Kapitel XX
Jeden Sonntag gingen wir nun zu dritt zum Friedhof. Wir gingen durch das Stadtzentrum, das wieder aufgebaut wurde, zwischen Gerüsten und vierstöckigen Blocks im Rohbau mit kalkbespritzten Fenstern hindurch, und immer weiter durch die Straßen der Vorstadt. Die Grundstücke fielen vom Gehsteig steil ab, so dass die Fenster der Wohnzimmer, erblindet hinter der mit Reißnägeln befestigten Leinwand, uns höchstens bis zur Schulter reichten. Die Häuser waren fast alle neu und nach demselben Muster gebaut, am Giebel stand das Baujahr und manchmal der Name des Eigentümers. Hinter den frisch gestrichenen Zäunen bellten heiser zottelige Hunde und zerrten an dem Wäschedraht oder dem kümmerlichen Pflaumenbaum, an die sie gekettet waren. Unter dem farblosen Himmel des Frühsommers roch es nach Rauch, trockener Erde und gerade erst ausgeschöpften Plumpsklos. Backsteine wiesen den Weg zum Eingang, wo vor einem Flickenteppich die Schuhe in Reih und Glied standen für den Fall, dass an Regentagen der ganze Hof im Morast versank. Durch die offenen Türen der Sommerküchen drang aus den bis zum Anschlag aufgedrehten Lautsprechern die Sendung für das Dorf. Auf den Bänken vor den Hoftoren, aus ungehobelten Brettern auf in die Erde gerammten Pfählen gezimmert, hielten schwatzende Frauen in glänzenden Kittelschürzen mit großflächigem lila Blumenmuster inne und verfolgten mit ihren Blicken jeden unserer Schritte. Manchmal saß da auch ein alter Mann mit backsteinbraunem verrunzeltem Gesicht, schütterem Bart und wässrigen Augen, der sich mit beiden Händen unbequem auf einen Stock stützte.
Wir schwiegen beide, Mutter und ich. Ihre Schultern hingen herab wie üblicherweise bei hochgewachsenen Frauen, der Bauch rundete sich unter dem Gürtel. Seit Monaten trug sie keine Schuhe mit hohen Absätzen mehr, Vater war gerade so groß wie sie. Trotzdem erschien er mir, sooft ich die beiden sah, kleiner, wie schon vor ein paar Monaten, als ich sie nebeneinander gesehen hatte. Das war vielleicht auch der Grund, weshalb sie sich von Anfang an nicht verstanden hatten und sich wohl auch nie wirklich verstehen würden, sagte ich mir. Auch ihre Gesichter standen nicht im Einklang miteinander, ich kam nicht dahinter, weshalb, und konzentrierte mich auf Vaters scharf geschnittenes, wie mit dem Zeichenstift nachgezogenes Gesicht, die geschwungenen Brauen, die schmalen Lippen, die lange, fast schon spitze Nase. Mutters Gesicht war breit und rund, mit ausladendem Kiefer, die Tränensäcke unter den Augen und die Lippen waren geschwollen wie beim Onkel. Als wären sie unterschiedlicher Abstammung, sagte ich mir und wandte den Blick ab, der wie gebannt war von Vaters mechanisch gleichmäßigem Schritt. Rein äußerlich gesehen hätte jeder von beiden einen anderen Begleiter gebraucht, und dennoch, sagte ich mir, da waren sie, außerstande, ihr Leben anders zu Ende zu bringen, als sie es begonnen hatten.
Mit schrillem Gackern flatterte ein Huhn gegen meine Beine und rannte weiter am Zaun entlang, reckte immer wieder den Kopf zwischen den Latten hinein, fand aber das Tor nicht. Ein schlaksiger Junge mit viel zu langen Beinen holperte mit einem Fahrrad in Schlangenlinien über die mit großen Flusskieseln gepflasterte Straße, er übte. Über einer Kuhle mit an der Sonne rissig getrocknetem Morast öffnete sich der Blick auf das verstörend fahle Stoppelfeld. Ich schwieg weiterhin und vernahm zerstreut Vaters immergleiche abgehackte Sätze, die ich mittlerweile kannte.
»Am Kanal hat mich nur der Wille erhalten, es gab da viele einfache Leute, stämmiger, kräftiger als ich, die nicht durchgehalten haben. Im Winter habe ich mich mit Schnee abgerieben, wenn sie uns zur Arbeit trieben, nur um meinen Organismus abzuhärten. Ich habe die ganze Zeit an einem kaputten Fenster der Holzbaracke geschlafen … Ich dachte damals, ich muss leben, das ist meine erste Pflicht … Ich aß alles, was sie mir gaben, und ließ nichts übrig, einige weigerten sich zu essen, sie sagten, sie könnten nicht, ich aber habe gegessen: wenn es ging und wir übereinkamen, auch zwei oder drei Portionen. Einzig und allein mein Wille hat mich erhalten – jeder andere mit meiner anfälligen Konstitution hätte seine Gebeine dort bleichen lassen. Ich aber habe mir gedacht, ich muss durchhalten, und wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann schaffe ich das auch. Ich habe mir gedacht, es ist meine Pflicht, da raus und zu euch zu kommen, ich habe euch das, wenn ihr euch erinnert, auch ausrichten lassen …«
»So ist es«, antwortete Mutter mit dumpfer Stimme. »Und ich habe es dir geglaubt, obwohl mir niemand recht gab, schließlich kannte ich dich … Ich wusste, wenn du etwas gesagt hast, dann wirst du dich auch dran halten …«
Auch ihre Sätze kannte ich mittlerweile auswendig, und mir wurde bewusst, dass die beiden sich in einem fort genüsslich wiederholen würden. Beim Erzählen änderten sie kaum etwas, sie setzten nichts drauf, dennoch erschien mir alles unwahr, als wäre es nicht so gewesen. Vielleicht sollte man nicht laut sagen, was man leidend und zweifelnd erlebt hat. Vielleicht ahnten sie, dass ihr Leben von heute an nichts Besonderes mehr bieten würde, und kamen deshalb so oft zurück auf das Leid und die Erinnerung, die ihre Häupter wie ein Heiligenschein umgaben. An seiner Stelle hätte Onkel Ion überhaupt nichts von alldem erzählt, sagte ich mir und wandte mich mit unerfindlichem Groll und gegen das Gähnen geblähten Nasenlöchern nach ihm um.
»Bei Ihnen hat man einen Fehler gemacht, haben sie mir gesagt. Fast hätte ich ihnen was entgegnet, aber ich habe geschwiegen, wer weiß, wo ich da wieder hineingeraten wäre … Immerhin, siehe da, die Jahre dort werden mir als Arbeitsjahre für die Rente angerechnet – gibt es überhaupt eine deutlichere Anerkennung meiner Unschuld?«
Unten erhob sich die neue Stadt über der alten, als wollte sie von ihr nichts wissen, ein hybrides Gemisch aus Blocks, zum Teil früh gealtert, zum Teil noch nicht fertig, und alten Häusern mit blätterndem Putz und bröckelnden Stuckfassaden. Ich hatte mich ein wenig zurückfallen lassen, da hörte ich Mutter. Sie redete schon eine ganze Weile, mit einem Mal aber wurde ihre Stimme schrill wie immer, ich kannte das, wenn sie auf Streit aus war. »Wärst du direkt zu uns gekommen, gleich als sie dich rausgelassen haben, hättest du ihn noch lebend angetroffen …«
Vaters scharfe Antwort übertönte ihre letzten Worte: »Du weißt genau, weshalb ich nicht gekommen bin, ich habe es dir so oft erklärt … Ich kann nicht glauben, dass du ein so kurzes Gedächtnis hast, es bedeutet schlicht und einfach, dass du nicht in Betracht ziehen willst, was ich sage, also rede ich umsonst … Ich habe dir erklärt, dass es mir darum zu tun war, korrekt zu sein, erst dann zu kommen, wenn ich einen mehr oder minder geregelten Stand habe. Solange es schwer war, bin ich allein zurechtgekommen, aus eigener Kraft, nicht wie andere, die in dem jämmerlichen Zustand auftauchen, in dem sie dort rauskommen …«
»Das wäre für uns nicht von Bedeutung gewesen, du hättest mir ein Jahr der Qual erspart …«, entgegnete sie mit weicherer Stimme.
Ich erreichte sie, hakte sie ein und packte fest ihren Arm, ich wollte nicht, dass sie wieder stritten. Außerdem glaubte ich ihm nicht, eher glaubte ich Biţă, der mir kichernd zugeflüstert hatte, Vater habe zuerst bei der »Anderen« unterzukommen versucht, aber die »Andere« habe lästige kleine Kinder aus einer anderen Ehe. Außerdem habe er keine Zuzugsgenehmigung für Bukarest gehabt.
»Wieso zwickst du mich, du weißt, wie mich das nervt«, fauchte Mutter und schob meine Hand weg.
In ihrer Stimme schwang der ganze Ärger, der sich in fünfzehn Jahren angestaut hatte. Auch mich packte der Ärger über ihr Bedürfnis, einem alles, was ihr durch den Kopf ging, sofort vor die Füße zu schmeißen, ich nahm die eine Seite des Teiches mit grünlichem Wasser in der Mitte des Friedhofs und ließ sie ihre strengen, missmutigen Gesichter gemeinsam an der Gegenseite entlangtragen.
Ohne den geringsten Zusammenhang fiel mir plötzlich der Ausflug ein, den wir, Mutter, Onkel Ion und ich – wann war das gewesen? –, zu den alten Kirchen in der Umgebung der Stadt gemacht hatten. Klar vor Augen standen mir das warme Viereck der sonnenbeschienenen Tür, hinter der die anderen, die mit uns waren, uns zuriefen: »Jetzt kommt doch mal«, und der von grauen Pfählen bestandene Hügel gegenüber, wo ein Mann mit der Spritze auf dem Rücken die Weinstöcke besprühte. »Diese habe ich noch mit der armen Ştefania gesehen …«, raunte der Onkel. Kniend schrieb er die abgekürzten Inschriften von dem verwitterten Kreuz und der eingesunkenen Grabplatte auf einen Zettel. »Sofort, sofort …«, sagte er zu denen draußen, zu leise, als dass sie ihn hätten hören können. Ich baumelte mit den Beinen in einem kalten Kirchengestühl und versuchte, die Zeit in mir aufzunehmen, wie der Onkel es mir gesagt hatte. Besinnungslos irrten meine Gedanken durch das wachstropfende Halbdunkel, in dem rote Kerzen vor dem Altar flackerten. Zwischen den vom Zahn der Zeit angegriffenen Wänden mit ausgebleichten und rauchgeschwärzten Heiligen spürte ich nichts als die Gegenwart der schwarzgekleideten Alten, die dann und wann mit ihren Röcken raschelte wie eine Maus im Herbstlaub, während sie hinter einer Art Pult auf die ordentlich aufgestellten Kerzen zum Preis von fünfundzwanzig, fünfzig Bani und einem Leu achtete.
Mutter reinigte das Grablicht und bückte sich dann, wobei sie mit der dürren Hand langsam die Tränen abwischte, nach den Gläsern. Sie nahm die alten Blumen heraus, legte sie auf die ausgebreitete Zeitung und ging frisches Wasser holen. Ich setzte mich auf eine Ecke der Krypta. In der Weide hinter dem Kreuz zwitscherten Spatzen, große Ameisen krochen aus dem welken Gras meine nackten Beine herauf. Die Luft war golden und samtweich von der Sonne. Warum weinte Mutter? Warum kümmerte sie sich um das Grablicht und die Blumen? Von Onkel Ion spürte ich hier nichts, der Friedhof summte wie ein abgelegener schläfriger Biergarten. Stimmen klangen von der Hauptallee herüber, wo die Spaziergänger einander nach dem üblichen Sonntagsbesuch begegneten und in dezent verhaltenem Tonfall gegenseitig nach dem Befinden fragten, als hüteten sie sich, jemanden zu wecken, der sich gerade schlafen gelegt hatte. Vater stand steif am Rand der Krypta, die Hände andächtig gefaltet, barhäuptig und mit zusammengekniffenen Lippen.
»Wir beide waren immer in gutem Einvernehmen«, sagte er, »und ich bin ihm sehr dankbar, dass er sich in all den Jahren um euch gekümmert hat … Für dich war er ja, wie ich gehört habe, ein richtiger Vater …«
Ich nickte bedächtig und verkniff mir eine Grimasse bei seiner Rede, die meine dämmrige Schläfrigkeit zerriss. War es wirklich schon drei Wochen her, seit die Ferien begonnen hatten, seit ich Petru vor meiner Abreise zum letzten Mal gesehen hatte? Wie viel Zeit ist vergangen, seit ich mein Gesicht über seine wohlbekannte weiße, von der Umarmung heiß duftende Haut geneigt habe? Ich spüre seinen Körper ganz nahe, an den meinen geschmiegt, von der Hitze da draußen rinnt das Wasser zwischen uns, vielleicht lässt ihn die Verzweiflung der Begierde plötzlich die Zähne zusammenbeißen, und seine Augen werden glasig und streng, als wäre er wütend. Auf der Ecke der Krypta sitzend, war ich von der Sonne des späten Vormittags und von der Erinnerung entbrannt. Als ich ihn nach dem letzten Aufbäumen verstohlen anschaue, finde ich seine Lider irgendwie geschwollen über dem milden und fremden Blick. Er löst sich sanft, aber ich spüre, wie er sich von mir entfernt, während er einen flüchtigen Kuss auf meiner Schulter hinterlässt. Meine unruhige Erwartung fließt durch seine verlangsamten Bewegungen, und wenn ich, während wir miteinander reden, meinen Kopf auf sein nacktes Knie lege, schwellen die Wörter zwischen uns an wie der Sand. Ich weiß, es ist vergeblich, und doch strecke ich meinen scheuen Arm aus, um ihn zu umfangen, und in einem Augenblick der Nachgiebigkeit lässt er es zu. Ich erwarte etwas anderes als all das, was er mir jetzt sagt, ich erwarte es krampfhaft, schließlich ist es das letzte Mal, bis zum Herbst werde ich ihn nicht mehr sehen, und die Sommermonate erstrecken sich vor mir wie ein unendliches Gewässer, dessen Ufer ich nicht ausmachen kann, mit Grausen frage ich mich, wie ich es je erreichen soll. Was bedeuten ihm die Monate unserer Trennung? Er lacht, seine Welt umfängt ihn wieder, und ich weiß nicht, wie ich mir Zutritt verschaffen könnte, ich weiß auch nicht, wie ich ihn aufhalten sollte, mit jedem Augenblick ist er immer mehr ein anderer als ich. Die Traurigkeit höhlt mich aus, und ich bemühe mich gar nicht mehr, ihm zu antworten, denn die Worte steigen mir bis zu dem Knoten in der Kehle und bleiben dort stecken.
*
»Gehen wir jetzt, es ist bald Mittag«, sagt Vater. Mutter nimmt das in Zeitungspapier gewickelte Päckchen und trägt es bis zum ersten Müllkorb auf der Straße.
»Hast du Emil mit dem Kind gesehen?« Sie gingen jetzt Arm in Arm, stützten und behinderten sich gegenseitig. Ihre Schritte hatten kein Gleichmaß, und ich wusste nicht, ob es daran lag, dass beide jahrelang allein unterwegs gewesen waren, oder ob sie, egal, was sie gemacht hätten, zusammen immer so ein Bild abgegeben hätten. Aber die Gesichter, die sie den Leuten auf der Straße zuwandten, verbargen die Auseinandersetzung von vorhin und kündeten nur von der Genugtuung darüber, dass sie endlich so aussahen, wie alle Leute an einem Sonntagvormittag aussehen müssen, Arm in Arm auf dem Korso unterwegs vom Friedhof nach Hause.
»Es muss ihre Idee gewesen sein, denn ihn als Vater hätte ich mir ums Verrecken nicht vorstellen können … Immerhin kümmert er sich um das Kind«, fuhr Mutter fort. Sie haspelte die Wörter schnell herunter, anders als ich sie kannte, in ihrer Stimme lag ein Übereifer, als glaubte sie selbst nicht recht, was sie sagte, und wollte nur unserem Weg durch die Stadt nach Hause einen familiären Anschein geben.
»Allerdings hätte ich nie den Mut gehabt, ein fremdes Kind aufzunehmen … Wenn es wenigstens irgendwie zur Familie gehört hätte, aber so … Wer weiß, wer seine Eltern sind …« Sie ließ den Satz in der Schwebe und sah mich an.
»Wir haben sie gestern zu dritt gesehen, als ich mit Letiţia einkaufen war«, entgegnete Vater mit gleichgültiger Stimme. Das Leben der anderen schien ihn nicht zu interessieren.
Wir waren uns an der Ecke zum Korso begegnet, der Herr Emil hatte uns als Erster gesehen. »Ach, schau einer an«, rief er verlegen und machte sich eilig am Kinderwagen zu schaffen, als müsste er dort etwas verstecken. Matei Alexandru wandte uns sein feistes Gesicht mit dem zahnlosen Kiefer und Milchresten im Mundwinkel zu.
»Ihr kennt euch, nicht wahr?«, sagte der Herr Emil zu Vater und zu der Frau, die ein wissendes Lächeln aufsetzte. »Natürlich kennen wir uns, du hast uns doch schon wenigstens dreimal vorgestellt …« Auch sie beugte sich zum Kinderwagen hinab, betatschte den drallen, an den Seitenstreben festgeschnallten Körper und wickelte die Decke enger um ihn. »Wir müssen uns beeilen, Emil«, raunte sie ihm bedeutungsvoll zu, doch er nickte, ohne sich vom Fleck zu rühren, und lächelte uns an.
»Herrliches Wetter, nicht wahr? Was habt ihr für den Urlaub geplant?«
»Mal sehen, ein Gebirgskurort soll’s jedenfalls sein, das Gebirge ist viel gesünder, zumindest ab einem bestimmten Alter«, sagte Vater ausweichend. »Wir haben noch ein paar Schwierigkeiten zu bewältigen. Margareta weiß noch nicht, wann sie eine Vertretung bekommt, die Sommermonate sind bei ihr die Spitzenzeit …«
»Das wird sich bestimmt regeln lassen«, sagte der Herr Emil zerstreut. In seinen Augen flackerte noch die alte Neugier, und er musterte Vater mit verstohlener Anteilnahme. Der Kinderwagen setzte sich jetzt unter dem Druck einer energischen Hand in Bewegung, aber er zögerte noch, uns zugewandt und mit ausgestreckten Händen in der Luft rudernd – vielleicht wollte er sie uns auch zum Abschied reichen, ich wusste es nicht so recht.
»Wie schade, dass Sie ihn nicht mehr lebend angetroffen haben, nicht wahr, den Bruder – den Herrn Silişteanu! Damals hat er oft von Ihnen gesprochen, und die Schwester, also Ihre Frau, eine bewundernswerte Dame, wie es sie in den seltensten Fällen gibt … Ich hoffe, wir sehen uns noch … Eine Zeitlang sind wir noch ziemlich beschäftigt mit dem …« Er wies nach dem Kinderwagen, der kaum noch zu sehen war und schon fast um die Ecke des Boulevards bog, um sich abschließend noch einmal tief vor uns zu verneigen.
*
Ich ging neben Vater durch die veränderte Stadt. Dies war das wiederaufgebaute Zentrum, wie ich es oft auf Zeitungsfotos gesehen hatte. Wohl nicht gerade dieses, sondern jene anderer Städte, die dem unseren aber so ähnlich sahen, dass nicht einmal wir sie richtig auseinanderhalten konnten. Vierstöckige Blocks, nur am Ende der Reihe ein Turm, das neue Hotel, im Erdgeschoss Läden mit Konfektionswaren, Sportgeräten, Haushaltstechnik, der große Selbstbedienungsladen. Durch die offene Tür des Büfetts Expres drang das Gegröle der Samstagssäufer. Nur wenige Leute aßen eilig an den Marmorstehtischen, auf den anderen drängten sich die Bierflaschen. An meiner Seite war eine Leerstelle, die ich bis hinauf in die Kehle spürte, es war die von Onkel Ion. In den Pfützen auf dem Gehsteig spiegelten sich die blauen Reklamelichter vom Kaufhaus Universal, dem ersten Neubau der Stadt. Die feuchtkalte Luft war dieselbe wie damals an den endlosen Abenden in der Provinz, von denen mich wohl noch manche erwarteten, ein und derselbe Abend war über mir zusammengeschlagen, ich trug ihn in mir und würde ihn wohl nie mehr loswerden. Damals wusste ich nicht, wie viel Zeit mir gegeben war, aber eines wusste ich, hierher wollte ich nicht zurückkommen, niemals. Deshalb saß ich Stunde um Stunde auf meinem Stuhl in der Bibliothek, überprüfte Jahreszahlen und Daten, blätterte immer hastiger. Die Erinnerung an Jahrgänge vor meiner Zeit blieb undeutlich, aber sie drang bis ins Wohnheim, über dieselben Korridore waren seinerzeit Mädchen gelaufen, von denen ich erfuhr, dass sie es ans Institut geschafft hatten, an der Fakultät geblieben waren. Jedes Jahr geschahen solche Wunder, es kam allerdings nicht nur auf die Noten an, sondern auch auf die politische Tätigkeit, zu der ich mich nicht imstande sah und für die ich im Übrigen auch nicht in Frage kam, weil man (wieso eigentlich?) meine Widersetzlichkeit spürte. Auch auf unserer Etage im Heim wohnte eine Assistentin, die sich etwas steif und fremd unter uns bewegte. Wenn ich sie sah, beobachtete ich sie mit neugieriger Bewunderung, obwohl es ihr noch nicht gelungen war, ihr Leben auf das der Stadt einzustimmen. Im Vergleich zu den neuen Jahrgängen wirkte sie gewöhnlich verkrampft, und ihre Kleider glichen noch sehr den unseren. Ihr fehlte die feine Ausstrahlung ihrer Bukarester Studentinnen aus gutem Haus. Die Gewandtheit, mit der diese die Mode ausländischer Zeitschriften übernahmen, die Sachen aus dem Westpaket, die silbernen Armbänder und Ringe, die Bernsteinketten, geerbt oder im Pfandhaus gekauft, der Gebrauch ausländischer Kosmetik, den man zu Hause von koketten Müttern erlernte. Die bildeten mitten unter uns kleine kompakte Gruppen, kamen zu Feten zusammen, die uns nicht zugänglich waren, deshalb beobachteten wir sie reserviert und misstrauisch, fürchteten uns vor ihren allzu freizügigen Witzen, vor ihrer Ungezwungenheit und ihren Beziehungen. Ihr Leben erschien uns anders als das unsere und als das anderer Bukarester; auch nach dem Abschluss würden sie nicht von hier weggehen, egal, wohin sie zugeteilt wurden, sie würden eine Weile bei den Eltern bleiben können, bis sie sich arrangierten.
*
Ich habe bis zur letzten Minute gelesen, die ich jetzt plötzlich auf dem großen Zifferblatt der Bibliotheksuhr angezeigt sehe. Die Tasche über die Schulter geworfen, renne ich fast und freue mich auf den Fußweg, den ich noch zurückzulegen habe, freue mich, dass ich auf Petru warten und mit ihm reden kann. Du bist von zu Hause weggegangen, als ich dich zu der abgemachten Zeit angerufen habe, sage ich ihm leise, aber ich bin nicht mehr böse, wieso, weiß ich nicht. Ich weiß, dass wir uns noch lange Zeit immer wieder treffen werden, deshalb habe ich keine Eile und verlangsame meine Schritte, es ist wieder die unbestimmte Stunde des Nachmittags, die ich so liebe, sie wirft schlaffe warme Schatten auf den Asphalt, die in der Sonne flattern. Diese senkt sich hinter den Blocks hinab und erfüllt die Luft mit dem fremdartigen Ruf des Abends und der schuldhaften Unrast, die in mir aufsteigt.
Ich bin, ohne es zu merken, in seinem Viertel angelangt, an meinem eiligen Schritt ziehen vierzig, fünfzig Jahre alte Villen vorüber, Imitationen in florentinischem oder maurischem Stil, feste Steinmauern, überladen verzierte Balkons, Spitzbögen über den Fenstern. Vor den Scheiben hängen Schleier üppigen Efeus, ebenso alt wie die Villen und deshalb so dicht. Sie lassen in den Mauern Augen von seltsamer Form frei, das Blattwerk verschattet die Scheiben, und die Räume dahinter sind dunkel. Jedes der Häuser, an denen ich vorbeikomme, ist nichts als ein merkwürdiges Tier in einem grünglänzenden Schuppenpanzer, strotzend vor sommerlicher Kraft. Die Wahrzeichen der guten Wohngegend, in der ich mich befinde, sind der Efeu und die Linden, unter denen ich gehe. Es riecht welk und scharf süßlich, der Blütenstaub vereint sich mit dem Straßenstaub, den der Wind aufwirbelt, zu langen goldgelben Streifen auf den Gehsteigen. In den asphaltierten Höfen hinter den halbhohen Gitterzäunen blühen auf geometrisch angelegten Rabatten riesige gelbe Rosen ohne Duft. Aus irgendeinem Obergeschoss hört man durch das weit geöffnete Fenster ein Tonbandgerät und das Mitgrölen ausgelassener Halbwüchsiger. Die hohen, elegant sich wiegenden Kinderwagen, denen man begegnet, werden von andächtigen Großmüttern geschoben, immer noch gut aussehenden Damen in sportlichen Hosen oder Röcken mit ergrautem Haar, diskret geschminkt. Irgendwo ist immer noch die Erwartung, sie allein macht mich froh, in meinem neuen Körper bin immer noch ich, die von einst, ich versuche mich des Lebens zu freuen, und mir ist, als könnte ich es auch jetzt noch nicht richtig.
Ich bin da, ich betrete das kalte Treppenhaus des Blocks aus der Zwischenkriegszeit, die schwarzen Stufen weisen einladend aufwärts, doch ich verharre noch einen Moment vor den Knöpfen des Aufzugs, denen die Zeit und der Gebrauch zugesetzt haben.
*
»Wieso schweigst du denn die ganze Zeit, geht’s dir nicht gut?«, sagte Mutter und blieb stehen, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen.
Im Gesicht, das sie mir zuwandte, las ich Vorwurf und Schuldbewusstsein. Sie weiß nicht recht, wie sie sich aufteilen soll zwischen mir und ihm, sagte ich mir trotzig und zuckte die Schultern, sie möchte, dass wir glücklich aussehen wie eine wiedervereinte Familie, hat aber vergessen, wie so etwas ist, oder hat es überhaupt noch nie zu sehen bekommen. Auf seine Art erwartet das wahrscheinlich auch Vater, darum streift er mich hin und wieder mit einem argwöhnischen Blick. Ich wusste selbst nicht, wieso ich mich derart widersetzte, vielleicht weil beide so oft auf mich einredeten, vielleicht weil ich zweifelte, dass es wirklich glückliche Familien gibt, vielleicht weil meine Familie ohne Onkel Ion nie mehr eine ganze sein würde.
»Ich gehe mir die Zeitung holen, ich warte nicht mehr auf die Post«, sagte Vater und entfernte sich plötzlich, diskret oder verärgert.
»Dauernd schmollst du … Was meinst du denn, wie soll er dir dann näherkommen? Du solltest bedenken, ihm fällt das auch schwer, nach all den Jahren, und er hat doch die besten Absichten …«
Da haben wir’s, jetzt hat sie auch schon seine Floskeln übernommen, sagte ich mir und verzog das Gesicht. »Ich habe nur die besten Absichten, bei allem, was ich unternehme«, wiederholte Vater mehrere Male täglich.
»Was tue ich ihm denn? Wenn er mich was fragt, antworte ich, was soll ich ihm denn sonst sagen?«, gab ich zurück und wollte sie mit meiner Gleichgültigkeit verletzen.
Ich wusste nicht genau, wieso, aber ich hätte es gern gehabt, dass es ihr leidtat, derart versöhnt vom Friedhof zurückzukehren. Sie ist eine Frau, ganz einfach eine Frau, das ist alles, sagte ich mir und hütete mich vor ihrem Blick, da kann sie noch so oft sagen, sie hätte ihn nicht vergessen … Sie will es gar nicht wahrhaben, dass sie nur noch aus Gewohnheit zu Onkel Ion geht, Vater dessen Platz aber ganz und gar eingenommen hat.
Irgendwie hatte Vater auch mir den Platz weggenommen, zumindest erschien es mir äußerst befremdlich, dass sie sich mit jemand anderem genauso viel abgab wie mit mir. Wahrscheinlich glaubt sie noch immer nicht so recht daran, dass er zu ihr zurückgekehrt ist, sie fürchtet ständig, wir könnten ihn nicht zufriedenstellen und er würde wieder gehen, sagte ich mir schadenfroh und warf ihr einen giftigen Blick zu, nahm mich aber sofort wieder zurück. Ihre tiefliegenden Augen standen voll Tränen, aus ihren Lippen war alle Farbe gewichen. Sie ist beinahe eine alte Frau, dachte ich verwundert, und mit einem Mal wurde mir bewusst, wie schwer es ihr fallen würde, wieder die Einsamkeit zu ertragen, und wie wenig Platz sie eigentlich in meinen Gedanken einnahm.
»Lass nur, wir werden uns gewöhnen und alles wird anders mit der Zeit, du wirst sehen«, flüsterte ich und nahm ihren Arm.
Ich hasste ihre Tränen, die mich gezwungen hatten, dies zu sagen, obwohl ich es nicht glaubte. An mir lag es nicht, dass ich Vater nicht ähnelte und er mir nicht nahe war. Aber vielleicht haben sie ja auch recht, sagte ich mir, wenn auch ohne Überzeugung, wie unangenehm es doch ist, wenn jeder ein bisschen recht hat, und vor allem wie unangenehm, wenn man es einsieht. Irgendwie ärgerte es mich wohl, dass ich sah, wie auch sie etwas Neues anfangen wollte und alles bisher Erlebte zur Seite schob. Als hätte nur ich dieses Recht, als müsste das Leben nur für mich immer neu beginnen.
*
Petrus Blick folgt mir unruhig, weil ich schweige. Ich spüre ihn in der Schwärze des Zimmers, ich ahne, was er sich fragt; ich schließe die Augen und schmiege meinen Kopf möglichst fest an seine Schulter, es ist so gut und beruhigend, seine Fürsorge zu spüren. Dennoch weiß ich, dass ich nichts werde sagen können; hin und wieder erfasst mich ohnmächtige Trauer bei dem Gedanken, dass ich jede von Onkel Ion geschriebene Zeile, seine ganze sterile und abgehobene Selbstlosigkeit entweihe. Meine als Hingabe getarnte Anstrengung hat von vornherein Petru gegolten, auf ihn lauert meine Eitelkeit im kühlen Halbschatten des Zimmers. In meinem Rücken hat sich das Dunkel verdichtet und verfilzt sich in dem fremd wirkenden Zimmer. Wenn ich mich umdrehe, ragen die schwarzen Möbel vor mir auf, und ich belauere sie abwartend. Deshalb bewege ich mich auch gar nicht mehr und verharre wie auf ungewisser Schwelle. Das Licht dringt aschgrau durchs Fenster, mit roten und grünen Striemen von den fernen Leuchtreklamen.
»Schauen wir mal, was du noch gemacht hast«, sagt Petru und geht zum Lichtschalter.
Ewas schwankt in mir, ich möchte ihn davon abhalten, aber dazu ist es zu spät. Die Glühbirnen des schweren Lüsters tauchen die gezähmten Dinge, die nun nicht mehr in der Unbestimmtheit des Abends aufgehoben sind, in ein fahles Gelb. Ich spüre, wie dieses Licht mich zerreißt, während ich die zerknüllte Überdecke wie eine bunte Toga um mich schlage und ins Bad gehe, um mich anzuziehen.
Als ich zurückkomme, sehe ich, wie er am Schreibtisch den Anfang des Artikels liest, den ich aus dem Kapitel des Onkels irgendwie zusammengeschustert habe. Manchmal runzelt er unzufrieden die Stirn, tastet nach einem Stift und kritzelt etwas an den Rand. Der Stift durchbohrt das Blatt, ich höre, wie es knackt, plötzlich ist mir nach Lachen zumute und ich beobachte ihn mit anderen Augen. Wie er zerstreut unterm Tisch nach den Pantoffeln sucht, wie er ein halbes Gähnen zwischen den Kiefern zermalmt. Er steht auf und sucht ein Buch im Regal, er bemerkt meinen Blick und legt mehr Schwung in seine Bewegungen. Für mich bedeutet dies, dass unsere Körper sich mittlerweile aneinander gewöhnt haben und dass nur ich es bin, die in ihm manchmal einen anderen sieht. Zunehmend rundet sich sein Bild in meinen Augen, verstreut liegen die Schalen bekannter Gesten herum, die ich mit beständigem Eifer einsammle, als steckte irgendeine Bedeutung darin.
»Koch du inzwischen Kaffee«, sagt er nach einer Weile, ohne aufzusehen.
Das Wasser brodelt in der Kanne, ich nehme sie vom Feuer und zähle lautlos die Löffel Zucker und Kaffeepulver. Die Stille, in der er mich gefangen hält und die ich selbst gewählt habe, erscheint mir fast schon greifbar. Mein Körper und die nunmehr wohlbekannten Handgriffe sind der Preis für den Eintritt in sein fremdes Leben, wie ich mit gelassener Enttäuschung erahne. Worte, die ich ihm nicht gesagt, auf die ich lieber verzichtet habe, kommen mir in den Sinn, als ich mich vorbeuge, um den Knopf des Kochers herunterzudrehen. Mit gesenktem Blick gehe ich durch ihren Dunst und achte auf die heiße Kanne, um nichts zu verschütten. Er hat den Kopf in die Hände gestützt, meine Schritte stören ihn nicht, längst hat sein Schweigen meine Bewegungen gedrosselt. Also gieße ich das bittere Getränk in die schweren Tassen, unter den langen Haaren sieht sein jugendlicher Nacken, traurig gebeugt, aus dem Hemdkragen hervor.
»Da ist er«, sage ich laut.
Er hebt den Blick, Begehren liegt eine Sekunde lang darin, ich spüre regelrecht, wie sie vergeht. Das Wasser in seinen Augen ist wieder kühl, ihre Farbe ist wieder stabil. Er nickt zustimmend und zieht die dampfende Tasse mit derselben absichtsvoll nachlässigen Bewegung über das Kristallglas des Schreibtischs zu sich heran.
»Bis hierher bist du also gekommen«, sagt er und schiebt die Papiere zur Seite, um den Kaffee zu schlürfen. »Du musst wirklich zusehen, dass du fertig wirst, bevor du in die Ferien fährst …« Er runzelt die Stirn und setzt die Tasse ab. »Verstehst du? Du musst das hinkriegen, ich will nichts hören von Prüfungen oder so … Geh weniger spazieren, schlaf weniger …«
»Ruf mich nicht so oft an …«, äffe ich ihn mit Mutters schneidender Stimme nach, die ich so leicht abrufen kann, dass ich gar nicht weiß, ob es meine ist oder ob ich sie nur imitiere. Beleidigt starre ich auf das dunkle Viereck des Fensters.
»Ist ja klar, du fasst das immer so auf«, gibt er gereizt zurück, mit den Worten des Onkels, die er gar nicht kennt. Er zieht die Schublade heraus und knallt die Zigarettenpackung auf den Tisch. Dieselbe brutale Rücksichtslosigkeit, bei der ich mich frage, ob er sie immer schon gehabt oder erst nach und nach versucht hat, seine schüchternen Bewegungen damit zu überspielen.
Ich höre ihm einigermaßen andächtig zu, wohl wissend, dass ich, hätte mir sonst jemand so etwas gesagt, genickt und es sofort wieder vergessen hätte. So wie ich auf ihn höre, mich widersetze, widerspreche und dennoch behalte, was er mir sagt, so habe ich sonst nur auf Onkel Ion gehört. Vielleicht suche ich in Petrus tiefer, verhaltener Stimme nach dem Onkel, lauere bei jeder Begegnung auf seine zurückhaltende Sanftheit, verkrampft, enttäuscht und immer wieder voller Hoffnung. Jeden Satz, den Petru fallen lässt, nehme ich auf und wiederhole ihn abends im Bett, keines der Mädchen weiß davon. Deshalb springe ich so oft vor den Spiegel, stehe sehnsüchtig vor den Schaufenstern und wünsche mir Kleider, in denen ich mich, ohne dass ich mich schämen müsste, auf der Straße an seiner Seite zeigen könnte. Und immer meine ich, ich sei noch nicht weit genug, seine Wohnung legt mir das Gefühl des Lebens, das ich mir wünsche, so nahe, dass ich es mit Händen greifen kann.
Ich frage mich nicht, ob dieses Leben am Ende vielleicht ebenso beengt ist wie mein bisheriges, wie mein Leben im Heim. Hier ist die unsichtbare Schwelle, die ich erahne, hier ist der Mittelpunkt der Welt, hier ist das ganze Universum. Ich weiß nicht, ob seine Gestalt jene Welt reflektiert, die ich suche, oder ob jene Welt ihm diese Kraft gibt, die mich erbittert.
*
»Es war gut, dass wir diesen genommen haben«, sagte Vater und schloss mit Bedacht die Tür des Kühlschranks; sanft strichen seine Fingerkuppen mit den harten trockenen Nägeln darüber, dann brachte er die kältebeschlagene Wasserflasche auf den Tisch. »Ich verstehe nicht, wieso ihr in den Jahren, als es immerhin schon etwas gab, nichts gekauft habt … Ion hatte eben bei all seinen Vorzügen, und ich bin der erste, der sie anerkennt, überhaupt keinen Sinn fürs Wirtschaften, das weiß ich noch sehr gut …«
Er nahm, geschäftig und zufrieden, im Sessel Platz, dann hob er das Tellerchen mit dem Kompott zum Mund. Es war die Zeit, zu der Onkel Ion immer den Nachmittagskaffee kochte, jetzt aber wurde kein Kaffee mehr getrunken, Vater hatte nämlich Magenbeschwerden.
»Ich meide jede Aufregung, den Alkohol, den Kaffee, dort, wo ich war, habe ich sogar auf die Zigaretten verzichtet, das ist das einzig Gute, das ich von dort mitgebracht habe«, sagte er. »Ab einem bestimmten Alter muss man auf sich achtgeben und sich gesund erhalten, das ist eine Pflicht …«
Immerhin trank Mutter morgens noch Kaffee. Jetzt spürte ich ihre Anspannung, sie war drauf und dran, ihm zu antworten, ihre Empörung war allerdings konfus, sie gab ihm ja, logischerweise, recht. Deshalb klang die Stimme, mit der sie Worte der Entschuldigung sprach, feindselig.
»Du meinst wohl, wir wären auf Rosen gebettet gewesen … Wir hatten noch nicht mal eine Wohnung, wie hätten wir da an einen Kühlschrank denken können, wo hätten wir den überhaupt hinstellen sollen?«
»Ab dem Herbst, sobald wir den Fernseher gekauft haben, werden wir für ein Auto sparen … Wir müssen diese Jahre nutzen, die ich noch nicht in Rente bin, denn danach …«, entgegnete er gelassen und nahm sich ein weißes Blatt Papier vor.
Jeden zweiten Sonntag schrieb er Briefe an seine Schwägerin und an die einzige Schwester, die er noch hatte, er schrieb sie schnell, während er mit uns redete, und am Schluss las er sie uns laut vor.
»Hier werde ich sehr geschätzt, der stellvertretende Direktor selbst hat mir dieser Tage gesagt, ein Mann wie Sie hat uns hier gefehlt, das ist jetzt mein Beruf, habe ich ihm gesagt, früher habe ich operiert, aber aufgrund widriger Umstände musste ich lange Zeit unterbrechen, ich glaube, er hat verstanden, was ich damit sagen wollte. Also habe ich von mir aus verzichtet, habe ich ihm gesagt, freiwillig. Man muss immer selbst merken, wenn es nicht mehr geht, und rechtzeitig aufhören, damit einen nicht andere verdrängen.«
Von meinem Platz aus sah ich Mutter, wie sie sich im Badezimmerspiegel betrachtete. Immer öfter überraschte ich sie in letzter Zeit dabei, wie sie ihre grauen Haare ungelenk zu richten versuchte, wenn sie auch zögerte, sie auf Vaters Rat zu färben, oder die geschwollenen Ringe unter den Augen abtastete. Vielleicht hatte sie meinen Blick gespürt, oder es war nur das Aufbegehren einer Frau, die ihr Leben lang nie kokett gewesen war. Jedenfalls nahm sie den Kamm und strähnte die allzu straff eingedrehten Locken ihrer neuen Dauerwelle aus, dann wandte sie ihr Gesicht plötzlich vom Spiegel ab und vergaß es sofort. Sie setzte sich auf den Stuhl neben Vater und kreuzte die Arme im Schoß.
»Du hast große Pläne, und das ist recht so, aber …«, begann sie.
Ihre Stimme, in Härte geübt, sollte weich klingen, doch die Unzufriedenheit war nicht zu überhören. Ich streckte mich auf ihrem Bett aus, ein Buch in der Hand, las eine Zeile nach der anderen, ohne irgendetwas zu behalten.
»Der Mensch muss immer nach dem Besseren streben, das liegt in seiner Natur, selbst wenn die Umstände ungünstig sind«, predigte Vater. Er nahm den Briefumschlag vom Tisch, befeuchtete ihn mit der Zunge, steckte den Brief hinein und klebte ihn dann zu, indem er mit der Faust dumpf auf dem Tisch herumhämmerte.
»Du hast natürlich einen weiteren Blick, aber im Herbst wird es schwieriger, als es jetzt ist, Letiţia fährt zur Fakultät, wir müssen ihr dieses Jahr einen Mantel machen lassen, und dann ist auch noch das Geld, das wir ihr jeden Monat schicken …«
»Das Kind sollte sich früh daran gewöhnen, mit Schwierigkeiten zurechtzukommen, sonst ist es nicht darauf vorbereitet, ins Leben einzutreten …« Nur an Vaters Hals fältelte sich die welke Haut, ansonsten war sein untersetzter Körper straff und sein Schritt fest, als er aufstand und den Einschaltknopf des Telefunken-Radios betätigte. »Das Radio verkaufen wir, ich habe schon mit jemandem gesprochen«, sagte er und ging zur Tür.
Zu dieser Zeit lief er hinunter und holte die Zeitungen aus dem Briefkasten, deshalb ballte sich mitten in meiner Brust ein riesiges Knäuel Unruhe, der meine Hände und Füße plötzlich erkalten ließ.
Ich kauerte mich zusammen, schloss die Augen und wartete, wartete in einer Dumpfheit, die nur durch das Pochen des Blutes in den Schläfen belebt wurde. Erst ganz spät, etliche Minuten später, hörte ich seine Schritte die Treppe heraufkommen, seine Hand die Klinke herabdrücken und dann seine Stimme teilnahmslos sagen: »Da, du hast eine Ansichtskarte …«
Mutter schnellte von ihrem Stuhl hoch und wollte sie mir aus der Hand nehmen, ich aber legte sie gelassen in mein Buch. Ich hatte Petrus Schrift erkannt und die in blauem Glanz erstarrten Meereswellen auf dem Foto gesehen.
»Demnächst ist auch noch die Hochzeit von Marta«, rief ich ihnen mit vergnügter Stimme in Erinnerung und begann zu lachen.
Ihre Gesichter verfinsterten sich.
»Ja, richtig, da steht auch noch ein Geschenk an«, sagte Mutter. Sie nahm wieder ihre Handarbeit auf. Zwar verkaufte sie keine Pullover mehr wie damals, aber das Stricken war ihr zur Gewohnheit geworden. Sie trennte unsere alten Jacken auf und arbeitete sie um, jetzt strickte sie an einer Winterweste für Vater.
*
Ich weiß nicht, wo das Foto von ihrer standesamtlichen Trauung später hingekommen ist, das auf den Rathaustreppen aufgenommen wurde. Marta hatte natürlich weiße Gladiolen im Arm, und wir alle kniffen in der Julisonne die Augen zusammen. Wir blickten wahrscheinlich in den öffentlichen Park mit Rabatten, in denen rote Blumen die Schriftzüge kurzer Losungen nachzeichneten, zu den leeren Bänken und vor allem zur Statue des Achtundvierziger-Revolutionärs Nicolae Bălcescu, der in der Nähe der Stadt sein Gut gehabt hatte. Wir wussten, dass er es war, sein Name stand auch mit großen bronzenen Lettern auf dem Sockel, sonst hätten wir vielleicht seinen eckigen Körper nicht erkannt und auch nicht die rhetorische Geste, mit der er eine grob gearbeitete Faust demonstrativ zum Dach des neuen Postgebäudes und zu den Gerüsten auf dem Neuen Korso emporreckte. Sie haben ihn Lenin und Stalin ähnlich gemacht, hatte Onkel Ion verärgert gebrummt, als er das Standbild sah. Dabei hatte sich alle Welt gefreut, als die Statue wenige Monate zuvor im Park enthüllt worden war. Es war immerhin die einzige in der Stadt, früher hatte es eine andere gegeben – wahrscheinlich von George Brătianu, dem Ministerpräsidenten der Zwischenkriegszeit –, daran erinnerte sich aber kaum noch jemand. Nachdem man sie über Nacht abmontiert hatte, hatte der niedrige, grün bemooste Sockel noch eine Weile da gestanden, doch als man den auch abgeräumt hatte, war der Platz an der Wegkreuzung, der im Volksmund »Bei der Statue« hieß, leer geblieben.
»Es hat so sollen sein«, raunte mir Martas Mutter zu und lauerte auf die Missbilligung in meinen Augen. »Wir hatten einen Jungen aus guter Familie für sie ausgeguckt, alles war abgesprochen, aber sie wollte nichts davon wissen … Nun, was will man tun, ich weiß, dies ist ihre große Liebe, es hatte keinen Sinn, da einzugreifen«, seufzte sie. »Bedient euch doch bitte, nur zu …«, rief sie plötzlich und lief fuchtelnd zwischen den Tischen mit Vorspeisen und Schnaps hin und her.
Da fiel mir Barbu ein, er hatte mich an dem Tag besucht, als ich mich auf den Weg nach Hause machte. Am Morgen hatte die staatliche Stellenzuteilung stattgefunden, und er war, wie ich erwartet hatte, in einem Dorf in der Moldau gelandet. Sein Gesicht war zerknittert vor Schlafmangel, die Schuhe völlig verstaubt, er hatte wer weiß wie viel sonst noch zu laufen gehabt an jenem Tag. Er redete viel, sagte aber nur ein und dasselbe, er habe nicht die Absicht, dorthin zu gehen, und werde alles dransetzen, um vom Ministerium freigestellt zu werden. Ich erklärte ihm, dass ich noch nicht gepackt hatte und auch die Bettwäsche noch abgeben musste, und lief schnell zurück ins Heim.
Marta, die immer noch den Schleier trug, mit dem sie in der Kirche gewesen war, tuschelte in einer Ecke des Hofes mit den Trauzeugen. Das waren alte Freunde der Familie, und die Frischvermählten hofften, durch ihren Einfluss irgendwann beide, sie und Dinu, an Stellen in der Stadt heranzukommen. Der betonierte Hof war mit Tischen vollgestellt, sie reichten bis in den Vorgarten, wo die gelblichen Ochsenherztomaten vom Staub bepudert wurden, den die sommers über die Straße rumpelnden LKWs aufwirbelten. Die Hochzeit fing erst an, die Stimmung war noch verhalten, die Gäste übten sich in Höflichkeit und bewegten sich schwerfällig, wie gelähmt von der Feierlichkeit des Augenblicks. Umso dankbarer waren sie dem Bezirksbevollmächtigten, dass er es auf sich nahm, das Eis zu brechen. »Das ist ja vielleicht ein Lebemann«, raunten sie sich zu, während er von einem Tisch zum anderen ging und rief: »Langt zu, langt zu …«, bis er schließlich dort stehen blieb, wo Dinus Brüder saßen.
»Dieser Bezirk bereitet mir das meiste Kopfzerbrechen«, sagte er und verzog trotz des Gelächters keine Miene, hochrot von der Hitze und der scharfen Luft der Baustelle, auf der er arbeitete, seit er seinen Abschied von der Armee hatte nehmen müssen. »Mit solchen Leuten kriegen wir den Sozialismus nicht mehr gebacken vor der Zeit …«
Es wurde kühl, irgendwann regnete es auch ein bisschen.
»Eine Hochzeit mit Regen, die Braut hat aus dem Kochtopf genascht«, lachte Dinus Mutter.
Sie saß an der Spitze des Tisches, hatte die Hände im Schoß verschränkt und lugte unter dem Kopftuch hinüber zu Dinus Brüdern, die, seit der Tanz begonnen hatte, nebeneinander an der Hauswand lehnten. Erst als der Wein fast alle war, stand die Alte auf und hob jauchzend die Hände über den Kopf. Und da begannen sie alle zu tanzen, sie stampften, krallten sich mit den Fingern in der Schulter des Nächstbesten fest, in Hemden und Kleidern, die verschwitzten Gesichter liefen immer röter an, die Haare glänzten vor Schweiß und Brillantine. Und als die Tänzer, wie es gerade kam, auf die herumstehenden Stühle um die vom verschütteten Wein dampfenden Tischtücher und die vollgeaschten unabgeräumten Teller voller Apfelschalen, Bratenresten und Knochen für den Hund niedergesunken waren, ging die Alte in die Sommerküche zu Martas Mutter, die gehäufte Kaffeelöffel in das im Suppentopf brodelnde Wasser zählte.
»Seien Sie nicht böse«, sagte sie und führte die Hand zum Mund, als wollte sie die Worte nur nach und nach durch die knorrigen schwarzen Finger dringen lassen. »Wir verdächtigen niemanden, aber wissen Sie, das ist halt Brauch bei uns, wir möchten das Brautlaken ausloben …«
*
Ich schlich mich im Schatten der Mauer davon, ging in Martas früheres Zimmer und ließ mich mit geschlossenen Augen aufs Bett fallen. Die Möbel treiben, wie zuvor, mit jedem Atemzug aufwärts, festhalten kann ich mich nur an der Nachttischlampe, die über aufgeschlagenen Büchern brennt. Da ist nur ein gelber Lichtfleck, der den Halbschatten und die faltige Überdecke beleuchtet, in der sich die Umrisse seines Körpers abzeichnen, der ausgestreckt daliegt, ein einsamer Mann. Ich finde hinein, die Möbel sind zahm geworden wie auch sein mattes sanftes Lächeln, wenn er seinen schläfrig weichen Blick in meine Augen fließen lässt, wenn er gestikuliert und dabei über die Schilfmatte an der Wand streicht, die zart raschelt. Ich kann nicht mehr zurück und verharre im Bann des Schweigens, das ihn umfängt, bis seine Hand unfreiwillig durch mein langes Haar streicht und seine Arme noch zögern, etwas zu sagen.
Gewissheit aber werde ich erst haben an dem Tag, wenn der Himmel aschgrau und steinern sein wird vor Wolken, die in dem plötzlich aufkommenden Wind dahinjagen. So stark wird der Wind sich erheben, dass er den Straßenstaub aufwirbelt und die schlaffen, verknitterten roten und trikoloren Fahnen bläht, mit denen die Blocks des Korsos und die öffentlichen Gebäude anlässlich des Nationalfeiertags am 23. August geschmückt sind. Weder die auf dem Markt errichtete hölzerne Tribüne noch die Megaphone werden abgebaut sein, aus denen gestern eine kräftige Stimme rief: »Zusammenbleiben …, Kopf hoch, Brust raus, so, nicht rennen, nicht rennen … Achtung, die Kolonne rechts … So, so, Blumen und Fähnchen schwenken …« Überlagert wurde diese Stimme durch jene des Rundfunksprechers, die ratternd von der Kundgebung der Werktätigen in der Hauptstadt berichtete. »Jetzt nähert sich ein Themenwagen der offiziellen Tribüne, es sind die tüchtigen Arbeiter von …«
Wie immer nach der Kundgebung, schon wenige Stunden nach deren Ende, wird die Stadt verödet sein, auf der Schnellstraße werden die Autos in Richtung Gebirge rollen, und von dort werden uns neue graue Wolken entgegenquellen, vom Zickzack der ersten Blitze rot durchzuckt. Der Regen wird unmerklich mit scharfen kalten Nadeln einsetzen, anfangs wird ihm niemand Beachtung schenken, und dann werden alle rennen und in den noch nicht abgerissenen feuchten Durchgängen Unterschlupf suchen. So wird es die ganze Nacht hindurch regnen, und morgens, wenn ich aufwache, werde ich den Himmel immer noch grau vorfinden. Spät wird der Wind immer größere blaue Augen darin aufreißen. Am Nachmittag wird es wieder heiter sein, aber die weißen Wolken werden von dem kalten und durchsichtigen Sonnenlicht allzu grell erstrahlen. Auch das Licht wird von jetzt an ein anderes sein, es wird eine unnahbare Ferne in sich tragen, die starren Blätter mit holzigen Adern werden ein erstes Mal rauschen, und zwischen den Zweigen werden unendlich lange Spinnwebfäden glitzern wie Schleimspuren von Schnecken. Der Robinie werden die Blätter davonfliegen, und vom Fenster unserer Wohnung aus werde ich es dankbar zur Kenntnis nehmen. Ich werde wissen, es ist der erste Tag des beginnenden Herbstes und es dauert nur noch ein paar Wochen, nicht einmal einen ganzen Monat, bis das Studienjahr beginnt, bis ich Petru wiedersehe.