnlich sah. Der kindlich volle Mund verzog sich zu einem leichtgläubigen Lächeln, das ich nicht kannte, und die eine Hälfte des Gesichts war von den roten Buchstaben eines Stempels unkenntlich gemacht.
»Das ist sein Diplom zum Abschlussexamen, das er mit Bestnoten, lauter weißen Belobigungssternchen, bestanden hat, als einziger des gesamten Jahrgangs …«
Verwundert blickte ich auf. Mutters Stimme klang nach Zurechtweisung.
»Er hatte seine Prüfungen etliche Monate vor den anderen abgelegt, um in Lohn und Brot zu kommen, damals kam er für Biţăs und meinen Lebensunterhalt auf und war dauernd zu Privatstunden in der Stadt unterwegs … Deshalb hat er auch gleich die erste Stelle genommen, die ihm angeboten wurde, und ist von der Hochschule abgegangen … Sein Pech, denn am Ende des Studienjahres hat sich ein Auslandsstipendium ergeben. Die von der Fakultät haben ihn vorgeschlagen und haben ihn monatelang gesucht, aber wer wusste schon, in welcher Ecke des Landes er war … Im Herbst haben sie dann einen anderen geschickt, der ist jetzt am Lehrstuhl … Sein ganzes Leben wäre vielleicht ein anderes, wenn er damals …«
»Und wo sind diese weißen Sternchen?«, fragte ich und wühlte in den vergilbten Fotos.
Diese wirre Geschichte interessierte mich nicht, ich verstand sie auch nicht. Schau an, was diese Herren, die da eine Straße entlanglaufen, die ich nicht kenne, was die für komische Hosen anhaben, sie sind im Gehen mit einem Bein in der Luft wie erstarrt, hinter ihnen sitzt der Kutscher auf seinem Bock, starr auch er, die Peitsche in der Hand. In einem dunklen Klassenzimmer mit großen, kahlgeschorenen Schülern Onkel Ion, ich sehe nur seine scheuen Augen, man kann kaum einen Altersunterschied zwischen ihm und den um ihn gescharten Jungen erkennen. Das andere Foto habe ich schon oft gesehen, auf dem weitläufigen Balkon eines sehr weißen Hauses steht Mutter, ihr langes schwarzes Haar ist über der Stirn in einer Rolle gefasst, in den Armen hält sie in einem spitzenbesetzten Steckkissen ein kahlköpfiges dickes Kind, von dem ich weiß, dass ich es bin, so wie ich weiß, dass der Mann mit langgezogenem Gesicht und schmalen Lippen neben ihr mein Vater ist.
»Wonach wühlst du denn da?«, rief plötzlich Mutter. Sie hielt inne und sah mich an, als sähe sie mich überhaupt erst jetzt.
»Nach den Sternchen«, sagte ich und blickte erstaunt auf. »Ich finde die Sternchen zu dem Papier von Onkel Ion nicht – ich möchte mit ihnen spielen.«
»Was denn für Sternchen? Ach so, da gibt’s keine Sternchen, man sagte damals halt so, es gab auch rote Sternchen.«
»Es gab auch rote Sternchen, aber es gibt sie nicht …«, murmelte ich und warf die Fotos wütend durcheinander.
Mutter wurde böse. »Dir kann man aber auch nichts überlassen, schau bloß, wie du damit umgehst …«
Durch das offene Fenster drang der Pfiff eines Zuges und dann das Rattern der Waggons so laut, als rollten sie durch unseren Hof. Es war der Schnellzug nach Bukarest, der durch die Station am Ende der Straße fuhr.
»Zwanzig nach neun!«, rief Mutter. »Los, pack schnell alles zusammen, gleich kommt dein Onkel, und du weißt, er mag es nicht, wenn jemand an seine Sachen geht.«
»Wer ist denn das?«, fragte ich und nahm ihr ein Foto aus der Hand.
Viele Herren mit breiten Rockaufschlägen sitzen da, das Weinglas in der Hand. Es ist Sommer, der Hof ist mit Gras zugewachsen, alle lachen sie und schneiden Grimassen. Am heftigsten grimassiert Onkel Ion, er sieht dem, der er jetzt ist, schon ähnlicher, und ich erkenne ihn, obwohl er die Zunge herausstreckt und mit der einen Hand seine Wangen so herabzieht, dass seine Augäpfel weiß hervortreten. Eine Dame hat ihn am Hals gepackt und versucht ihm eine aus einer Serviette gedrehte Schlaufe ins Haar zu binden, sie hat ihre Löckchen über dem Scheitel gerafft, ihre Brauen sind so schmal, dass ich sie kaum sehe, dafür ist ihr kleiner Mund ganz schwarz. Seltsam sind ihre Schuhe mit hohen breiten Absätzen, noch seltsamer aber ist das Kleid mit eckigen Schultern, das ihr schlaff bis über die Knie hängt.
»Ach, die kennst du doch, das ist Tante Ştefi.«
Dabei hatte Tante Ştefi doch dauernd krank im Bett gelegen in jenem Jahr, als wir hergezogen waren, nachdem sie Vater verhaftet hatten. Sie war so dünn, dass man meinte, ihre Haut würde rascheln, und ihre Wangenknochen traten spitz hervor. Sie sah viel älter aus als Onkel Ion, denn ihr Haar war schlohweiß, und sobald es ihr über die Ohren wuchs, klagte sie, es steche ihr in den Nacken. Dann schnitt Mutter es ihr mit der großen Schere ab, über einer ausgebreiteten Zeitung, auf die die stachlig steifen Strähnen fielen.
»Sie hat es am Herzen«, hörte ich Mutter eines Abends dem Herrn Emil zuflüstern. »So ist sie, seit man sie nach dem Bombenangriff aus den Trümmern geholt hat. Damals hat sie auch ihr Kind verloren.«
Seither überlegte ich ständig, wieso die das Kind denn nicht wiedergefunden hatten, und abends im Bett überkam mich die Angst, dass es mir genauso gehen könnte. Doch tagsüber spielten auch wir Bombenangriff, ich und Cornelia verkrochen uns im Schuppen unter den Holzvorräten für den Winter, die nach Staub und vertrocknetem Moos rochen, während Fane und Nicu Steine über den Hof schmissen und brüllten: »Die Flieger kommen … Rrrrrrrr …« Bis ihre Großmutter herauskam und uns alle mit Verwünschungen verjagte.
Ich mochte Tante Ştefi nicht, denn sie lag ständig im Bett und wollte dauernd etwas. »Nicht einmal mehr lesen kann ich«, klagte sie. Nur vor den Mahlzeiten stand sie auf und ging hin und her, wobei sie ächzend die Stühle aus dem Weg räumte. Wenn sie etwas nicht essen wollte, schob sie den Teller zur Seite. »Das ist nichts für die Diät«, sagte sie. Mutter runzelte die Stirn, holte ihr aber etwas anderes.
Manchmal sagte Tante Ştefi, sie fühle sich besser, und dann gingen wir gemeinsam spazieren, auf dem Boulevard. Vorher setzte sie sich seufzend vor den Spiegel, das Puder bildete mehlige Flecken auf ihren ausgemergelten Wangen, und der Lippenstift bröckelte an ihrem Mund.
»Ich kann nicht einfach so rausgehen«, beschied sie schulterzuckend Onkel Ion, der sie von der Tür zur Eile drängte.
Dann spazierten wir sehr langsam den Boulevard entlang bis in die Nähe des Korsos. Wir begegneten Leuten, die ebenso langsam gingen wie wir, sie blieben stehen, wir blieben auch stehen, es wurde geredet. Ich zappelte ungeduldig, aber Mutter hielt mich straff an der Hand. Dann hielt Onkel Ion Ausschau nach einer Bank, auf die wir uns setzen könnten, aber sie waren alle schon besetzt, vor allem wenn es dunkel wurde.
Nach dem Abendessen schluckte Tante Ştefi ihre Pillen, die sie in Schachteln neben dem Teller aufgereiht hatte. Ich stand vor ihr und tat, als würde ich schlucken, trank Wasser und lachte dabei.
»Dieses Kind ist sehr ermüdend mit seinem Geplapper«, hörte ich sie zum Onkel sagen, und er antwortete verlegen: »Ein Kind halt.« Ängstlich blickte er in Richtung Vorzimmer.
Zu der Zeit wohnten Mutter und ich dort.
Abends redete Tante Ştefi allerdings nicht besonders viel, selbst ihre Stimme klang anders. Später sollte ich dann begreifen, wieso, als mir der Becher einfiel, in den sie sehr weiß glänzende Zähne legte, um ihn dann im Nachtschränkchen verschwinden zu lassen.
*
Eines Tages, als ich aus der Schule kam, sah ich die Nachbarin am Zaun. Durch das offene Fenster kam Mutters Stimme, die irgendwas rief. Die Nachbarin rief zurück: »Zünden Sie die Kerze an, Frau Branea. Zünden Sie sie an, sonst geht sie verloren …« Dann stürzte sie ins Haus und kam gleich darauf mit ein paar dünnen Kerzen zurück, die stellenweise gebrochen waren, so dass man den Docht sah. Im Vorzimmer stand der alte Besitzer, der Vater von Cornelia, mit einem Spaten in der Hand.
»Ich war grad im Garten am Umgraben«, sagte er, wohl nur zu mir, denn sonst hörte ihm niemand zu. Er traute sich nicht weiter hinein, seine Schuhe waren verdreckt, aber er ging auch nicht weg, sondern blieb auf der Schwelle stehen, und wenn jemand eintrat, schlug er mit der Tür gegen seine Schulter.
»Bringt das Kind weg!«, schrie Mutter, als sie mich bemerkte. Ihre Augen waren gerötet und ihr Gesicht angespannt wie dann, wenn sie sagte, sie habe viel zu tun und komme damit nicht mehr zurande. Ich war ein wenig erschrocken, aber der Vater von Cornelia brachte mich in ihren Hof. Den ganzen Nachmittag spielten wir in der Werkstatt, wo Kerzen gegossen wurden, ich drehte an den Spulen mit den Dochten, das Quietschen machte mir Spaß.
»Was gibst du, wenn ich dir etwas sage?«, fragte Fane. Er zog den Rotz hoch und wischte mit dem Ärmel der verwaschenen Trainingsjacke über die weißlichen Krusten um seine Nasenlöcher.
»Halt den Mund!«, rief Cornelia. »Der Herr Professor hat gesagt, wir sollen ihr nichts sagen.«
Doch er rannte über den Hof ganz weit nach hinten und versteckte sich hinter großen Fässern, die heftig nach eingelegtem Kraut und saurem Wein stanken. Er zog den Zapfhahn heraus und steckte ihn wieder hinein, bis er festsaß, dann reckte er den Kopf hinter dem Fass hervor.
»Deine dünne Tante da ist gestorben«, rief er zu mir herüber.
Cornelia schnappte ihn sich, packte ihn an einem Ohr und zog daran, er brüllte und schlug mit Fäusten und angezogenem Knie um sich, um loszukommen. Damals gefiel es mir, dass sie nur von dem redeten, was mir passiert war. Allerdings waren sie weit weg, ich hörte nicht recht, was sie sagten, und wenn ich näher kam, schwiegen sie. Ich kriegte etwas mit vom Leichenwagen und vom Pfarrer, der kommen sollte, nicht der Pfarrer Gogu, ein anderer, sagten sie, von der Kirche unten im Tal, zur Heiligen Jungfrau. Dann tat es mir leid, dass sie nicht weiter darüber redeten, aber die Mutter von Cornelia schickte uns schlafen. Ich schlief mit Cornelia im Bett, und wir kicherten, bis sie uns das Licht ausmachten. An der Wand hing ein Teppich mit knallroten Blumen und quietschgrünen Blättern, der nach Mottenpulver stank. Das Bett war hart, und Cornelia sagte mir, unter uns lägen noch zwei Teppiche, die zu ihrer Aussteuer gehörten. Morgens erwachte ich als Letzte und ging in die Küche. Auf dem Herd, dessen krumme Röhren in ein verrußtes Loch in der Mauer mündeten, rührte ihre Großmutter mit einem Holzlöffel eine Speise für das Totenmahl an. Sie stöhnte vor Hitze und wischte sich mit dem Handrücken die fetten Schweißperlen von der Stirn und von der behaarten Oberlippe. Dann wurde die Speise in Teller gegossen, die ich als unsere erkannte.
»Diese sollen sie hier verteilen, die anderen sollen sie mitnehmen«, sagte die Großmutter und stellte einen Teller beiseite. Sie bestreute die Portionen mit Zucker und Bröseln und legte in Kreuzform bunte Bonbons darauf, die Cornelias Brüder dann insgeheim mit den Fingern herauspickten und in den Mund schoben.
»Gottverdammtes Pack!«, keifte die Alte und drohte ächzend mit dem Sieb, doch die Jungs schossen an ihr vorbei und versteckten sich im Garten.
Nach dem Essen kam Mutter, sie trug schwarze Kleider, die ich nicht kannte, und ein dünnes schwarzes Kopftuch.
»Wie siehst du denn aus!«, sagte sie, schimpfte aber nicht weiter. Sie zog mich zum Brunnen auf dem Hof und wusch mir eilig das Gesicht und die Hände.
Als wir beide durch den Garten gingen, sagte sie, ich solle von Tante Ştefi Abschied nehmen. Bei uns waren noch mehr Leute als Tags zuvor, sie kamen und gingen, einige standen im Hof unter dem Birnbaum herum. Sie unterhielten sich im Flüsterton, und ich wusste nicht, wieso sie alle schwiegen, als ich ins Vorzimmer kam, und mir nachsahen, als ich mit Mutter ins Schlafzimmer ging. Ich spürte, wie sie sich drängelten und die Köpfe über die Schultern der anderen reckten, um mich besser zu sehen.
»Schauen wir mal, was das Kind jetzt macht«, vernahm ich die Stimme einer Frau.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und wagte es nicht, Mutter zu fragen. Ich blieb auf der Schwelle stehen und wackelte mit dem Fuß in der Sandale hin und her. In dem weiß drapierten Sarg lag Tante Ştefi. Aus ihren gelben Nasenlöchern ragten Wattebäusche, auf ihrem plötzlich geschwollenen Bauch lagen die knochigen gelben Hände, und an ihrem kleinen Finger hing an einem roten Faden eine Münze. Ich fragte mich, ob sie aus der Sammlung des Onkels stammte und weshalb man sie wohl hingehängt hatte. Die Luft war ätzend, ich begann mir die Augen zu reiben und dachte, es sei wohl wegen der Blumen, die gehäuft über ihren steifen dünnen Beinen lagen. Die Strümpfe, die man ihr angezogen hatte, warfen Falten und blähten sich. Am Bücherregal des Onkels lehnte ein hölzernes Kreuz, darauf stand in schwarzen Buchstaben INRI ŞTEFANIA SILIŞTEANU.
»Es reicht«, sagte Onkel Ion und kam auf mich zu. »Geh schon, Letiţia …« Und er legte seine Hand auf meinen Scheitel. Ich spürte seine Finger in meinem Haar, wie sie sich bewegten und wieder unschlüssig innehielten. Er trug den guten Anzug und am Ärmel ein breites schwarzes Band. Die Ringe unter den rot geäderten Augen waren tiefbraun, und in seinem zum Zeichen der Trauer sprießenden Bart sah ich jede Menge weißer Stoppeln. »Geh schon, Liebes, geh zur Cornelia spielen …«
Ich spürte seine Lippen auf meiner Stirn und erschrak im Nachhinein, weil er mich Liebes genannt und sich zu mir herabgebeugt hatte, um mich zu küssen. Einmal hat er mich noch geküsst, viel später, als ich nach Bukarest zur Aufnahmeprüfung fuhr, damals erschrak ich nicht mehr, aber ich schämte mich sehr. Die Haut zuckte vor Anspannung über seinen Wangenknochen. Und weil ich mich nicht rührte, schob er mich sanft an den Schultern bis zur Tür. Ich ging durch das überfüllte Vorzimmer, wo alle wieder miteinander redeten und mich gar nicht mehr beachteten. An unserem Hoftor hingen Trauerfahnen, lange schwarze Vorhänge mit Troddeln, bestickt wie Messgewänder. Ich setzte mich mit dem Rücken zu ihnen, um sie nicht sehen zu müssen. Auf den Blättern des Flieders lag Staub, den die auf der Straße vorbeifahrenden LKWs aufwirbelten, und ich begann mit Steinchen zu spielen, die für mich Menschen waren.
Später sagte Onkel Ion, wenn er etwas erzählte, immer wieder: »Dort war ich mit der armen Ştefania«, »Ştefania mochte das nicht«, »Das ging wegen Ştefania nicht« – als wäre es seine Pflicht, uns allen zu zeigen, dass er sie nicht vergessen hatte. Oder um uns zu zwingen, sie nicht zu vergessen. Mit der Zeit legte sich das Zucken seiner Wangen, wenn er von ihr sprach. Dann begann er auch über kuriose Dinge zu reden, die ihnen passiert waren, als sie zusammen waren, und wir lachten gemeinsam. Noch besser erinnerte sich Fräulein Mira an das eine oder andere, sie kam immer öfter zu uns und brachte mir stets eine Schachtel Kirschpralinen mit. Tante Mira war mit Onkel Ion in einem Lehrerkollegium und eine Freundin von Mutter. Das alles aber geschah natürlich viel später, als ich mich kaum noch an Tante Ştefi erinnerte.
*
Etwas Unangenehmes und Peinliches geschah mit meinem Körper. Zuerst dachte ich, ich wäre krank und würde sterben. Ich traute mich nicht, Mutter etwas zu sagen, doch abends im Bett betastete ich meine schmale Brust, die wehtat. Unter der Haut spürte ich seltsame Gewebeplättchen, die mir unter den Fingern wegrutschten, wenn ich drückte. Krumm vor Sorge tastete ich mich überall ab, bis meine Finger unter den mit Kratzern übersäten Armen anlangten. Dort waren ein paar seidige Härchen zu spüren, von denen ich noch nichts gewusst hatte. Jetzt konnte ich einmal im Monat auch mein Blut sehen, ich wusch heimlich mein beflecktes Höschen, ein bisschen tropfte auch noch am zweiten Tag, dann hörte es auf und ich freute mich, dass ich wieder gesund geworden war, von selbst, ohne Arzneimittel. Doch das war ich gar nicht, und als die Mädchen in der Pause zur Sandgrube gingen, um Völkerball zu spielen, blieb ich am Zaun. Wenn ein Arzt oder eine Schwester in die Klasse trat, begannen meine Wangen zu brennen und meine Ohren zu klingen. Ich rang die feuchten Hände unter der Bank, versuchte das Zittern einzustellen, das mich packte, und starrte mit krampfhaft gleichgültigem Blick zum Fenster hinaus, während meine Mundwinkel gegen meinen Willen bebten.
Irgendwann schien auch Mutter etwas zu bemerken, denn als wir zu dritt an den Fluss gingen, gab sie mir einen kleinen Büstenhalter, der mal nach der einen, mal nach der anderen Seite verrutschte. Ich saß am Ufer und wagte mich nicht zu rühren. In der glühenden Sonne schmorten die Schnecken, ihre silbrigen Schleimspuren waren zu einer durchscheinenden Kruste erstarrt, die knisternd zersprang, wenn ich sie berührte. Ich saß trotzend auf dem mit seidig glänzenden Kieseln übersäten Sand, der jedes Frühjahr vom Fluss überspült wurde, und presste die Schenkel fest zusammen.
»Geh doch auch ins Wasser, wieso sitzt du wie eine Glucke hier herum«, rief Onkel Ion. Er hatte sein kriegsversehrtes Bein in der Sonne ausgestreckt, eine bläuliche Narbe zog sich breit bis zum Knie hinauf. Wenn er sich zu sehr anstrengte, sprang sie auf und heilte monatelang nicht zu. Jetzt betrachtete er aufmerksam die Wunde und beugte dabei die käseweißen, fleischigen Schultern mit großen Sommersprossen und Muttermalen. Aus dem einen wuchsen dünne schwarze Haare. Mutter lag mit geschlossenen Augen daneben, den Kopf auf einem Handtuch, kleine Fliegen oder Mücken krabbelten auf ihr herum, ich sah sie nicht, sondern hörte nur das Klatschen ihrer Hand. Der Büstenhalter presste ihre weichen Brüste zusammen, deren Haut am Ansatz leicht verrunzelt war, und im Fleisch der Schenkel zeichneten sich zwei schräge Falten ab.
Vielleicht hatte ich sie noch nie so unbekleidet gesehen, jedenfalls scheute ich mich, hinzuschauen. Der Kopf brummte mir vom Rauschen des Flusses, das Licht und das grauweiße Glitzern des Wassers machten mich schwindlig. Ich hörte die Rufe der Kinder und sah, wie sie herumtollten und sich bespritzten, alle einander ähnlich mit ihren nackten Leibern und bunten Höschen. Nur ich war plötzlich beschämend unähnlich.
»Lass mich in Ruhe!«, rief ich zu Onkel Ion hinüber. »Lass mich in Ruhe …«
Ich verzog mich ins Pappelwäldchen. Der Wind rauschte in den rastlosen harten Blättern, es roch nach Holunderblüten und nach Wasser. Ich kniete an einem dicken Baum mit rauer, weiß verstaubter Borke nieder, kratzte vertrocknete Flechten ab und wollte nichts als nach Hause.
*
»Du brauchst nicht so zu erschrecken«, sagte Mutter zu mir.
Wir waren beide in der Sommerküche, die Gaslampe flackerte, bis hierher hatten sie den elektrischen Strom noch nicht gezogen. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, nur ihre Hände, wie sie flink mit den Töpfen hantierten. Unsere unscharfen Schatten schwankten an den Wänden und knickten an der Decke merkwürdig im rechten Winkel ab.
»Es ist nichts passiert, du bist nur gewachsen und hast deshalb deine Tage etwas früher gekriegt … Von jetzt an musst du besser aufpassen, dich öfter waschen, du bist jetzt kein …«
»Ich will keine Frau werden wie ihr!«, schrie ich, als mir plötzlich aufging, was sie sagen wollte. Ich hasste ihr Fleisch, das ich förmlich sah, wie es unter ihren Röcken herabhing, die schweren Brüste, die dicken Bäuche und die breiten Hüften und den Stift, mit dem sie ihre Lippen anmalten, und das Puder, ohne das sie nicht aus dem Haus gingen, und das ganze Geschwätz über Kinder oder Kochen.
»Ich will keine Frau werden wie ihr!«, schrie ich. Ich bebte vor Ohnmacht und Wut. Ich knallte die Tür und versteckte mich unterm Flieder, um zu weinen, doch Mutter wusste, dass ich dort war, ich konnte nirgendwo sonst sein. Mutter hatte den Hof gesprengt, und die Kühle drang bis zu mir, ebenso das Licht von der Veranda, so dass ich mit Blättern zu spielen begann, die für mich Menschen waren.
Dann rief mich Cornelia an den Zaun, und ich ging mit hinaus, alle Kinder hockten dort auf der Straße und schlugen Steine aneinander, damit Funken stoben, die Mädchen kicherten. Ich neigte mich über das Kanalgitter, durch das ein übler Geruch aufstieg; in der Tiefe hörte man es gurgeln, einige sagten, dort unten sei eine Schlange.
»Ach was, Schlange, pass mal auf, wie tief unten das Wasser ist«, sagte Fane. Er lehnte sich über meine Schultern und warf einen Stein hinab. Es dauerte eine ganze Weile, bis man ein Platschen hörte.
»Letiţia!« Der Stimme nach war Onkel Ion böse, vielleicht hatte er schon mehrmals gerufen, aber ich antwortete auch jetzt nicht, ich hatte keine Lust, schlafen zu gehen. Wir schubsten uns abwechselnd weg, weil jeder den nächsten Stein werfen wollte, da packte mich der Onkel bei der Hand und zerrte mich in den Hof.
»Hast du jetzt schon damit angefangen?«, brüllte er. Sein Gesicht war schwarz vor Wut oder vor Dunkelheit, aber nicht darüber erschrak ich, sondern über die Stimme, mit der er mich anschrie. Und plötzlich fegte der Himmel über die Häuser, blinkten die Sterne auf, ich verstand weder, was er sagte, noch, warum er mich geschlagen hatte, doch ich hasste ihn und weinte am Fuß des Bettes, eine Wange brannte ärger als die andere.
»Ich hätte nicht gedacht, dass dieses Mädel so eine wird«, hörte ich ihn eines Abends sagen. Ich war früher ins Bett gegangen als sonst, und die beiden tuschelten am Tisch. In der Stimme des Onkels lag eine seltsame Bitterkeit und Enttäuschung. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie so hinter den Jungs her ist.«
Ich schrak auf, als hätte er mich wieder geschlagen. Mutter antwortete nicht, und ich schloss daraus, dass sie denselben Eindruck hatte. Ich spannte die Muskeln an, damit sie sich nicht mehr rührten, die Scham stieg mir ins Gesicht, ein unbegreifliches Schuldgefühl, nur die aufgebrachten Wörter blieben mir im Hals stecken, und ich hielt sie wie den keuchenden Atem zurück.
Schläfrig war ich eigentlich immer, ich legte mich ins Bett, konnte aber nicht schlafen, ich lag bloß da, den Kopf ins Kissen gedrückt. Was mir doch für schändliche Gedanken kamen … Mutter und Onkel Ion gingen auf Zehenspitzen herum, wenn sie sahen, dass meine Augen geschlossen waren, sie hatten keine Ahnung, auf derart schamloses Zeug wären sie nie gekommen, und ich fürchtete, ich könnte im Schlaf zu sprechen beginnen, denn ich hatte gelesen, dass derlei vorkommt, wenn man etwas vor anderen verheimlichen will. Ich presste meine kalten Hände an die glühenden Wangen, ein Nachtfalter flatterte um den Lüster, immer schneller, es pochte, wenn seine Flügel an die Glühbirne schlugen, und plötzlich fiel er auf das Kissen neben mir. Eines Nachts träumte ich, dass ich Stufe für Stufe die Schultreppe hinunterging, während mir ein Junge entgegenkam, ich wusste nicht, ob ich ihn kannte, als er jedoch bei mir war, presste er seine Wange an meine. Ich erwachte mit einem nie gekannten Glücksgefühl. Das Licht, das durch die farbigen Butzenscheiben der Eingangstür drang, schimmerte blau und rot, ich versuchte das Glück aus dem Schlaf nicht zu vergessen, doch in der immer wärmeren Sonne ging es mir verloren, Stück für Stück.