Kapitel XIII
Langsam erlosch das Licht des Abends und schimmerte mit warmen Reflexen an den Mauern nach. Ich mochte diese Stunde in der wachen Stadt, das Gewimmel, durch das ich ging, das Quietschen der Autos. Das frostige Rot des Sonnenuntergangs funkelte in den Fenstern, an denen ich vorüberging, und zog mit mir von einer Scheibe zur nächsten. Der Himmel wirkte stählern von dem Frost des nahenden Abends, die dünne Luft war reglos, so reglos, dass ich spürte, wie eine Farbe in die andere überging. Nur das schwarze Gewirr der Äste zeichnete sich deutlich vor dem kalten Himmel ab.
Ich betrat den leeren Eingangsbereich. Irgendwo oben auf der Treppe hallten verspätete Schritte. An dem schwarzen schmiedeeisernen Käfig des Aufzugs hing immer noch das Plakat. Große schiefe Buchstaben in Rot und Grün kündigten den Arbeitskreis dieses Abends an mit dem Vortrag, den Cornel Ungureanu vom vierten Studienjahr halten würde. Die Korridore waren anders, als ich sie von tagsüber kannte, das Knarren der einen oder anderen Tür rundete die Stille ab. So wird es aussehen, wenn ich den Abschluss geschafft habe und irgendwann zufällig wiederkomme, dachte ich, allerdings ohne Überzeugung. Alles erschien mir unwahrscheinlich, diese mit blassgrüner Ölfarbe gestrichene Wand, die verwinkelten Treppen, die von fremden Händen glatt gescheuerten Handläufe der Geländer, das alles kannte ich inzwischen so gut … Irgendwo klirrte Eisen, ich zuckte zusammen und drehte mich um. Die Putzfrau hatte den Spüleimer vor das Klo geknallt, dann hörte ich, wie der Besen über den feuchten Betonfußboden strich.
Vor der Tür des Amphitheaters blieb ich stehen. Von drinnen kamen unbekannte Stimmen und Gelächter. Ich zögerte und überdachte die Bewegungen, mit denen ich eintreten würde. Schließlich muss es ja nicht unbedingt heute sein, sagte ich mir, ich komme lieber nächstes Mal. Ich hatte mich schon zum Gehen entschlossen, als ich erst recht die Klinke hinunterdrückte und eintrat.
Ich setzte mich im Mantel hin, das alte Holz ächzte und die hochgeklappten Sitze krachten nacheinander hinunter, dass es nur so hallte im Saal. Als ich aufzublicken wagte, sah ich zwei Jungs, die rauchten und die Beine vom Heizkörper baumeln ließen, zwei oder drei andere standen Schmiere an der Tür wie vor einer Vorlesung, die übrigen Leute drängelten sich in der vorderen Reihe. Man sah, dass sie zu dem Kreis gehörten und sich gut kannten. Von der einen, die etwas erzählte, wobei sie sich ständig mit der schmalen Hand mit langen rotlackierten Fingernägeln durch die Haare fuhr, hatte ich gehört, sie sei mit einem Assistenten verlobt, sie trug einen ausgefransten Pulli und einen kurzen Lederrock. Die hohen Stiefel gingen ihr bis über die Kniescheiben.
»Die hat ihn schlicht plattgemacht, sobald er die Vorlesung abschließt, ist sie auch schon hinter ihm her«, sagte die Gestiefelte und konnte sich nicht einkriegen vor Lachen.
Die Zuhörer begannen ebenfalls zu grinsen.
»Sie hinterlässt auch beim Lehrstuhl Zettel für ihn, abends ruft sie ihn zu Hause an … Vor Angst zieht er meistens den Stecker – der zählt schon die Monate bis zur Prüfung … Er wird sie mit geschlossenen Augen durch die Prüfung bringen, hat sie zu uns gesagt, sie befürchtet nur, dass andere sie durchfallen lassen und sie im Herbst von vorn anfangen muss … Ich habe ihr gesagt, sie muss zusehen, dass er sich auch um alle anderen kümmert …«
»Eigentlich muss hier eine radikale Lösung her, er sollte die Fakultät verlassen«, warf einer der Jungs ein, wobei er in irgendwelchen Papieren blätterte. Als Einziger trug er Anzug und Krawatte, dazu eine goldgerahmte Brille; ich war fast sicher, dies war Cornel Ungureanu, viertes Studienjahr.
Alle lachten sie los, außer ihm. Ich grinste ebenfalls mit schiefem Mund, ließ es aber gleich sein, es sah ja eh keiner her.
»Er kooommt«, riefen die von der Tür und schlenderten zu den vorderen Bänken, während ich erleichtert aufatmete.
Das kommt mir bekannt vor, dachte ich mir, bloß woher? Sie hatten sich wie ein Präsidium am Katheder versammelt, in der Mitte Petru Arcan. Ein schmächtiger Junge mit wirrem Haarschopf, fast unmerklich wankte er und stützte sich mit den Handflächen auf dem Katheder auf.
»Ich erteile Genossen Cornel Ungureanu das Wort, er liest über …«
Es sieht aus wie eine gewöhnliche Sitzung, sagte ich mir und war plötzlich enttäuscht von der Erkenntnis. Gibt es denn nirgends einen Ort, wo die Dinge anders laufen als in einer Sitzung? Dafür beschwor der Text von Cornel Ungureanu aus dem vierten Studienjahr eine andere Welt herauf. Ich lauschte mit krampfhaft hochgezogenen Brauen, dann und wann stolperte ich über sonore Wörter, die ich selbst nie verwendete. Ich werde sie lernen müssen, dachte ich, ich werde sie in ein Heftchen schreiben, wenn ich Zeitschriftenartikel lese, aber zuerst werde ich diejenigen vergessen müssen, an die ich mich in der Schule gewöhnt habe. Doch je aufmerksamer ich zuhörte, desto weniger begriff ich, mein wirrer Kopf ging unter in dem Schwall von Namen und Titeln, von denen ich bis dahin nichts gehört hatte. Nein, sagte ich mir verängstigt und begeistert und rang die feuchten Hände unter der Bank, niemals werde ich so weit kommen, dass ich von dort, von dem Tisch auf dem Podium, dergleichen vorlesen kann, niemals … Von meiner Unwissenheit umnebelt, verschwammen meine Gedanken, während ich verstohlen in den Saal schielte. Sie, die anderen, die wussten und verstanden zweifellos alles, deshalb steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten sich etwas zu oder gähnten oder sahen auf die Uhr oder zum Fenster hinaus.
»Meldet euch bitte zu Wort – vorerst aber, wenn ihr Verständnisfragen habt, richtet diese an den Referenten …«
Der schmächtige Junge setzte sich wieder, stützte seine Stirn in die Handfläche und legte seinen Füller neben das leere Blatt. Sofort senkte ich die Augen, für einen Moment hatte ich geglaubt, er habe mich angesehen. Von meiner ganzen Begeisterung war nur noch die Furcht übrig. Wenn das alles doch nur zu Ende wäre, sagte ich mir, bevor die merken, dass ich nicht in der Lage bin, auch nur ein Wort über die Arbeit zu sagen.
Es war sonnenklar, unter diesen hier war ich ein Eindringling.
*
»Na, wie war’s? Hast du auch geredet?«
Ich zuckte die Achseln und begann mich auszuziehen, wobei ich mich fragte, ob es einen Sinn hatte, noch einmal hinzugehen.
Angeödet drehte ich mich mit dem Gesicht zur Wand und begann am Putz zu kratzen, bis der Kalk mir unter den Fingernägeln brannte. Dieser Abend war wie alle anderen, im Vergleich zu dem Zimmer der fortgeschrittenen Semester hatte sich nichts geändert, jetzt waren wir genau wie die. Eigentlich sehe ich ja auch gar keine Möglichkeit, anders zu sein, dachte ich mir und kniff die Lider zusammen vor so viel Licht.
Die Mädels lachten dermaßen laut, dass nebenan jemand an den Heizkörper klopfte.
Marilena griff sich eine Sandale vom Boden und schmiss sie statt einer Antwort an die Wand, dabei fiel ihr Blick auf Didi, die sich vor dem Fenster mit hochgezogenen Rollläden auszog.
»Menschenskind, Mädel, der ganze Boulevard schaut dir zu, wie du dein Geschirr abmachst …«
»Na und, ist das etwa deine Sache?«, entgegnete die andere mit plötzlich verändertem Gesichtsausdruck und warf den Büstenhalter wütend aufs Bett.
Sie fingen wieder damit an, und ich wusste, es würde dauern. Ich gähnte und vergrub mein Gesicht ins Kissen, ich hatte es satt. Wie wohl das Zimmer aussah, in dem Petru Arcan wohnte? Ich dachte an all die Fenster, in die ich hineinsah, wenn ich abends mit Mihai spazieren ging, an die bücherstrotzenden Regale, die bis zur Decke reichten, und manch einen silbernen Kerzenleuchter, der im rötlichen Licht der Nachttischlampe glänzte. Ich war sicher, dass er in ein solches Haus gehörte. Mir aber, mir würde nie etwas Besonderes gelingen, nicht einmal eine Arbeit für den Arbeitskreis … Im Einschlafen vermengten sich die Worte, verzogen sich die Gesichter und versanken in etwas Anderem. Ich schlafe ein, spürte ich verwirrt, während alles floss und ich mit.
*
»Wer von euch ist Letiţia Branea?«
Etwas Schlimmes war im Gange. Ich murrte und zog mir die stachlige blaue Decke wieder über den Kopf, aber das Licht hatte das Dunkel aus meinen Augen verscheucht. Ich zwang mich, sie zu öffnen, dann hörte ich wieder den Satz, der vorhin in meinen Schlaf gedrungen war.
»Wer von euch ist Letiţia Branea? Da hat jemand angerufen, sie soll sofort nach Hause fahren …«
Verstört richtete ich mich auf. Auf der Türschwelle stand der Pförtner. Ich begegnete seinem unsicheren Blick.
»Da ist jemand schwer krank – ein Onkel … Ich habe nicht alles verstanden …«
Vor lauter Schweigen hörte ich meine Kleider rascheln, während ich mich anzog, die Mädchen hatten die Köpfe über den Kissen aufgerichtet. Die Luft, durch die ich ging, war eine andere als die ihre, das Zimmer schien mir in Watte gepackt, und mein Blut sirrte vor Angst. Wer war das bloß, die sich da hastig bewegte, die Sachen packte und das Geld für die Reise abzählte? Ich verharrte weiter unter ihren erleichterten und mitleidigen Blicken, hob dann mein verändertes Gesicht und schlüpfte schlafwandlerisch in die mir zugedachte Rolle mit der Ahnung oder dem Anfang eines Schmerzes, dem ich beim Wachsen zuschaute und den zu tragen ich bereit war, so wie ich es gelesen und im Kino gesehen hatte.
Ich trat hinaus auf den öden Boulevard. Meine Schritte auf dem Pflaster hallten weithin. Nur die Ampeln und die Blinker der Autos leuchteten als grüne und rote Flecken auf. Wenn sie zur Post gegangen sind, um anzurufen, dann ist noch nichts passiert, sagte ich mir. Für den Augenblick überzeugte mich der Gedanke, gleich darauf aber führte ich die Hand zum Mund und biss ungeduldig auf meine Fingerkuppen. Die allzu frühe Stunde des schwarzen Morgens stieg kalt in mir auf, ich kannte sie schon lange, diese Stunde, ihren feuchten, frostigen Geruch. An einem solchen Morgen hatte mich Mutter, schluchzend vor Müdigkeit und Kälte, zu Onkel Ion gebracht, nachdem bei uns eine Haussuchung durchgeführt worden war. Es war die Stunde der erwachsenen Leute, die früh aufbrechen, weil sie es weit haben bis zur Arbeit, auch jetzt sah ich sie fröstelnd mit hochgeschlagenen Kragen und ausdruckslosen Gesichtern, in denen noch der Schlaf lag. Mir schien, als wäre ich seither gar nicht mehr gewachsen, ich fürchtete mich noch immer vor der Dunkelheit, durch die ich tappte. Im weißen Licht der Straßenlaternen bildete das Astwerk mit den gleißenden Wassertropfen konzentrische Kreise. Ich eilte zwischen den morgendlich vereinzelten Menschen hindurch, wie damals hatte ich Angst vor ihrem wirklichen Leben, das sie jede Nacht von neuem begannen. Begann etwas auch für mich? Weiter konnte ich nicht denken, ich ging an ihnen vorbei, und auch sie wussten nicht, dass über meinem Kopf das Zeichen des Unerhörten schwebte, das mich in der kalten Luft schaudern ließ.
In dem leeren Gang des Eisenbahnwagens stand nur der Schaffner mit seiner in Hüfthöhe hängenden Tasche vor der Klotür. Durchgeschüttelt von dem schlingernden Zug, trat ich ins Abteil zurück. Auf dem Platz neben mir wimmerte ein wachgerütteltes Kind, die Mutter drückte seinen hochschnellenden Kopf immer wieder zurück ins Kissen. Im rötlichen Licht der Deckenlampe ächzten zwei Pendler mit schmutziggrauen wattierten Arbeitsjacken im Schlaf und scharrten ab und zu mit den schweren, dreckverkrusteten Stiefeln. Die Luft war stickig heiß und stank nach altem Schweiß und Zwiebeln. Kam daher der Brechreiz? Ich stakste über ihre gereckten Beine ans Fenster und lüftete eine Ecke des ausgefransten schmutzigbraunen Vorhangs. Hinter der beschlagenen Scheibe entspann sich grau der erste Morgen, vor dem ich Angst hatte. Jetzt ist es noch gut, noch ist es gut, solange ich nichts weiß, sagte ich mir und schlug die Hände vors Gesicht. Ich hätte mir gewünscht, dass diese Reise ewig dauerte, aber ich stand wieder auf und ging auf dem öden Gang auf und ab und zählte die verbleibenden Haltestellen an den verkrampften Fingern ab.
Der Bahnhof dröhnte mir mit seinem Lärm unterdrückter Stimmen und pfeifender oder zischender Züge in den Ohren. Als wäre ich nie von hier weggefahren, stieg ich wieder die hohen Stufen hinab, wie ich sie zwei Wochen zuvor hinabgestiegen war. Auf dem schmierigen Boden Kippen, Papierschnipsel und Fahrkarten. Es stank nach billigen Zigaretten und nach Kälte, im scharfen Neonlicht hatten die übernächtigten Männer fettig glänzende Kanten in den bartverschatteten Gesichtern. Doch da stand niemand an dem niedrigen eisernen Zaun, allein ging ich durch die Luft, die bläulich den Morgen ankündigte. Ein blutrotes, von Wolken durchsetztes Band hing über den neuen Blocks, auf die ich zueilte. Zum ersten Mal würde ich eine Wohnung betreten, die jetzt ausschließlich unsere war, denn in der Zwischenzeit waren auch die Mitbewohner ausgezogen. Betreten würde ich sie, aber was würde ich vorfinden? Fast rannte ich die öde Straße entlang. Das blutrote Band wurde immer breiter, während ich rannte, noch wusste ich nichts von der Angst und wusste auch nicht, ob ich welche hatte.
Von unten sah ich, dass unser Fenster beleuchtet war, ein unerwartetes Licht an diesem Morgen, der grau und kühl über den Häusern hing. Das warme gelbe Licht beruhigte mich sofort. Wenn Licht brennt, ist nichts passiert, sagte ich mir, nahm je zwei oder drei Stufen auf einmal, und die Stille des Blocks hallte in mir nach. In den Augen trug ich das beruhigende gelbe Licht, das ich von unten gesehen hatte, trug es so bis vor die Tür, in deren Schloss ich den Schlüssel steckte, und bis auf die Schwelle, dann erst schrie ich. Ich schrie und hielt auch gleich inne, als ich mich schreien gehört hatte, und vergrub mein Gesicht in den Händen.
»Nein …«, hatte ich geschrien. »Das kann nicht sein!«
Denn es konnte nicht sein, er konnte nicht auf unserem Esszimmertisch liegen, ausgestreckt am falschen Ort, starr und reglos, aber dennoch er, nein, er konnte nicht dort liegen wie ein Toter … Nach jedem Schrei, den ich von mir vernahm, erwartete ich, dass alles vorbei wäre, er aber blieb an diesem unpassenden Ort auf dem Tisch, den man ausgezogen hatte wie für Gäste.
»Schau«, rief Mutter und stürmte mir entgegen, als hätte sie nur auf mein Kommen gewartet, »ich war die Letzte, die ihm noch sagen konnte, dass es nicht wahr ist. Schau«, schrie sie und streckte die Hände, die nicht verstehen wollten, nach dem Tisch aus.
Ihr Gesicht erkannte ich auch nicht wieder, das Gesicht jenes Kindes, das sie gewesen war und das ich nicht kennen konnte, hatte sich über die Falten unter den offenen Haarsträhnen gelegt.
Ich stand neben ihm, ungläubig und verständnislos, der gute Schulanzug breitete sich weich über den starren Körper. Ich wusste, dass das kein Toter war, dass er es war, deshalb neigte ich mich, um seine kalte Stirn und das weiche Fleisch seiner Wangen mit den vom Tod geweiteten Poren zu berühren. Nur die auf der Brust abgelegten Hände mit den großen grauen Haarbüscheln und die Fingernägel wurden von Stunde zu Stunde blauer, auch das Gesicht wirkte ermüdet von der Reglosigkeit. Das Fenster schimmerte von der gnadenlos weißen Sonne oder vielleicht von den Tränen, und seine Schülerinnen kamen eine nach der anderen, blieben auf der Schwelle stehen oder traten näher und bekreuzigten sich.
»Die Mädchen haben dir Blumen gebracht, Ion«, rief Mutter und schluchzte dermaßen auf, dass man sie nach nebenan geleitete.
Sie traten näher, um ihn besser zu sehen, und mich packte das Mitleid vor der peinlichen Ohnmacht des Toten, der er jetzt blieb mit einem Lächeln, das immer schmaler wurde in dem scharfen Geruch der Freesien und der brennenden Kerzen. Was sucht ihr bei uns, verschwindet, wollte ich ihnen sagen und ihnen das Zimmer aus den Augen reißen, in dem doch unsere Gewohnheiten zu Hause waren, in dem seine ruhigen, all die Jahre eingeübten Bewegungen sich unsichtbar zwischen die Dinge gelegt hatten. Aber sein anderes Leben, das ich nicht gekannt und nie kennenzulernen versucht hatte, das blieb für immer das ihre, erst jetzt ging mir das auf. Ich erinnerte mich an das eine Mal, als er mich in seinen Unterricht mitgenommen hatte, ich saß in der letzten Bank. Er ging durch die Reihen und lachte irgendwie anders, als ich es von daheim kannte. Er hatte nicht den schleppenden, gebeugten Gang, und der einen oder anderen wandte er sich mit einer Vertraulichkeit zu, von der ich geglaubt hatte, er hätte sie nur für mich übrig. Ohne zu wissen, weshalb, hatte ich ihn damals verärgert und vorwurfsvoll beobachtet und darauf gewartet, dass es läutete, und dann darauf, dass die alle, die sich da um sein Katheder geschart hatten, verschwanden. Als er endlich zum Kleiderhaken ging, um seinen Mantel zu holen, stand auch ich auf und warf denen einen triumphierenden Blick über die Schulter zu.
Jetzt aber blieb er da liegen, ohnmächtig und fremd, zwischen mir und ihnen. Sanft erschlaffte sein Lächeln in der Wärme der Sonne und des siedenden Heizkörpers. Die abgeblendeten Spiegel lauerten unter Handtüchern, und die Möbel drängten sich wie vor einem weiteren Umzug. Vielleicht ist es nur das, sagte ich mir, schloss die Augen und wartete, dass jemand, der dafür sorgte, dass mir nichts passiert, die Zeit umkehrte, er aber vergrub sich weiter unter erschlaffenden Freesien und Hyazinthen, und rundum tropfte unablässig das Wachs.
»Ihr müsst ihn mit Formalin behandeln«, flüsterte mir jemand zu.
Im Nebenzimmer erzählte Mutter schluchzend von neuem, wie es gewesen war, wie sie in die Küche gegangen war, um die Flamme unter der Teekanne abzudrehen, und wie sie ihn, als sie zurückkam, röchelnd vorgefunden hatte. Er war über dem Tisch mit den Klassenarbeiten zusammengesunken, die er korrigierte, um sie am nächsten Morgen zu verteilen. Hier hielt sie regelmäßig inne: »Wieso habe ich nichts gemerkt«, stieß sie hervor, »wieso habe ich nichts gemerkt …«
Sie erzählte es immer gleich, es kamen immer wieder dieselben Worte, als suchte sie jedes Mal nach etwas, das sie übersehen hatte. Sie gelangte wieder dorthin, wo sie innehielt, denn hier wurde das Ganze endgültig, und dann begann sie zu weinen, ein hässlich schluchzendes Kinderweinen, das ihr Gesicht verzerrte.
»Ihr müsst ihn mit Formalin behandeln, das geht so nicht mehr«, wiederholte jemand an meinem Ohr.
Ich wollte es nicht wahrhaben, nickte aber bereitwillig, unterdrückte meinen Weinkrampf und wischte im Gehen die farblose Flüssigkeit ab, die zwischen seinen immer schmaleren Lippen hervorzutreten begann.
*
War ich in diesen Tagen zum Schlafen gekommen? Ich wusste es nicht mehr. Meine Schultern bebten wie von Schüttelfrost. Ich war ständig auf dem Sprung, wegen der Sterbeurkunde, dann, um einen zu suchen, der ihn mit Formalin behandelte, schließlich auf dem Friedhof, um einen Platz für ihn auszusuchen. Die Luft auf der Straße roch feucht, an den Zäunen lagen noch schmutzige Schneereste mit rissiger schwarzer Kruste, über allem aber lag eine dünne Schicht Staub, der zu Morast geworden war. In den langen Pfützen leuchtete etwas Blaues. Verstört sah ich nach oben, ja, der weiße Himmel hatte Risse bekommen, der seit fast einem Monat ständig weiße Himmel riss auf und ließ das Blau hervorblitzen. Die Tür zu unserer Wohnung stand sperrangelweit offen, Leute, die ich kaum kannte, traten ein und gingen wieder, die Hüte in der Hand. Zwei Kinder, die in der Nase bohrten, lugten von der Schwelle aus in unser Esszimmer. An der Bibliothek des Onkels vor den zerfledderten Buchrücken und gestapelten Aktenordnern lehnte ein neues Holzkreuz. Hier stand sein Name, der auf keinem der Bücher zu lesen war, feierlich und fremd: INRI ION SILIŞTEANU. Die warme Luft roch stechend nach Formalin und Freesien. An den Tischbeinen raschelten die Papierbänder der Kränze.
»Passt auf, dass die nicht Feuer fangen, Gott bewahre«, sagte jemand und zog sie von den gekrümmt brennenden Kerzen weg.
Ich saß neben ihm und verdeckte dann und wann mein tränenüberströmtes Gesicht mit den Händen. Ich wusste sehr wohl, wie jede Geste meines Schmerzes bei denen ankam, die eintraten und gingen, es war, als freute sich mein Schmerz, dass er von so vielen Zeugen umgeben war. Dennoch konnte ich ihn nicht so den Blicken der anderen preisgeben, die ihn mitschleppten und zur Erinnerung machten, so dass die Jahre des endgültigen Alters zu einem einzigen Tag zusammenschnurrten. Seine Ohren waren von einem durchsichtigen wächsernen Weiß, das Fleisch des Gesichts hing herab, grau von dem Bart, der weiter wuchs. Zwischen den nunmehr ohne jedes Lächeln verkniffenen Lippen rann weiter jene eisige Flüssigkeit hervor, die weichen Kleider verhüllten seine fremde Starre. Immer weiter entfernte auch ich mich, da ich den steifen, nach Formalin und nach Freesien und nach Wachs riechenden Schlaf in mir spürte. Den Schlaf, den auch ich in mir trug, der noch alles sah, aus dem heraus er mit meinen Augen – sie glaubten noch nicht an seinen Tod – jenseits seiner seidig braunen geschlossenen Lider alles wahrnahm, was mit ihm geschah, ein letztes Mal. Wie sie ihn, der so schwer herabhing, anhoben und zwischen den senkrechten, mit billiger Leinwand ausgeschlagenen Bretterwänden betteten, ein kleines Kissen unter dem Kopf, wie sie die Blumen zur Seite schafften, damit sie nicht Schaden nahmen, und wie sie ihn langsam und vorsichtig hinuntertrugen, wobei sie sich unsicheren Fußes Stufe um Stufe hinabtasteten. Wie im Treppenhaus, Etage für Etage, die Türen aufgingen und hinter uns wieder ins Schloss fielen, wie der Motor des LKWs brummte, den die Schule gestellt hatte und der mit heruntergelassenen, feierlich drapierten Seitenwänden neben der Kinderrutsche hielt. Wie sie ihn unter Ächzen und Stöhnen hinaufhievten und das Kreuz an die Rückseite der Fahrerkabine lehnten.
»Wie ist das alles nur so schnell vergangen?«, raunte Mutter und wandte mir ihr vom Weinen verwüstetes Gesicht zu.
Der Morast war noch klebriger geworden und reichte jetzt bis zur halben Höhe unserer Schuhe.
»Die Zeit … ich weiß nicht … so schnell ist sie vergangen … das Leben«, murmelte sie, als wollte sie mich fragen.
Plötzlich waren ihre Augen wach. Jetzt erst, in der vorderen Reihe des Trauerzugs, begriff sie endgültig, wenn auch nur für kurze Zeit, jetzt erst hatte sie ihr Leben und all unsere gemeinsam verbrachten Jahre im Blick. Das Licht der Erkenntnis erlosch genau so schnell unter ihren Tränen, die von neuem zu fließen begannen. So schnell, wie konnte sie nur, fragte ich mich und nahm hilflos ihren Arm.
Von einem Erdhügel redete der Direktor, den kahlen Schädel dem Nieselregen ausgesetzt. Kleine Tropfen rannen über seine Wangen, vielleicht waren es auch Tränen, ich wusste es nicht. Die stockende Rede würde der Onkel nur noch durch mich hören und dabei versuchen, sich in den feierlichen Worten wiederzuerkennen, in der lehmigen Grube wimmelten die Würmer mit zuckenden bläulichen Schwänzen. Er würde wissen, wie sie die Kränze mit wehenden regengetränkten Trauerbändern in die armselige Weide neben dem Kreuz hängten, und würde noch hören, wie die Erde weich auf den hölzernen Sargdeckel klatschte. Von hier oben würde er auch die Stadt sehen, die zwischen den Hügeln lag, wie er sie immer gesehen hatte, den schwarzen Fleck des kahlen Crâng und den grell gestrichenen Glockenturm unserer Kirche und in dem Neubauviertel die Fenster der Wohnung im dritten Stock, wo er gerade mal einen Monat gelebt hatte.
*
Eine Zeitlang roch die Wohnung immer noch nach Tod. Er war durch sie hindurchgegangen und hatte Stille hinterlassen – und sein leeres Schlafsofa und das Öllämpchen, das Nacht für Nacht brannte. Der Geruch von vielen Blumen, Kerzen und Weihrauch und die Spuren süßlichen Parfüms waberten in den Zimmern, in denen unsere Schritte fremdartig hallten. Darum nahmen wir uns in Acht vor unseren Stimmen, redeten im Flüsterton und aßen verschämt und hastig an einer Ecke des Tisches. Nach den Tagen mit viel Gerenne und vielen Leuten wuchs eine stumpfe Stille, nur wir beide waren hier geblieben, der Tod war unser. Es regnete jeden Tag, die an den Fenstern herunterrinnenden Tropfen waren uns verhasst, jenseits davon begann ein anderer Frühling, den er nicht mehr sehen würde. Nichts von dem, was von nun an mit mir geschah, würde er wissen, mein Leben blieb wie das seine im Tod stecken. Jetzt erst begriff ich, wie sehr ich, wenn ich mich durchs Leben bewegte, auf seine Beachtung angewiesen war. Und mir fiel all das ein, was zu fragen ich immer aufgeschoben oder nicht einmal überlegt hatte. Das Wasser rann immer weiter, schlug mit kalten Tropfen gegen die Scheiben, und im Innenhof hörte man die Regenrohre gluckern. Wenn wir wüssten, dass er irgendwo in der Stadt ist, würden wir ihm eilends den alten schwarzen Regenschirm mit den verbogenen Stäben bringen. Oh, wie hatten wir ihn nur so aufgeben können, seinen vertrauten Körper, der plötzlich keinen Wert mehr hatte?
*
Ich hätte zurückfahren müssen, schob es aber jeden Abend weiter hinaus, ging mit Mutter zum Friedhof und mied den Korso auf dem Rückweg, zog ihn in die Länge, als erwartete ich, ihm zufällig zu begegnen. In einer Staubwolke räumte die Planierraupe, jedes Mal an einer anderen Stelle, noch vorhandene Mauerreste ab, Leute in Arbeitskluft standen dabei und brüllten herum. Auch ich blieb in der Menge stehen, ich war ihm nicht begegnet und konnte mir nicht erklären, wo er jetzt sein mochte. Dann hasste ich die Straßen und die Häuser, die übrig geblieben waren, und die Gerüste, die immer höher gezogen wurden. Ich hasste sie so, wie Mutter die Dinge hasste, die sie so viele Jahre verwahrt und abgewischt hatte und die sie jetzt verbittert weggab, weil sie es nicht verwinden konnte, dass diese ein längeres Leben hatten als der Onkel. Und wieder irrte ich durch bevölkerte und menschenleere Straßen, nein, ich hatte nicht gewusst, dass eine ganze Stadt nur von zwei oder drei Menschen bewohnt ist.
Nachts sah ich in dem ungewissen Dunkel seine in der Bibliothek aufgereihten Ordner. Mir wurde bewusst, dass ihm nichts gelungen war, und ich erstickte den Schrei im Kissen, wenn das Mitgefühl mich überkam. Ich hatte ihn noch so gut vor Augen, wie er bedächtig Stufe um Stufe in den Hof hinunterging, die Umschläge mit den Exzerpten in der einen und den dampfenden Kaffeetopf in der anderen Hand, ich wusste noch genau, wie er sich schwerfällig bückte, um die Schnürsenkel zu binden, und wie er seinen guten Anzug bürstete, bevor er in die Schule ging, ich wusste, wie er mir über die Schulter sah, wenn ich las, und wie er die Weinflasche zwischen den Knien hielt, wenn er sie entkorkte, und mich fragte:
»Was gibt’s noch auf der Fakultät?«
Sein Leid aber, das ich jetzt erst ahnte, wo war das gewesen?
*
Ich war zurück in Bukarest, morgens ging ich zu den Vorlesungen oder in die Bibliothek, und mittags kam ich aus der Kantine.
»Mein Onkel«, antwortete ich frostig, wenn sie mich fragten, sobald sie das schwarze Kostüm sahen, das Mutter mir aus seinem Hochzeitsanzug geschneidert hatte.
Nein, ich nahm sie ihnen nicht ab, die Verlegenheit, die nur einen Augenblick anhielt, er hatte mir den Schmerz geschenkt, und mit ihm ging ich durch die Frühlingsluft, die mir weich über das Gesicht fächelte. In den knospenden grauen Zweigen turtelten die Tauben, und an den Rändern der blanken Gehsteige sprossen spitze Grashalme zwischen gelblichen Straßenbahnbilletts und schmutzigem Schokoladenpapier. Eine Straßenfegerin spießte die Papiere mit einem Draht sorgfältig wie für einen Bratspieß auf, in dem über Trainingsanzug und wattierte Arbeitsjacke gestreiften Kittel wirkte sie seltsam luftig angezogen. Sie alle gingen eilig an mir vorüber, stellten sich vor den Geschäften in Schlangen an oder standen einander gegenüber an den Tischen, auf denen die Spuren abgeräumter Becher blass schimmerten. Die ersten Straßenhändler, die traditionelle bunte Anstecker anboten, die man als »Märzchen« an Frauen verschenkte, sprachen, vor Kälte trampelnd und die Hände reibend, die Passanten an, aber die ließen sich Zeit bis zum Andrang der nächsten Tage. Auch ich ging mitten unter ihnen, ohne zu wissen, wohin, unter dem kalten Abendhimmel, und in meinem Kopf nur die paar Worte, PFLICHT, SELBSTLOSIGKEIT, EHRE, ANSTAND, auf die ich immer wieder zurückkam, voller Misstrauen und Ressentiments, weil sie mir sein versäumtes Leben vor Augen führten. Ich empfand sie wie künstliche, trügerisch bunte Ballons, die im dünnen Abendnebel schwebten, es war unmöglich, sie denen näherzubringen, die da herumwuselten, selbst mir waren sie fremd.
Nur ihn versuchte ich jetzt heranzuholen, und in Gedanken umkreiste ich ihn, versuchte ihn festzulegen und war dabei vielleicht ungerecht. Ich wollte ihn für immer so sehen, wie er sich an seine eigenen Gebote hielt und wie er zögerte zwischen dem Kompromiss und der Abneigung oder der Bequemlichkeit, ihn einzugehen. Doch mit jedem meiner Schritte zurück veränderte ich meine Vorstellung von ihm, und ich spürte, wie er mir dabei abhandenkam und zur abstrakten Idee wurde. Was immer ich mir sagte, ich sagte es ihm, verspätet und vergeblich, seine ohnmächtigen Zweifel erkannte ich als die meinen, etwas an ihm war in mir und würde es weiterhin sein. Er war nur gestorben, damit ich all das verstand, was ich bisher, da ich das Böse nicht mehr vom Guten zu scheiden vermochte, lediglich erahnen konnte. Ich hatte seinen Tod gebraucht, damit alles anders wurde, durch das Mitleid, das mich überkam, wurde mir bewusst, dass ich etwas anderes versuchen würde als das, was er gemacht hatte, nur wusste ich nicht, was das war, und ich ging die Straße entlang, den Blick zu Boden gesenkt. Aber das Warten auf ihn jenseits der Zeit führte nirgends hin als auf den entlegenen, vom Regen ausgewaschenen Pfad, wo sein Name auf einem wasserüberströmten Holzkreuz zu verbleichen begann. Nein, kein Preis schien mir zu hoch, um etwas zu machen, ich würde alles versuchen, was er nicht versucht hatte, alles, wovon er mich abgehalten hatte, ohne es mir zu sagen. Ich erinnerte mich noch, wie er mich ansah mit vor verhaltenem Ärger ergrautem Gesicht, und mir wurde angst vor der Unerbittlichkeit meines Blicks, in dem er gebannt bleiben würde, aber auch das zählte nicht mehr, denn jetzt lebte nur noch ich.
*
»Eine Zeitlang habe ich dich absichtlich nicht mehr aufgesucht«, sagte Barbu und zog den Plastikstuhl mit dem schweren Eisengestell näher heran. »Ich wusste aber alles, was du machst, in dieser Zeit …«
Er raschelte mit dem billigen Papier der Zigarettenpackung Marke Carpaţi ohne Filter. Seine Augen verharrten auf meinem Gesicht, wenn ich wegsah, und glitten zur Seite, wenn ich ihn ansah. Er war also nicht in die Bibliothek gekommen, hatte nicht meinen leeren Stuhl betrachtet und wusste auch gar nichts von der Woche nach den Ferien, als ich jedes Mal, wenn die Tür aufging, zusammengezuckt war und aufgesehen hatte. All das erschien mir jetzt so lange her …
Ohne ihm zu antworten, streckte ich die Hand nach der Zigarettenpackung aus. Sein verständnisvoll fürsorglicher Blick irritierte mich genauso wie die Bestimmtheit seiner Worte, ich wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Doch ich blieb schweigend sitzen und schlürfte von dem kalten Kaffee.
»Lassen wir die dumme Geschichte von damals, machen wir es, wie du willst«, sagte er.
Schräg lehnte er an der Wand des Eingangsbereichs.
Mir war es egal, ob er nie mehr zurückkehren oder mich morgen genauso erwarten würde mit seinem wässrig weichen Blick, den ich nur zu gut kannte. Das breite Trauerband hatte sich gelöst und rutschte zu meinem Ellbogen hinunter, ich zog es wieder hoch und sah hinüber zu den Paaren, die auf der dunklen Allee schäkerten. Alles hier stand im Zeichen von Onkel Ions Tod, das ich in mir trug. Wäre es nicht so gewesen, hätte ich nicht die feuchte Hand nach Barbu ausgestreckt, die ihn suchte, obwohl es ihm gleichgültig war.
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Die Dinge, zu denen ich zurückkehrte, waren undefinierbar fremd geworden, anders, als ich geglaubt hatte. Die Gestalt von Barbu an der Straßenkreuzung, wo er auf mich wartete, erschien mir knabenhaft, wenn er sein Gesicht vor Verlegenheit verzog. Ich verharrte in dieser seltsamen Gleichgültigkeit, die Augen starr auf meinen Schmerz gerichtet, den ich so gut kannte, dass ich ihn gar nicht mehr spürte. Dadurch gewann ich zum ersten Mal die Oberhand und ahnte zugleich: Für mich gab es keinen Weg zurück zu ihm. Er küsste mich schnaufend, mit einem verschleierten Glanz in den Augen, den er früher nicht gehabt hatte und in dem ich manchmal zu Unrecht die Tränen vermutete, die ich selbst unter den Lidern trug. Nie war er mir ferner gewesen als jetzt, da ein merkwürdiges Mitleid mit allem und jedem meine Hände dazu zwang, ihm durch das fettige Haar zu fahren.
Ich trat mit vor Schlaflosigkeit brennenden Augen näher an das Fenster, durch das ein neuer Morgen hereinschien. Unten sprossen ungeheuerlich die Blätter des Frühjahrs, noch nie hatte ich gespürt, wie die Knospen unter dem schmerzlichen Druck der Säfte aufsprangen. Klebrig schrumplige Blättchen erschauerten lautlos, darunter dampfte der warme Asphalt, muntere Spatzenschwärme zirpten wie dünner Regen. Die Bäume erschienen mir grün verschleiert, es roch nach Flieder. Wann ist der denn aufgeblüht?, fragte ich mich. Ich wusste es nicht, Barbus Augen waren jetzt genauso grün, und ich gewahrte seinen sehnigen jungen Körper neben mir. Ich bewegte mich unter einer Glocke des Schweigens, und in nächster Nähe brodelte und wuchs unsichtbar eine neue, eine andere Welt …
Immer seltener gelang es mir, Onkel Ion wiederzufinden. Mein störrischer Kinderblick hatte ihn verloren, und wenn ich ihn jetzt heraufbeschwor, zersprangen mir ganze Jahre in den Händen und übrig blieben nur Scherben von Worten und Gesten. Die ganze Stadt wuchs über ihn hinweg, stellte ich fest, wenn ich Samstag für Samstag Mutter besuchte. Neue Blocks und eilige Menschen verwischten seinen Gang und seinen Schatten auf den Straßen, und auf den von ihm beschriebenen Seiten gilbte die Sorgfalt weiter vor sich hin. Hartnäckig versuchte ich ihn zurückzuholen, aber jeder Augenblick des Tages trug ihn weiter weg. Immer seltener weinte ich, in den Kissen verkrochen, um ihn und hatte immer weniger, was ich ihn fragen wollte. Es war so gut gewesen mit ihm, manchmal, aber wieso, das wusste ich nicht mehr und hatte vergessen, warum ich ihn suchte.
Nur manchmal tat sich eine traurige Leere auf in der Welt und ich spürte, wie alles, was er gewesen war, darin auf mich wartete. Vielleicht trug ich ihn, den Vergessenen, schon in mir, ohne es zu wissen, und fand in seinem Gesicht immer wieder die Ruhe, an die ich nicht glauben wollte und die ich ihm ohnmächtig gönnte.