Kapitel VIII

Wie konnte Onkel Ion bloß immer weiterarbeiten, ohne sich darum zu scheren, dass nichts dabei herauskam, und ohne darunter zu leiden? Das fragte ich mich später, als ich ihn zu verstehen meinte, wobei ich mir sein Leid seltsamerweise gar nicht mehr vergegenwärtigen und zu eigen machen konnte, soviel ich auch in meinen Erinnerungen wühlte. Hatte ich ihn so wenig wahrgenommen, obwohl ich ihm damals so nahe gewesen war? Steckte hinter seinen Gesten wirklich nichts als die resignierte Ergebenheit, an die ich immer denken musste? … Vielleicht meinte er ja, ich hätte sein Erfolg sein sollen. Und schwieg deshalb, grau im Gesicht vor verhaltenem Ärger, wenn ich vor dem Spiegel hockte, während Mutter, die Böses ahnte und deshalb seinem Blick auswich, über die abgetretene Schwelle der Sommerküche kam. Zu Jeni, die auf der Veranda auf mich wartete, sagte sie: »Seht zu, dass ihr euch nicht wieder verspätet …« Dabei betrachtete sie abschätzig Jenis nahtlose Nylonstrümpfe, wie sie damals aufkamen, und den neuen geblümten Seidenschal, der siebzig Lei gekostet hatte …

»Schneller, sonst läuft euch der Korso noch davon«, brummte Onkel Ion über die Schulter, wenn er mit schlurfenden Pantoffeln die Treppen hinab zum Tisch im Hof ging, einen Stoß Exzerpte in der einen und den dampfenden Kaffeepott in der anderen Hand.

Unter dem verkrüppelten Birnbaum mit den wächsernen Blättern verweilte er dann in der Stille, die sich nach dem Krachen des ins Schloss fallenden Tores ausbreitete. Dort an dem auf seinen ungleichen Beinen wackelnden Tisch trank er seinen Kaffee bis zur Neige und sog an der Zigarette, den Blick starr auf den rostigen Maschendraht des Geflügelhofs und die krummen Pflaumenbäume gerichtet, die im Abendlicht einer nach dem anderen bläulich zu schimmern begannen. Wenn dann aus dem Haus die Stimme des Nachbarn drang, der sich mit seiner Frau stritt, ging er zu Mutter in die Küche, und gemeinsam säuberten sie den Spinat und die Brennnesseln. Die Sorgen und Nöte der letzten Jahre hatten dazu geführt, dass die beiden versöhnlich an den Anfang ihres Lebens und an das unbekannte Leben ihrer Eltern zurückdachten. Meistens aber widmete Onkel Ion sich in diesen Stunden hingebungsvoll seinen eng und sauber beschriebenen Seiten, die mit jedem Tag, der unmerklich verstrich, zusehends vergilbten. Drei Aufsätze hatte er daraus gemacht, die in den Sitzungen des örtlichen Kulturkreises gelobt worden waren, und er hatte eingewilligt, dass auch der neue Direktor seinen Namen daruntersetzte, der mit seinen Beziehungen zu der Bukarester Fachzeitschrift protzte, wo er sie veröffentlichen würde.

Ich suchte die Aufsätze in den ersten Monaten meines Studiums hoffnungsvoll mehrere Abende lang bis spät in der Fakultätsbibliothek, aber natürlich fand ich sie in keiner der Zeitschriften.

So saß Onkel Ion denn weiterhin an dem Tisch im Hof und ordnete seine Notizen, sorgfältig und unsicher. Dann und wann fügte er noch etwas hinzu, was er gerade gelesen hatte, dabei zündete er, ohne es zu merken, eine Zigarette an der anderen an und wippte unablässig mit dem Fuß.

In seltenen Augenblicken aber, möglicherweise an irgendeinem jener Nachmittage, an denen er aufs Arbeiten verzichtete, wir zu dritt die Stadt hinter uns ließen und auf das morastige, unter den Schritten schmatzende Stoppelfeld hinausgingen, wenn er an einem seichten Teich stehen blieb, wo auf samten schlammigem Grund schwarze Kaulquappen wuselten, und die aufkommende Frühlingsluft witterte, muss er gespürt haben, wie seine Jahre dahindämmerten. Denn er verharrte dann auf der Stelle und bohrte die Schuhspitze in das feuchte Loch, in dem der gerade weggerollte Stein gelegen hatte und aus dem die Ameisen in orientierungslosen dünnen Reihen kopflos in alle Richtungen ausschwärmten. Vielleicht versuchte er dann in Gedanken, sich von den Seiten, die er mit ängstlich übertriebener Sorgfalt immer wieder umschrieb, zu lösen, wie man von dem rostfleckigen Spiegel in der Küche zurücktritt, wenn man sich, peinlich berührt, darin wiedererkannt hat.

*

»Wie kannst du dem auch deine Arbeit von Jahren geben«, fragte ihn Mutter, wobei sie ärgerlich den Kopf herumwarf und ihn ansah. »Wieso lässt du ihn die Artikel mit unterzeichnen, die du erarbeitet hast?«

Wir kamen gerade vom Sonntagsspaziergang nach Hause. Den verstörenden Gefängnisbau hatten wir hinter uns gelassen. An der endlosen Friedhofsmauer flimmerte das noch warme Sonnenlicht, die Marmorkreuze und die spitzen Dächer der Familiengrüfte und die Alleen, in denen die Tauben turtelten, waren verschattet. Am großen, weit offenen Tor zeichneten sich in der feuchten Erde tiefe Radspuren ab, am Zaun häufte sich trockenes Reisig vom Vorjahr und welkes Unkraut von den zum Frühjahr frisch bepflanzten Gräbern. Ich betrat den Friedhof nur einmal im Jahr, wenn wir im Klassenverband Blumen am Denkmal der Sowjetsoldaten niederlegten. Unsere Toten waren nicht hier, deshalb blickte ich gleichgültig über die weiße Mauer. Auch Tante Ştefi hatten sie in ein etwa 40 Kilometer entferntes Dorf gebracht, wo die Ihren alle lagen und wo noch eine Schwester von ihr wohnte.

»Was soll ich allein denn damit anfangen?«, fragte Onkel Ion müde und bückte sich schwerfällig, um einen Schnürsenkel zuzubinden. Sein krampfhaft gebeugter Kopf lief blau an vor Anstrengung. »Du weißt doch, jetzt werden die Jungen gefördert, was brauche ich denn noch, der ich kurz vor der Rente stehe?«

»Das ist ja wohl ein Witz«, fuhr ich dazwischen und blieb ebenfalls stehen. Von hier oben gesehen, erstrahlte die Stadt weiß, als hätte der Regen sie reingewaschen. Der grüne Fleck da unten war der Crâng, der Stadtwald, in einer Ecke machte ich den grell gestrichenen Turm unserer Kirche aus, mittendrin das Postamt und das neue Theater und weiter hinten, noch eingerüstet, die neuen Wohnblocks der Stadt. »Halt die Vorträge doch selbst, hast denn nicht du gesagt, dieser Mirescu taugt höchstens für Sitzungsreden?«

Er hatte sich wieder aufgerichtet und sah mit einem unschlüssigen Lächeln in den Mundwinkeln um sich. Im Licht erschien das Weiß seiner Augäpfel gelblich, seine großen, mit ergrauten Büscheln behaarten Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt.

»Wenn man jemandem etwas Gutes tun kann«, setzte er an, mir zu antworten, dann wandte er sich Mutter zu, und seine erdfarbenen Züge strafften sich, die gewohnten Falten wurden zu tiefen Furchen. »Weißt du, was es heißt«, sagte er, »weißt du, was es heißt, das alles im Kopf zu haben und es nur mit sich selbst herumzutragen?«

*

Dass die Vermieter zu Hause waren, erkannte ich an Onkel Ions Schritten, die unvermittelt in ein Schleichen übergingen, als zögen ihn die schweren Kleider zur Erde hinab. Nur die familientypisch breiten Kiefer verkrampften sich, er biss die schadhaften, vom Tabak und von der Zeit angegilbten Zähne zusammen. »Guten Tag«, grüßte er den Vermieter und zog die Tür achtsam und geräuschlos hinter sich zu. Mit dem neutralen Tonfall und der bemühten Korrektheit, mit der er die Laute aneinanderreihte, versuchte er nicht nur die Furcht zu überspielen, dahinter steckte auch Empörung und Verdruss über die erzwungene Hausgemeinschaft.

»Nimm jeden, wie er ist, erwarte nicht dauernd, dass die anderen tun, was du möchtest«, hatte er zu Mutter gesagt, während er die korrigierten Klassenarbeiten eine nach der anderen in der Aktentasche verstaute. »Und wenn du merkst, dass sie auf Streit aus sind, geh ihnen lieber aus dem Weg.«

»Aber was tu ich denen denn, ich putze hinter ihnen her, sogar das Klo … Siehst du denn nicht, dass der Kerl mich wegen allem und jedem anbrüllt? Unser Geflügel hätte ihn morgens geweckt, ich hätte die Stromrechnung nicht bezahlt, und es wären nur noch drei Tage, bis die kommen … Und wenn er nichts mehr hat, was er mir vorwerfen kann, fragt er, wieso wir nicht endlich weg sind, ob wir denn darauf warten würden, dass er mit einem Papier vom Rathaus kommt und uns rausschmeißt …«

Während sie das sagte, hatte Mutter die Schranktür geöffnet und wühlte in den darin gestapelten Sachen. Sie suchte etwas, wusste aber nicht mehr, was. Plötzlich machte sie auf dem Absatz kehrt, sah ihn mit funkelnden Augen an und sagte mit merkwürdiger, beinahe triumphierender Stimme: »Du wirst schon sehen, der motzt dich auch noch an! Ich wundere mich schon, dass es so lange dauert, aber du weißt, einmal im Monat kriegt er seinen Rappel …«

*

»Guten Tag«, gab der junge Vermieter den Gruß zurück, während er mit abschätzigen Blicken die Flickenteppiche im Eingang musterte, die Mutter immer mit der Bürste auf dem Waschbrett im Hof sauber schrubbte. Er schlenderte zu seiner eigenen Tür und legte die Hand auf die Klinke, ohne sie hinunterzudrücken. Eine Weile stand er reglos da und brummte dann, ohne sich umzusehen: »Wir waren doch wohl anders verblieben …«

Jetzt erst wandte er sich Onkel Ion zu, und man sah, dass er rundlich geworden war wie Männer, die seit geraumer Zeit verheiratet sind, so dass der Hosenbund viel zu hoch saß.

»Wieso das denn, Herr Ingenieur?«, entgegnete der Onkel. An den langen Pausen merkte ich, dass er sich zwang, nicht die Stimme zu heben. Er stand ebenfalls auf und schloss die Tür zu unserm Schlafzimmer, dabei warf er einen bekümmerten Blick auf die Papiere, die auf dem Tisch herumlagen.

»Ihr hattet doch gesagt, ihr zieht aus. Andere kümmern sich und suchen, aber ihr …« Pârvulescu warf den Kopf in den Nacken, sein Gesicht war jetzt rot angelaufen vor Wut oder von dem Schnaps, den er in der Küche getrunken hatte. »Ihr habt offenbar gar nicht im Sinn, auszuziehen. Ihr meint wohl, wenn mein Schwiegervater ein Blödmann war und euch hier aufgenommen hat, wo ihr doch sonstwo hingehört, hätte er nur ein Wort gesagt an der richtigen Stelle …« Seine heisere Stimme wurde immer rauer, bis er unvermittelt zu brüllen begann: »Was glaubt ihr denn, wie lange ich euch noch in meinem Haus ertrage? Nun, ich sag’s euch, dass ihr’s wisst, ich hab eine Lösung, ich brauch bloß den Mund aufmachen, und schon seid ihr auf der Straße mit eurem Kram und rauft euch die Haare, dass ihr nicht freiwillig gegangen seid …«

Aus dem Zimmer der Vermieter hörte man Schritte und dann nichts mehr, ich wusste, es war Cornelia, die näher gekommen war und nun an der Tür lauschte.

»Was sind das denn für Reden, Herr Ingenieur«, mahnte der Onkel. Seine Worte gingen im Gebrüll des anderen unter, dessen Gesicht mit den breiten Kiefern immer dunkler anlief, während er seinen schweren, in mühsamer Selbstbeherrschung bebenden Leib gegen unseren schiefen Türstock lehnte. »Was sind das denn für Reden, Herr Ingenieur – redet man so miteinander …«

Der Vermieter hielt schnaufend inne und starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. Vom Kleiderhaken aus, wo ich stehen geblieben war, fixierte ich seinen kahlen Schädel mit den flaumigen Härchen … Onkel Ion schwieg ebenfalls, verstört. In seinen Worten, die er nur halbherzig ausgesprochen hatte, erkannte er die Redeweise des anderen, er hatte sie in seiner Erregung übernommen, ohne es zu merken. Durch das Sprechen war es ihm nicht gelungen, seiner Wut Luft zu machen, sie zuckte fort in seinen müden Schläfen, während er die behaarten Fäuste dagegenpresste, dass das Blut aus ihnen wich. Eine schwere Fliege mit grünlich schimmernden Flügeln flog heftig summend gegen die verdunkelten Wände des Flurs an. Alle drei verfolgten wir ihren Flug bis zu den matten Scheiben des Fensters, das auf die Veranda ging. Dumpf prallte sie dagegen, summte noch durchdringender und nahm ihren Irrflug durch das Zimmer wieder auf.

»Als ich euch hier aufgenommen hab, auch noch die Schwester mit dem Mädel, da ist euch nicht durch den Kopf gegangen, dass die Familien von Volksfeinden nix zu suchen haben in den Häusern von Leuten …«

»Erst einmal: Uns aufgenommen haben nicht Sie«, sagte der Onkel.

Aber der andere brüllte ihn sofort nieder, und das Gesumm der Fliege, die gegen das Fenster und gegen die Wände prallte, steigerte sich zur gleichen Lautstärke wie das Gebrüll des Vermieters. Da konnte es der Onkel nicht mehr ertragen, ging hin und öffnete die Tür zur Veranda. Er wartete, dass sie hinausflog und dass der andere zum Ende kam, seine Lippen verzerrt vor Müdigkeit und Überdruss. Aber bei jedem unbeholfenen Anflug verfehlte der Brummer die enge Öffnung, prallte gegen das Fenster und flog zurück, bis es dem Onkel plötzlich aufging, dass die Tür zum Hof offen stand und die Nachbarn wieder einmal den ganzen Streit mitkriegten. Da verlor er die Geduld, griff nach einem Handtuch, das am Kleiderhaken vergessen worden war, und fuchtelte zaghaft damit herum. Die Nachtluft draußen wurde kühler, vielleicht zog es die Fliege deshalb nicht hinaus, und sie prallte weiter gegen das Fenster, das alles Licht auf sich vereinte.

»Aber ich red ja immer wie gegen eine Wand, ihr habt ja andere Sorgen …« Der junge Vermieter hielt unschlüssig inne, vergrub eine Hand in der Hosentasche und klimperte dort mit dem Kleingeld, während sein Bauch das Hemd blähte. Er schien seinen Vorrat an Gebrüll aufgebraucht zu haben, dafür lutschte er mit hektisch zuckenden Mundwinkeln an seinen Zähnen.

»Sie reden, aber genauso wie immer …« Onkel Ion ließ das Handtuch sinken, seine Stimme war fester geworden. Zwar warf Pârvulescu, der die Veränderung nicht mitbekam oder müde geworden war, hin und wieder etwas ein, wurde aber stiller und hörte zu, wenn er dabei auch das Gesicht verzog und mit den Schultern zuckte.

»Erstens haben nicht Sie uns hier aufgenommen, Sie waren damals ja noch gar nicht in der Stadt … Bestimmt hat Ihr Schwiegervater Ihnen gesagt, was er uns so viele Male versprochen hat, dass man uns in Ruhe lassen wird, auch wenn Cornelia geheiratet hat … Nun, vielleicht ist es jetzt anders, Sie sind der Vermieter …«

»Ach, hört doch endlich auf, und du komm essen, soll ich denn die ganze Nacht mit dem gedeckten Tisch warten?«, sagte Mutter, die bei seinen letzten Worten hinzukam.

Endlich zog sich der Vermieter in sein Zimmer zurück, aus dem die Schreie des kleinen Sorin zu hören waren und Cornelia, die ihn mit »Schu-schu-schu« auf den Knien wiegte, wie er es gewöhnt war.

»Ja, ich komme sofort«, antwortete der Onkel. Mit einer neutralen Stimmlage suchte er den Abstand wiederzugewinnen, der ihm noch eine Weile zur Verteidigung dienen würde. Mit geschlossenem Mund atmete er tief, ganz tief durch, dann grub er in seinen Taschen nach Zigaretten und Streichhölzern. Auf der Veranda blieb er vor den drei Stufen stehen, die zur Küche hinabführten, und tastete mit den grobknochigen Händen die raue Mauer ab, dann und wann hustete er röchelnd und spuckte weit auf den Hof hinaus. Wahrscheinlich hatte er eine Vorahnung der schlaflosen Nacht, in der seine Sätze, von Ohnmacht vergiftet, ihn wieder einholen würden. Vielleicht wollte er den Nachgeschmack von Überdruss und Bedauern loswerden, der auch bei der rechtschaffensten Verteidigung zurückbleibt. Vor allem widerte ihn dieses trübe Gemisch aus vereinzelten Wahrheiten an, mit denen beide Seiten auf ihrem Recht bestanden. Von überall strömte die feuchtlebendige Dunkelheit der Frühlingsnacht auf ihn ein, das gefleckte Weiß der blühenden Bäume und das herrische Strahlen des Abendsterns. Gegenüber heulte wieder der Hund, und ein LKW hielt mit rasselndem Keuchen.

»Worauf wartest du noch!«, rief Mutter.

Onkel Ion warf die gerade angerauchte Zigarette weg, und beim Betreten der Küche muss er sich gesagt haben, dass auch dieser freie Nachmittag, auf den er seit einer Woche gewartet hatte, weil er schreiben wollte, zum Teufel war.

*

Hasste Onkel Ion die Vermieter damals genauso wie ich, oder gar so heftig wie Mutter? Denn der Hass, habe ich mir später gedacht, wächst wie die Liebe. Worte und Gesten, die man irgendwann geschluckt hat, kommen immer wieder hoch, voller Ressentiments und verzerrt, man weiß nicht mehr, wie sie waren, wie man die Tage vor der Liebe nicht mehr erinnert. Damals habe ich noch nicht geliebt, sagt man sich verwundert, und keine Schwelle kennzeichnet den wundersamen Augenblick, wenn die Wangen zu glühen und die Knie zu zittern beginnen vor Liebe oder Hass … Deshalb habe ich mich später gefragt, ob er sie auch gehasst hat, und ich glaube es genauso wenig, wie ich glaube, dass ihn irgendwann die Liebe gepackt hat. Es wäre (denke ich jetzt) für einen unschlüssigen Charakter wie den seinen – für ein Leben jenseits der Mitte, resigniert und angepasst – eine zu große Anstrengung gewesen.

Deshalb glaube ich, er hat auch den Vermieter nicht gehasst, noch nicht einmal im letzten Jahr, als ihn das Gezänk so zur Verzweiflung trieb, dass er mit uns das Haus verließ. Allerdings blieb er dann, keuchend vor Erregung, in den abgelegenen Gassen, in die es uns verschlagen hatte, stehen und betrachtete wehmütig die Ziegelhaufen, die von den abgerissenen Häusern übrig geblieben waren. Neben der im Schutt festgefahrenen Planierraupe stand noch eine Mauer mit merkwürdigen Umrissen. Der grellblaue Anstrich mit abgewetzten Blumenornamenten strahlte eine verschämte Intimität aus, die nicht zu den weißen Mauern nebenan passte. Eine dürre Zigeunerin ging vorüber, die einen Balken auf der Schulter trug. Sie wandte den schief von der Last weggereckten Kopf dem Mann zu, der hinter ihr ging, den speckigen Hut tief in die Augen gezogen, mit schwarzen Fingern die zerdrückte Kippe zwischen die Lippen schiebend.

Hier war die Stadt zu Ende, das Gras überwucherte stachlig und warm den Weg, die LKWs wirbelten Staubwolken auf, die gar nicht mehr zur Ruhe kamen. An den schiefen Lattenzäunen blätterte der Kalk, von Weitem erinnerte ihr Weiß an improvisierte Sanitärinstallationen. Eine Bude mit einem handtellergroßen Fenster, darüber das Firmenschild GOGU’S FRISEURLADEN, Gewerbegenehmigung Nr. 17875. In den Höfen Zwiebelbeete und gelbe Narzissen.

»Hier war ich nicht mehr seit der Alphabetisierungskampagne«, sagte der Onkel.

Neben dem Brunnen am Weg verschnaufte eine füllige Frau neben ihren Eimern. Das vorne geknöpfte, hie und da fleckige geblümte Kleid spannte über ihrem runden Bauch.

Der verhangene Sonntagshimmel sandte warme, regenverheißende Luft auf die Dächer herab. Die Schlange an der Sodawasseranlage zog sich aus dem kleinen Laden die Treppe herunter bis auf den Gehsteig. Wir waren fast in der Stadtmitte. Vor der Konditorei an der Ecke hingen die Jungs am Geländer, grüßten Onkel Ion in vielstimmig wirrem Chor, einige beeilten sich, ihre Zigaretten zu verstecken. Im Gehen beobachtete ich ihn aus den Augenwinkeln, seine Wut schien einer müden Gleichgültigkeit gewichen zu sein.

»Iss gefälligst nicht mehr auf der Straße«, sagte er unvermittelt mit strengem Blick auf die Tüte Kirschen, aus der ich verstohlen naschte. »Und pass auf, da fehlt ein Knopf, nein, nicht dort, am rechten Ärmel … Wieso lachst du, da gibt es nichts zu lachen, du bist schließlich nicht allein auf der Welt. Meinst du denn, du kannst im Leben machen, was du willst?«

»Ja«, antwortete ich und hielt seinem Blick mit einem frechen Grinsen stand.

Darauf sagte er nichts mehr, sah nur hin und wieder im Gehen zu mir herüber, missbilligend und resigniert. Nach einer Weile hatte er wieder alles vergessen, er erzählte mir etwas, und ich wunderte mich über seine Schülerinnen, die vom Kino zum Internat marschierten. Sie gingen eingehakt zu viert oder zu fünft, und ihre straff geflochtenen Zöpfe, die nur drei glänzende Löckchen über den pickligen Stirnen freigaben, peitschten ihre Rücken. Die breiten Knie steckten in weißen Baumwollstrümpfen, und ihre rundlichen Körper reckten sich in der Stadtluft. Sie grüßten ihn mit einem halben Lächeln und nahmen mich in Augenschein, ihre Blicke strichen über mein Gesicht. Auch als wir schon vorüber waren, spürte ich, wie ihre Augen sich an meine Fersen hefteten.

*

»Ich hatte gestern Inspektion«, sagte Onkel Ion und rückte seinen Stuhl vom Gasherd weg, der ihm im Rücken brannte. Während des Essens redete er in einem fort. Nur wenn er sich Wasser eingoss, hielt er inne, krampfhaft darauf bedacht, nichts zu verschütten. »Seit die Brigade der Inspektoren in der Schule ist, war ich mir sicher, dass sie bei mir hereinschneien werden. Als die dann weg waren, hat der Direktor mir ja auch gesagt, auf Sie verlasse ich mich immer, wenn es schwierig wird …«

»Ach ja, klar doch«, sagte Mutter beim Abräumen. »Jaaa, sicher, kostet ihn ja nichts, wenn er das sagt, aber das Gehalt …«

»Lass doch«, der Onkel reckte sich behaglich und legte den Kopf auf die Stuhllehne, »lass gut sein, ich bin halt außen vor …«

»Du kannst nicht fordern«, sagte Mutter unzufrieden und bückte sich mit einem Lappen in der Hand, um die Backröhre zu öffnen. »Schau mal, jetzt, wo sie den Mirescu zum Inspektor gemacht haben, könntest du doch verlangen, dass man dich näher an deinen Wohnort versetzt.«

»Tja …«, sagte der Onkel. Er versuchte, die Korkkrümel mit einem Zahnstocher aus dem Weinglas zu fischen. Das gelang ihm nicht, er führte es so zum Mund. »Geht auch so«, sagte er, als hätte er sie nicht gehört.

»Du hast den ganzen Mauerputz am Ärmel …« Mutter musterte ihn weiterhin abschätzig.

Aber seine Augen funkelten schon, und er klopfte linkisch die andere Schulter ab, während er durch das schmale Fenster den vor lauter warmer Nachmittagssonne farblosen Himmel betrachtete, der von Kindergeschrei und Hühnergackern erfüllt war. Seine fleischigen Wangen waren tief gefurcht, die fröhlichen Augen von Falten umkränzt. »Lass mal«, sagte er. »Gesund sollen wir sein, ansonsten haben wir eh nicht viel zu teilen auf Erden.«

Reichte ihm das für seinen Seelenfrieden, habe ich mich später gefragt, reichte es ihm zu wissen, dass er der beste und am ungerechtesten eingestufte Lehrer der Schule war? Er lebte nämlich, als hätte er noch ein Leben zu erwarten nach diesem, das nun mal war, wie es war. In seinen Augen war nichts von der Unrast derer, die ihrem Erfolg hinterherliefen, er war nicht Tag für Tag krampfhaft darauf bedacht, zu erzwingen, was ihm versagt geblieben war. Er erwartete die gleiche Wiederkehr zu jeder Stunde nach bekanntem Muster und hatte seine Freude an den Gewohnheiten, an denen er unbeirrt festhielt. Unscheinbar, mit einem genügsamen Lächeln, fristete er sein Dasein unter Leuten und Geschehnissen, aber hatte er, so habe ich mich gefragt, nie mehr gewollt als das?