Kapitel XXIV
Das leicht gedunsene Gesicht kündete von etlichen überflüssigen Kilos, das altjüngferliche Kostüm war für das Zeitalter des Mini viel zu lang, die Dauerwelle viel zu kraus, das war Nana, als wir uns zu Beginn des ersten Semesters kennenlernten. Sie wirkte damals älter als jetzt, zehn Jahre später, als sie durch mich ihren späteren Mann kennenlernte. Den ersten? Den zweiten? Ich werde es nie erfahren.
Eine Zeitlang noch drehte sie in dem Zimmer, das vom Geruch der vielen Körper, der Niveacreme und der Essensreste erfüllt war, ihre Haare jeden Abend auf Lockenwicklern aus Stoffresten ein, die sie von daheim mitgebracht hatte. Später dann nahm sie stattdessen Papierschnipsel aus alten Vorlesungsheften. Doch wie sehr hatte sie sich in der Zwischenzeit verändert! Sie hatte abgenommen, ihre kürzeren Röcke und hohen Absätze brachten die elegante Linie ihrer Beine zur Geltung, und die stets geschminkten Augen beherrschten das immer kleiner werdende Gesicht.
Nana war für Klatsch und Tratsch kaum zu haben, und wenn man aus dem Zimmer ging, konnte man sicher sein, dass sie nichts Böses über einen sagen würde. Aus Aufrichtigkeit? Biederkeit? Phantasielosigkeit? Scheinheiligkeit? Was sie aber im Zimmer für eine Energie entfalten konnte, um diesen pickligen Milchbubi Silviu, den sie wer weiß wo in der Stadt beim Tee aufgegabelt hatte, gegen unsere Vorwürfe zu verteidigen! Ja sogar seine dünkelhaften Eltern, Dreigroschendiplomaten, denen jemand in ihrer Lage kaum noch die Stange halten konnte: »Nein, Mädels, ich weiß, dass ihr zu mir haltet, aber ihr habt nicht recht, Silvius Eltern sind nicht schuld! Sie haben auf ihre Art recht, für mich ist es zu früh, wenn ich schon im dritten Studienjahr ein Kind krieg! Und Silviu hat gerade erst die Aufnahmeprüfung bestanden! Vielleicht willigen sie später in eine Heirat ein, wenn ich das jetzt erledige …«
»Am Sankt Nimmerleinstag willigen die ein! Mit der Personalakte Nana im Kreuz kriegt die Familie Buje kein Auslandsmandat mehr! Die fliegen in hohem Bogen aus dem Ministerium! Ich will nur hoffen, dass sie sich nicht eingebildet hat, der Weihnachtsmann bringt ihr, wenn sie dieses Balg kriegt, einen Bukarester Personalausweis mit Wohnsitz auf der Strada Argentina an der Ausfallstraße zum Flughafen!«, lästerte Domnica, wenn Nana nicht im Zimmer war.
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Ob die allwissende Domnica recht hatte? Was mochte in der Personalakte von Nanas Eltern stehen? Und warum hatte sie nicht einmal uns gegenüber die Zähne auseinandergekriegt und gesagt, dass sie schwanger war? Sie hatte sich selbst zu helfen versucht, heiß geduscht, Chinin geschluckt und war vom Tisch gesprungen, bis die im Zimmer unter uns sich bei der Verwalterin beklagt hatten. Alles umsonst, ihre Tage kriegte sie nicht, und als sie im dritten Monat war, holte das Dekret sie ein. Die Zeitungen waren voller Beiträge, gezeichnet von Juristen und Doktoren, die nachwiesen, wie gesund und richtig es sei, vier Kinder zur Welt zu bringen, und wieder anderen, in denen verbrecherische Ärzte und Hebammen an den Pranger gestellt wurden, die schon illegaler Abtreibungen überführt und eingesperrt worden waren.
Hatte Nana vielleicht nur deshalb nicht gesagt, wie weit es mit ihr und Silviu gekommen war – wie ja auch ich meine Beziehung zu Petru vor den Mädels verheimlichte –, weil die, wie Marilena sagte, nicht zu uns gehörten? Immerhin ließ der Pförtner Nana eines Morgens rufen, sie sollte vors Wohnheim gehen, da wartete jemand in einem Dienstwagen auf sie.
Wir alle kletterten aufs Fensterbrett, es fehlte nicht viel, und wir wären hinuntergepurzelt, wir stießen uns gegenseitig an, doch die arme Nana eilte schon die Treppen hinunter, sie konnte uns nicht sehen. Wir waren uns alle im Klaren, das da unten musste die Genossin Buje sein, Silvius Mutter, diese Matrone, die in zyklamfarbenen spitzen Schuhen mit hohen, unter ihren prallen Waden sich biegenden Absätzen einem Riesenautomobil mit dem Kennzeichen MAE entstieg. Sie hatte platinblondes Haar, einen etwas zu kurzen Rock, der über ihren Schenkeln spannte, eine blumige Seidenbluse mit vielen Zyklamtönen und Rüschen, die über einem üppigen Busen flatterten. Im vollen Licht der Sonne glitzerte das Gold an ihren Händen und an ihrem Hals herauf bis zu uns, in den vierten Stock.
Obwohl Nana alles ausgeliehen hatte, was es in unserem gemeinsamen Kleiderschrank an ansehnlichen Klamotten gab (Marilenas Übergangsmantel, Domnicas grünes Jerseykostüm und meine hochhackigen Schuhe), sah sie an der Seite der Genossin Buje aus wie eine Dienstmagd, die man mit den silbernen Löffeln im Busen erwischt hatte.
»… diese Karikatur von einer Schwiegermutter, nur ein goldener Nasenring fehlt ihr noch«, fasste Marilena zwei Stunde später unser Geläster zusammen.
Nana, die gerade mit dem Handtuch über dem Kopf von der Dusche kam, sah sie an, ohne ein Wort zu sagen, ging schweigend zu ihrem Bett, stellte ihren kleinen Spiegel auf das Nachtschränkchen und begann sich zu kämmen. Erst als sie ihre Haare Strähnchen für Strähnchen auf die Papierschnipsel wickelte, tat sie den Mund auf, wahrscheinlich hatte sie die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie sie uns über denselben fahren sollte:
»Ihr verfluchten Hexen! Was wollt ihr eigentlich, soll sie denn herumlaufen wie ihr, Stroh im Kopf, Stroh auf dem Kopf? Sie muss eben von Berufs wegen gut aussehen«, sagte sie mit weicher, ausdrucksloser Stimme.
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Solche Sprüche hatte sie immer drauf, bat uns aber zugleich, ihr den Gürtel enger zu schnallen, wenn wir zu den Vorlesungen gingen, damit man ihr Bäuchlein nicht sah, und als keine von uns mehr dazu bereit war, weil wir fürchteten, es könnte schiefgehen, wenn sich das Kleine schon regen sollte, schnallte sie ihn selber.
»Können wir, hast du dein Geschirr umgeschnallt?«, versuchte Marilena zu witzeln.
Doch das war zu dick aufgetragen, keinem war nach Lachen zumute. Zumindest kotzte sie nicht mehr wie am Anfang und kam irgendwie durch die Prüfungen, gerade so. Sie schlief schlecht, wir hörten, wie sie sich die ganze Nacht herumwälzte und hin und wieder, den Schlafrock über das Nachthemd geworfen, auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich und erst nach einer Stunde zurückkam. Einmal, als ich mit meinen Mühlen im Kopf selbst nicht einschlafen konnte, ging ich ihr nach. Wir hockten beide mit dem Rücken zum Heizkörper am Ende des Gangs und schwatzten, irgendwann konnte sie nicht mehr an sich halten und heulte los, rückte aber nicht mit der Sprache heraus.
Als wir in die Ferien fuhren, teilte Nana ihre Kleider, in die sie eh nicht mehr passte, unter uns auf. Nicht für immer, wenn uns etwas gefiel, sollten wir es ruhig tragen, aber keine Flecken hineinmachen. Sie mied unsere Blicke, während sie uns flüsternd mitteilte, Silvius Eltern hätten eine Unterkunft für sie gefunden, sie würde den Sommer über in Bukarest bleiben, sie würden nach der Geburt heiraten und sie würde, komme, was wolle, an die Fakultät zurückkehren. Wir aber sollten alles geheim halten, denn ihr Stiefvater habe ihr in seiner Heidenangst, zum Gespött des Dorfes zu werden, verboten, mit dem Balg im Arm zu erscheinen, den sie mit einem Rotzlöffel gezeugt habe. Sie oder Silviu würden uns noch anrufen, je nachdem, wie und wann es halt ginge, denn als Untermieter hätten sie kein Telefon, keinesfalls aber sollten wir die Familie Buje belästigen.
Aber wie Domnica es vorausgesagt hatte, als wir unter uns waren, kam von Nana die ganzen Ferien über kein Zeichen. Sollte Marilena, ihre beste Freundin, sich noch mit ihr getroffen haben, dann alle Achtung, die ließ sich überhaupt nichts anmerken.
Unter den Professoren schien kein einziger zu wissen, weshalb Nana das Semester erst einen Monat später als wir, im November, antrat. Ich habe auch keine Ahnung, wie sie mit den Hexen im Sekretariat zurechtgekommen ist, jedenfalls stand ihr Name nicht auf den Listen derjenigen, die wegen unentschuldigten Fehlens relegiert worden waren, ob da die Genossin Buje die Hand im Spiel hatte? Im Anwesenheitsregister führten wir sie als krank, und wenn jemand nach ihr fragte, beeilte sich Marilena zu sagen, sie sei in einem Lungensanatorium und werde in einem Monat wiederkommen.
Den Blicken nach zu urteilen, die hin und her schwirrten, wusste man aber um ihr Geheimnis.
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Nanas Name stand nicht unter den zum Herbstsemester Relegierten, dafür hing die Liste mit den zwanzig Heimbewohnerinnen, die wegen Prostitution der Fakultät verwiesen worden waren, so lange am Schwarzen Brett, bis sie vergilbt war. Zwei, drei Wochen bevor sie dort angebracht wurde, erfuhr ich von dem Gerücht über ein Album mit nackten Weibern, unter denen die Gäste einer Tanzveranstaltung in der Stadt wählen konnten. Ich weiß nicht, wer die Sitzung mit Anwesenheitspflicht beim Rektorat, auf der die Relegation beschlossen wurde, »Affenprozess« genannt hat nach dem gerade im Scala laufenden Film Inherit the Wind und der rumänischen Übersetzung des Titels – doch der Name sollte bleiben.
Der »Affenprozess« fand, glaube ich, im Oktober statt, denn als wir, geblendet vom weichen Licht des Altweibersommers, aus dem Scala traten, sammelte Marilena Geld und kaufte drei weiße, krausblättrige Chrysanthemen. Wir versteckten sie dann in einer Tasche, es wäre zu blöd gewesen, mit Blumen zu einer solchen Sitzung zu erscheinen.
Gegen Abend, als wir es endlich hinter uns hatten, waren die Chrysanthemen genauso schlaff wie wir. Ich warf meine in einen Müllkorb am Boulevard 6 Martie, worauf Marilena und Domnica beide auf mir herumhackten: »Wieso hast du sie weggeschmissen? Wir hätten sie in ein Glas gestellt, und bis morgen wäre sie zu sich gekommen! Was bist du bloß für eine Frau, dass du keine Blumen magst?«
Ich erwiderte, ihnen gehe es ja gar nicht um die Blumen, sondern um das Geld, das sie dafür ausgegeben hatten, und sie sollten nur bis zum Samstag warten, da komme sicher irgendeiner mit einem Strauß wie ein Kohlkopf, und der sei dann umsonst. Ich war selbst nicht so sicher, dass ich recht hatte, aber die Anspannung aus der Sitzung ließ nicht nach, und ich hatte niemanden, an dem ich mich abreagieren konnte.
So lachte ich bis zum Wohnheim stumpfsinnig vor mich hin, ich war froh, dass wir aus jenem Sitzungssaal beim Rektorat freigekommen waren, den ich mit klammem Herzen betreten hatte. Obwohl keine von uns auch nur im entferntesten etwas mit dem »Affenprozess« zu tun hatte, zerrte ich Marilena möglichst weit nach hinten. Ich hatte gehört, dass die Sitzungen, die hier stattfanden, sich jederzeit gegen einen selbst richten konnten, wenn man auf den Gedanken kam, irgendjemandem beizuspringen. In den Jahren davor waren hier welche verurteilt worden, die ihre Biographie gefälscht hatten, indem sie nach der Aufnahmeprüfung beim Ausfüllen der Kaderakte verheimlichten, dass ihre Väter im Gefängnis oder im Hausarrest saßen, als Unternehmer oder Großbauern enteignet worden waren, dass sie Verwandte im Ausland hatten oder Ähnliches mehr.
Den Geschmack der Angst, der mir die ganze Sitzung über als Speichel den Mund zum Überlaufen brachte, weil ich ihn wegen der Knoten im Hals nicht hinunterschlucken konnte, kannte ich von daheim, von klein auf.
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Zwar sollte der »Affenprozess« aussehen wie eine der Sitzungen zur Enttarnung der Feinde, die sich in unsere Reihen eingeschlichen haben, er begann jedoch mit einem langen und langweiligen Bericht, den Bucur stockend verlas und in dem die verkommenen, bestechlichen Elemente mit kleinbürgerlichen Mentalitäten und Neigungen angeprangert wurden. Es folgten vorgefertigte Wortmeldungen, die noch langweiliger waren, weil sie den Bericht Wort für Wort wiederholten. Eine von denen, die das Wort ergriffen, war natürlich auch unsere Domnica.
Im Saal gab es keine Angeklagte, die mit tränengeröteten Augen aufgestanden wäre, um Selbstkritik zu üben. Die zwanzig »Affenweiber« aus dem Wohnheim, die für Geld gevögelt haben sollten, wurden in Abwesenheit verurteilt. Sie waren schon von ihren Eltern nach Hause geholt worden und in der hintersten Provinz verschwunden, woher sie gekommen waren, oder mochten, so das Gerücht, in irgendeinem Frauengefängnis sitzen.
Auch nach sechs Stunden wussten wir nichts Neues über jenes Luxusbordell, das unter dem Vorwand von Samstagabendpartys funktioniert haben sollte und von dem seit etwa einem Monat im Wohnheim gemunkelt wurde.
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Als wir aus dem Amphitheater hinausdrängelten, nahm mich Domnica zur Seite, um mir, nur mir, zuzuraunen: »Da hat die Nana aber Schwein gehabt, dass die Bujes sie von der Liste gestrichen haben! Was glotzt du so? Was meinst du denn, wo sonst hätte sich eine wie Nana eine wohlversorgte Lusche wie den Silviu angeln sollen?«
Da ich sie weiter entgeistert anstarrte, machte sie eine wegwerfende Handbewegung, die besagte: Da hab ich mir aber gerade die Richtige zum Reden ausgesucht! Und weil Marilena näher kam, flüsterte sie mir zu: »Die Nana hat uns gegenüber auf vornehm gemacht, dabei ist sie eine große Hure!«
Wenn sie es gesagt hatte, damit ich es weitersagte, hatte sie sich die Falsche ausgesucht, denn das tat ich gerade nicht, auch wenn ich mich ein Leben lang an ihre Einflüsterung erinnern sollte. Ich schwieg, einmal Nana zuliebe, aber auch, weil ich Domnica misstraute, aus Klassenhass eben, was will man machen! Gleich im ersten Semester, als wir uns noch gar nicht kannten, war Domnica ins Büro des Kommunistischen Jugendverbandes gewählt worden, dabei waren die Vorschläge von langer Hand vorbereitet. Und als ich dann, nachdem Vater sich endlich entschlossen hatte, zu Mutter zurückzukehren, zur Kaderabteilung bestellt wurde, wurde mir klar, dass Domnica nicht nur mit meiner Kaderakte vertraut war, sondern auch über meine Familie bestens Bescheid wusste, über die ich, von klein auf dazu getrimmt, im Zimmer kein Sterbenswörtchen gesagt hatte.
Vielleicht hielt ich Nana auch die Stange, weil das meinem Autismus entsprach, der sich anderen gegenüber nicht immer nur als Gleichgültigkeit äußert, sondern auch, wie ich mir sage, wenn ich nicht allzu streng mit mir bin, als Zartgefühl.
Nana erschien nach den Frühjahrsferien, dünn wie ein Strich und mit blaugeränderten Augen, sie trug denselben Namen, aber auch einen Ehering am Finger. Sie war zurückhaltender als früher, schluckte Beruhigungs- und Schlafmittel und ging eine Zeitlang am Samstagabend nicht tanzen. Silviu war bei seinen Eltern, die an unserer Botschaft im Irak dienten, und studierte dort im dritten Semester an der Fakultät für Öl- und Gasförderung. Das Kind, sagte uns Nana, war bei einer seiner Cousinen in Alexandria geblieben, die es adoptieren wollte, allerdings unter der Bedingung, dass Nana es nie mehr besuchen durfte, damit der Kleine nicht leiden müsse.
»Quatsch«, sagte Domnica einmal, als nur Marilena und ich im Zimmer waren, »das Kind hat sie gleich aus der Geburtenklinik ins Waisenhaus gegeben, sie hat damals schon alle Papiere unterzeichnet gehabt, Schluss aus! Der Ehering trägt weder Datum noch Namen, und wenn Nana einen Brief von Silviu kriegt, wirft sie ihn in ihr Nachtschränkchen, und wenn sie dann allein ist, reißt sie ihn in kleine Stücke und schmeißt ihn ins Klo, sie wird es irgendwann noch verstopfen!«
»Zum Glück hast ja du deine Nase überall!«, grinste Marilena schmallippig.
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»Wer von euch ist Letiţia Branea … Da wartet jemand unten …«
Ich schrak auf in meinem Bett, wo ich mit halb geschlossenen Augen, das offene Heft auf den Knien, dahin dämmerte. Und ich dachte zuerst, es könnte Petru sein, wie ich es immer dachte, wenn mich jemand suchte, obwohl schon zwei Wochen vergangen waren, seit wir vom Meer zurückgekehrt waren und er meinen Koffer auf dem Gehsteig hatte stehen lassen.
»Wie sieht er aus?«, kreischte Didi mit vollem Mund.
Sie saß allein am Tisch und aß, tief über die Pappschachtel mit Würsten und Speck gebeugt, in der vorher die neuen Schuhe verpackt gewesen waren.
»Ein hochgewachsener Mann, kommt mir bekannt vor«, gab diejenige, die mich gerufen hatte, durch die schon geschlossene Tür zurück.
Ich warf den Schlafrock ab und begann mich anzuziehen, wobei ich plötzlich vor Kälte zitterte. Dann hielt ich es nicht mehr aus, riss unter den verblüfften Blicken der Mädels die Tür auf, lief barfuß über den Korridor und riss das Fenster zum nebelverhangenen Hof auf. Ich sah ihn nicht gleich, obwohl ich ihn hätte sehen müssen, denn er stand allein mitten auf der Allee und lehnte nicht wie die anderen seitlich der Treppe an der Wand. Ich ahnte die starre Gleichgültigkeit seines Gesichts, obwohl ich nur die Umrisse seiner Gestalt ausmachen konnte, mit tief in den Taschen vergrabenen Händen. Ich stand am Fenster und sah zu ihm hinunter, ich konnte es kaum glauben und musste an mich halten, ihm nicht etwas zuzurufen, weil ich fürchtete, er würde es sich plötzlich anders überlegen und verschwinden, bevor ich unten war. Aber er musste auf mich warten, genau so, wie ich weiter schweigen musste.
Er begann auf und ab zu schlendern, er kam bis zu der um diese Uhrzeit verschlossenen Tür der Kantine und spähte zwischen den bläulichen Rollläden hindurch, um seine Ungeduld mit vorgeblicher Neugier zu kaschieren. Wie einfach doch war, was ich mir nicht hatte vorstellen können, wie einfach es doch war, wenn er auf mich wartete, noch konnte ich das alles nicht glauben, noch begriff ich es nicht. Der Triumph weckte eine merkwürdig innige Wehmut in mir, eine traurige Freude.
»Petru Arcan«, sagte ich zu den Mädels, ohne sie dabei anzusehen, während ich mich hastig vor dem Spiegel auf dem Tisch kämmte.
Ich spürte die Verblüffung in ihrem Schweigen, gab aber nicht klein bei, betrachtete mich nicht einmal mehr im Spiegel. All die Tage hatte ich an mir gearbeitet, als müsste ich mich aus Sand modellieren. Wo war ich denn gewesen so viele farblose Stunden lang? Tag für Tag hatte ich gehofft, endlich und endgültig Kontur zu gewinnen, nur sie hätten mir dabei helfen können, aber ich fürchtete ihre Blicke, ihre Gedanken, all das, was sie jetzt in mir sehen mochten. So lange hatte es mir geschienen, als würde mir nie etwas Besonderes passieren, als wiederholte sich immer wieder ein und derselbe Tag. Dabei war so vieles passiert, wie ich jetzt, als ich mich am Kleiderhänger nach meinem Mantel streckte, verwundert feststellte. Onkel Ion war gestorben, Vater war aus seinem finsteren Leben, von dem er offenbar nichts erzählen wollte, herausgetreten und zu Mutter zurückgekehrt, und auf mich wartete Petru. Und ein Stempel im Ausweis, der mich zur rechtmäßigen Einwohnerin der STADT machen sollte … Benommen von meinem Tagtraum sah ich das Zimmer vor mir, die Betten zur Nacht aufgeschlagen, die Mädels, die schon über etwas anderes sprachen, die Korridore, die ich entlangging. Es war das Jetzt, dessen Umrisse ich nicht begriff, erst später begreifen sollte, als ich sie aus der Ferne betrachtete.
Langsam, Stufe für Stufe, ging ich hinab. Es roch nach Linoleum, nach Bratkartoffeln, nach Putz, nach Dampf. Türen wurden geknallt, unten hupten Autos, aus den Fenstern zum Innenhof warfen die Mädels leere Gläser und Flaschen und riefen alles Mögliche, was im Treppenhaus nicht deutlich zu hören war. All das war tief in mir drin, und auf einmal spürte ich, wie es sich von mir entfernte, und begriff, dass ich sehr bald von hier weggehen würde. Meine Gestalt würde in den Jahren, die da kommen sollten, noch eine Zeitlang in der Erinnerung bestehen, dabei immer verschwommener werden und sich mit anderen vermengen. Andere Mädchen würden die leeren Korridore unter dem gelblich gleichmütigen Deckenlicht entlanglaufen, behindert von den langen Schößen der Schlafröcke, und auf etwas warten, mit demselben Schauder wie ich.
Die Stadt da draußen, der ich näher kam, war eine andere, und Petru, der mich vor der Glastür erwartete, auch Petru war ein anderer, als ich glaubte, aber es sollte noch lange dauern, bis ich mir dessen bewusst wurde.
Stufe für Stufe ging ich langsam hinab. Ich war der Tür so nahe, dass ich die Endlosigkeit der Stadt spüren konnte. Die Häuser hatten tiefere Wurzeln geschlagen als die Bäume, und die Farben der Tage flossen zu einer einzigen zusammen, nur wusste ich es nicht. Ich konnte nur hinuntergehen zu dem, auf das ich gewartet hatte, etwas hatte ich verloren in all der Zeit, ich hatte gelernt, geduldig zu sein. Mit dem, was mir geblieben war, würde ich weitergehen und dabei das automatische Lächeln über mein Gesicht breiten, misstrauisch gegen jegliche Freude.
Jetzt ging ich schon über das Pflaster, über Haufen von feuchtem Laub, und spürte, wie die bisherigen Ereignisse von mir abfielen, was sich in den verwunderten Augen spiegeln mochte, von denen ich hoffte, dass sie um mich waren. Nichts Besonderes war mir passiert, dennoch sollte ich für kurze Zeit zum Mythos der Korridore werden, über mich sollte abends in den Zimmern geredet werden. Ich war froh, dass ich wegging, aber die Luft dieses Provisoriums nahm ich für immer mit und wusste jetzt, dass ich sie mir zu eigen gemacht hatte in all der Zeit, in der ich darauf brannte, sie zu verlassen. Ich mochte sie ebenso wie meinen Körper, aus Vertrautheit, mit Widerwillen, aus Gewohnheit.
»Es hat etwas gedauert, bis du dich entschlossen hast, herunterzukommen«, flüsterte er mit einem spöttisch schiefen Lächeln.
Ich spürte seinen warmen Händedruck, so unwirklich weich, dass ich mich wieder fragte, ob ich ihn mir nicht nur einbildete.
»Gehen wir«, sagte ich und verlangsamte meinen Schritt.
Im letzten Fenster, an dem wir vorbeikamen, sah ich unsere Gesichter ineinanderfließen. Einen Augenblick noch versuchte ich, meines zu unterscheiden, aber es war zu spät. Sein Leben hatte meine Züge überströmt und erstarren lassen, meine Mundwinkel kerbten sich mit der Zeit ein wie die Ringe unter den Augen, die sich glichen wie bei Menschen, die man zu zweit denkt.