Kapitel XVIII
Ich hatte überhaupt keine Zeit diese Woche«, sagte Petru Arcan und stand auf, um mich zu begrüßen. »Ich war so verplant, dass ich es vergessen habe … Erst als Sie mich angerufen haben, ist es mir eingefallen, und mittlerweile habe ich mir das auch angesehen, was Sie mir letztes Mal dagelassen haben …«
Ich blieb auf halbem Weg stehen und senkte den Blick, damit er meine Enttäuschung nicht bemerkte, aber meine Wangen glühten vor Zorn über die Demütigung. Er hatte noch nicht einmal daran gedacht, und ich hatte sorgfältig die Tage gezählt, damit genau eine Woche verstrich und ich nicht etwa zu spät oder zu früh wiederkam. Während ich so da stand und zähneknirschend den Teppich anstarrte, dachte ich, es wäre am besten, sofort zu verschwinden mit den vergilbten Blättern meines Onkels, die ich verloren unter all den anderen auf dem Schreibtisch liegen sah, und diese Polstertür nie wieder zu öffnen. All die stolze Feigheit von Onkel Ion stieg plötzlich in mir hoch, ich spürte sie in den vor Verlegenheit weichen Beinen, die sich weder vor noch zurück trauten. Und doch glaubte ich nicht restlos alles, was ich mir störrisch einredete. Es hätte ja bedeutet, dass ich den Gedanken, den ich seit Wochen mit mir herumtrug, aufgab und damit meine Vorstellung von einem Eintritt in die Welt des Studiums und des Erfolgs. Eigentlich wartete ich weiter auf ein Zeichen, und sei es noch so klein, dass ich bleiben konnte.
»Trinken Sie einen Kaffee?«, fragte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er mit aufmunterndem Lächeln an mir vorbei und rief etwas durch die Tür.
»Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht vor lauter Arbeit«, bemerkte er, als er zurückkam.
Er setzte sich mir gegenüber und presste die langen knochigen Finger an die Schläfen mit den krausen Haaren, unter denen ich mit einer merkwürdigen Genugtuung, als wäre es eine unerwartete Offenbarung, etliche weiße entdeckte. Es war so still, dass ich selbst zusammenzuckte, als ich meine Schuhsohlen über das Parkett schleifen hörte. Durchs Fenster sah ich auf den verwaisten Platz in der dunstigen Nachmittagssonne. Alles andere geschah jenseits, von dort kam das gleichmäßige, monotone Rauschen der Stadt, und der Ton schraubte sich spiralförmig durch die weit geöffneten Fenster ins Zimmer. Hier jedoch waren nur wir, die Schritte auf dem Gang wurden vom Teppich geschluckt und die Stimmen von den Wänden aufgesogen, ehe sie zu uns drangen.
Ich nickte, obwohl er mich nicht ansah. In seinen von vielen Pausen unterbrochenen müden Worten erkannte ich die Bedeutung der Dinge, die seinen Alltag ausmachten, und bezog die wehmütige Hochachtung davor auch auf mich selbst – wer weiß, weshalb, vielleicht auch nur, weil er ausgerechnet mir davon erzählte. Mein gekränkter Ärger von vorhin war verflogen, und ich staunte nur betroffen über meine verwegenen Ansprüche. Wie hätte er sich denn an mich und die Arbeiten meines Onkels, deren Wert ich gar nicht kannte, erinnern sollen, mitten in diesem weitab von allem anderen ablaufenden Ritual, in dem die wissenschaftlichen Arbeiten auf eine dermaßen geheimnisvolle Art und Weise herausgegeben wurden, dass ich mir überhaupt keine Vorstellung davon machen konnte? Ich saß mit angespannten Muskeln auf der Stuhlkante und war überzeugt, dass er es zu schätzen wusste, wie ich aus einem Beschützerinstinkt heraus schwieg, um ihn zu schonen.
»Aber zurück zu unserer Sache …«, sagte er. Er hatte auf einmal eine ganz andere Stimme, als er sich die Papiere meines Onkels vornahm und sich eine Zigarette in den Mundwinkel steckte, vorerst ohne sie anzuzünden. Zu meiner Enttäuschung verwies er die Dinge auf ihren Platz und stellte den Abstand zwischen uns wieder her.
»Ich glaube, ich habe mir ein Bild davon machen können, worum es geht … Sie haben mir wohl nur ein Kapitel aus einer umfangreichen Arbeit gebracht …«
Ich nickte automatisch wie zuvor.
»Alles kommt natürlich nicht in Frage, aber das war ja auch nicht Ihre Absicht, oder? Sie sind ja schließlich zu einer Zeitschrift gekommen. Soviel ich auf den ersten Blick erkennen konnte, müssten ein paar überflüssige Stellen gestrichen werden … Zudem hatte er offenbar keinen Zugang zu gewissen Quellen, so dass er sich auf das beschränkt hat, was er dort finden konnte. Und da ist noch etwas, vielleicht die Hauptsache: Die Arbeit müsste aktualisiert und perspektivisch auf den heutigen Stand gebracht werden, Sie verstehen ja, was ich meine? Ein bisschen politisiert müsste sie werden, nur ein bisschen …«
Ich war mir immer noch sicher, dass nichts draus werden würde; ein spätes und beschämtes Mitleid überkam mich beim Blick auf die regelmäßige kleine Handschrift meines Onkels auf der Rückseite eines Blattes. Allzu oft hatte ich mittlerweile schon vergessen, dass ich seinetwegen gekommen war, und nur an mich gedacht.
»Es wäre dennoch schade, wenn wir darauf verzichteten. Mit diesen Änderungen, die sich auf die Struktur wohl gar nicht auswirken würden, könnte man durchaus Interesse finden, aber wer hat die Geduld, eine Arbeit neu aufzuzäumen, die noch nicht einmal seine eigene ist? Am Institut ist jeder mit seinen planmäßigen Vorhaben beschäftigt, wenn er für jemand anderen arbeitet, verspricht er sich zumindest Vorteile davon … Also sind Sie die Einzige, die es versuchen könnte. Zumal Ihnen dies von Nutzen sein könnte, da Sie sich mit den Grundsätzen wissenschaftlichen Arbeitens einigermaßen vertraut machen könnten. Wenn nötig, kann ich Sie dabei beraten. Nun, was meinen Sie? Wieso sehen Sie mich so erschrocken an?« Petru Arcan lachte laut und selbstgefällig, nahm das durchsichtige Gasfeuerzeug vom Tisch und zündete sich die Zigarette an.
Ich hatte den Gedanken verdrängt, vielleicht war ich ja aber gerade deshalb mit den Arbeiten meines Onkels zu ihm gekommen. Da ging mir allerdings auf, wie wenig ich wusste, wie unsicher und orientierungslos ich war. Ich verhaspelte mich ganz schlimm, als ich mit glühenden Wangen und Ohren etwas zwischen Einwilligung und Entschuldigung stammelte.
»Ich glaube, wenn Sie sich anstrengen, klappt das«, sagte er gleichmütig, als hätte er mir gar nicht zugehört, und räumte die Bücherstapel beiseite.
Durch die Tür trat die Aufwartefrau mit dem Kaffee. Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und gab mir Mühe, möglichst schicklich und feierlich dazusitzen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, bedient zu werden, und kam gar nicht darauf, dass es sich um einen banalen, zum Arbeitsablauf gehörenden Brauch handelte. Ich wunderte mich nur, dass die Tassen nicht zueinander passten und das Tablett aus Plastik war.
»Vielleicht sollte ich die Arbeit lieber hier lassen, damit Sie sie vollständig lesen«, versuchte ich einen Aufschub zu erwirken.
Er aber winkte ungeduldig ab. »Diesen Monat ist gar nichts drin, ich habe Ihnen ja gesagt, wie beschäftigt ich bin«, antwortete er fast barsch und deutete mit der Hand auf den Haufen Typoskripte an der Ecke des Schreibtischs. »Es geht um den Folgeband einer wissenschaftlichen Buchreihe, er muss zum Nationalfeiertag am 23. August erscheinen, und ich bin auch Mitglied in der Koordinierungskommission …« In seiner rauen Stimme klang Selbstzufriedenheit mit. Vieles schien auf ihn zu warten, was ohne ihn nicht erledigt werden konnte; ich hatte vergessen, dass er sich wenige Augenblicke zuvor darüber beklagt hatte, und nickte jetzt ergeben. »Aber ich habe vollstes Vertrauen«, setzte er gleich hinzu und versuchte seiner Stimme einen weicheren Klang zu geben. »Ich weiß, dass Sie eine fleißige Studentin sind, ich werde Ihnen zeigen, worauf Sie achten müssen. Sie werden auch andere Bibliotheken aufsuchen, an der Fakultät ist nicht alles zu finden. Wenn Sie etwas für längere Zeit benötigen, sagen Sie’s mir, wenn ich es habe, leihe ich es Ihnen für ein paar Tage …«
Die alte Gewissheit, beschützt zu werden, die ich seit Onkel Ions Tod verloren hatte, kam wieder in mir auf. Wie schwer mir doch zumute war, seit ich nicht mehr mit ihm über die Bücher sprechen konnte, die ich las, seit er mir nicht mehr kategorisch und doch sanft sagte, was ich weiter zu tun hatte.
»Haben Sie meine Telefonnummer? Notieren Sie«, sagte Petru Arcan und sah mich lang an. »Gegen Abend bin ich immer zu Hause.«
Meine Hand zitterte leicht, als ich den Bleistift vom Tisch nahm. Sein mir unbekanntes Leben rückte näher an mich heran, mit einem freudigen Schauer wunderte ich mich, dass es mir so offen stand.
»Schauen wir mal, was von dem hier Sie gebrauchen könnten«, sagte er und zog ein großformatiges Verzeichnis aus dem Regal hinter sich. Er fuhr mit dem Finger die Liste der Titel hinunter, wobei er bei dem einen oder anderen innehielt. Ich schrieb ihn dann auf das Blatt, auf dem die sechs Wunderziffern obenan standen, über die ich von nun an jederzeit, sobald ich ihn brauchte, an ihn herankam. So verging eine halbe Stunde, vielleicht waren es auch nur ein paar Minuten, da läutete das Telefon.
»Ich grüße Sie«, sagte er mit einem halben Lächeln in den Hörer. »Natürlich, ich stehe zur Verfügung … Aber klar!«
Ich reckte meine Beine, die ganz steif waren, unter dem Tisch und unterdrückte ein Gähnen. Das rote Auge des Telefons blinzelte weiter, und die Stimme von Petru Arcan klang anders als bisher. Ohne dass ich mitbekam, was er sagte, wurde mir klar, dass seine höflichen, zuvorkommenden Scherze Respektbezeugungen waren. Langsam erhob ich mich, ging ans Fenster und betrachtete die Rondelle mit den starren Blumen unten, die der offiziösen Anmutung des Gebäudes entsprungen schienen.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, und erhob sich mit einer Eile anderer Art; er öffnete die Aktentasche und ordnete seine Papiere. »Wir machen ein andermal weiter, wenn Sie möchten, in ein paar Tagen … Ich muss jetzt gleich los, es geht um die Buchreihe … Wenn Sie ins Zentrum wollen, kann ich Sie ein Stück mitnehmen.«
Jetzt kamen mir die dunklen Gänge, in die Stimmen und Telefonläuten sickerten, altbekannt vor. Verwaschen zeichneten sich unsere Gestalten in dem durchscheinenden Glas am Ende des Korridors ab. Petru Arcan ging mit den großen Schritten eines hochgewachsenen Mannes, während ich nebenher trippelte, ständig in Gefahr, den Anschluss zu verlieren.
»Wo soll ich Sie absetzen?«, fragte er und lehnte sich bequem zurück.
»Vor der Fakultät«, sagte ich schnell und schrak zusammen bei dem Gedanken, er könnte gerade dadurch auf den Riesenabstand zwischen meinem unbedeutenden Leben und dem seinen gestoßen werden.
»Haben Sie Vorlesungen? Sind Sie etwa spät dran?«, fragte er mit einem Blick auf die Uhr.
»Heute habe ich keine Vorlesungen«, antwortete ich, obwohl ich der Frage am liebsten ausgewichen wäre.
»Was dann?« Er zog eine Augenbraue hoch, dann schwieg er und wartete.
»Ich gehe in die Bibliothek …«
»Ach so, tüchtig, tüchtig«, sagte er ironisch und ermunternd. »Aber in welcher Gegend der Stadt wohnen Sie denn?«
Ich griff nach dem Deckel des Aschenbechers in der Tür und stammelte, während ich mich daran festklammerte, beschämt: »Im Heim, am Boulevard …«
Mir war plötzlich sehr heiß, aber ich rührte mich nicht. Jetzt würde ich alles verlieren, was ich gewonnen hatte, ich hatte noch nicht einmal die Kraft, mich an dieser ersten und wahrscheinlich letzten Gelegenheit zu freuen, die Stadt hinter der vor Machtfülle strahlenden Scheibe eines Dienstwagens zu durchqueren.
»Können Sie denn dort lernen, arbeiten?«
Ich empfand seinen Ton als neugierig und mitfühlend. Mich streifte, aber nur ganz vage, der Gedanke, ihn zu fragen, wo er vor zehn Jahren gewohnt hatte, als er nichts anderes war als ein unbeholfener Student aus der Provinz wie ich. Doch ich traute mich nicht, und während ich seinen Anzug, das selbstgewisse Lächeln und die gepflegten Finger betrachtete, kam es mir so vor, als hätte er nie anders ausgesehen und wäre immer schon dort gewesen, wo ich ihn besucht hatte.
»Es geht. Wir sind nicht gar so viele in einem Zimmer …«, gab ich schnell zurück.
»Wie viele?«, fragte er beiläufig und sah hinaus auf den Boulevard.
»Vier«, sagte ich, nicht sehr überzeugend, und bereute es auch sofort, wenn ich schon log, hätte ich ja gleich drei oder gar zwei sagen können.
»Vier – immerhin genug«, antwortete er mit derselben gleichgültigen Nachdenklichkeit. »Dann ist es ja gar nicht einfach – wenn eine lesen will, die andere reden, wieder eine andere schlafen …«
»Eigentlich ist es ganz schön schwer«, schwenkte ich plötzlich um und ärgerte mich, dass ich es nicht gleich zu Anfang gesagt hatte. »Zum Lesen muss man in den Lesesaal gehen, aber auch dort ist es eng, zu Prüfungszeiten sind nicht einmal genug Stühle da.«
Ich merkte, dass ich mich in Einzelheiten verzettelte, die ihm egal sein mussten, deshalb blieben mir die Worte im Hals stecken, und ich schwieg, wobei ich unsinnigerweise meinen Rock über den Knien glatt strich. Ich hatte eben die ganze vergangene Woche an ihn gedacht, und irgendwie erschien er mir in Gedanken dermaßen vertraut, dass ich, widersinnig und undeutlich oder wie auch immer, überzeugt war, dass er das, was ich sagte, schon nach wenigen Worten verstehen würde.
»Ich ziehe die Bibliothek vor«, fügte ich hinzu, um ihm zu zeigen, dass ich sein Interesse verdiente. Vertrauensvoll sah ich zu ihm auf, aber er hatte meine letzten Sätze wahrscheinlich gar nicht gehört.
»Fahr rechts ran«, sagte er nach vorne geneigt zum Fahrer.
Petru Arcan reichte mir flüchtig die Hand, und ich spürte, wie sich die unendliche Leere der Enttäuschung in mir ausdehnte. Diese Enttäuschung lähmte meine Bewegungen und erstickte meine Stimme in der Kehle; allerdings schwand die Leere gleich darauf, als ich hörte, wie er sagte: »Es bleibt also dabei … Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich an, nachmittags oder abends … Ich warte«, fügte er hinzu, und ich schlug die Tür lächelnd zu.
Ein Wunder, auf einmal. In mir war Ruhe und um mich eine neue Stadt, die ich in den schon bekannten Straßen entdeckte. Dieselben vor dreißig Jahren erbauten grauen Blocks, dieselben schweren schmiedeeisernen Türen, hinter denen das Halbdunkel dämmerte. Ein eigens davor geklemmter Stuhl hielt die Tür der Eckkneipe offen, so dass ein dreieckiger Lichtkegel sich auf dem Fußboden abzeichnete. Drinnen an den Tischen warteten ein paar frühe Trinker. Mit trägen Bewegungen stellte der Kellner hinter seiner wasserüberströmten Theke etwas um. Die Fenster der Häuser, an denen ich vorbeikam, glänzten frisch geputzt, meine innerlich gefestigte Ruhe ergoss sich mit dem vollen Sommerlicht über sie. Die Stadt war eine andere, zwar geheimnisvoll wie am ersten Tag, doch aus ihr sah mir das neue Leben entgegen, das ich schon spüren konnte. Unzählige Gesichter glitten an mir vorüber, die ungezählten Gesichter der Stadt. Wieder meinte ich, etwas sei im Begriff zu beginnen, triumphierend hoch trug ich den immer röteren Kopf durch die Mittagshitze. Das Hupen der Autos und dazwischen das verloren klagende Gurren der Turteltauben, das alles ließ ich hinter mir. In den strahlend gelben Chrysanthemen am Rande des Gehsteigs hatte sich das ganze Licht gesammelt.
*
Mit steifen Schultern stand ich vom Tisch auf und ließ die Bücher offen liegen. Ich hatte kein einziges davon zu Ende gebracht, in jedem hatte ich ein bisschen gelesen, aber zu meinem wachsenden Schrecken festgestellt, wie wenig ich wusste, und unnötig genaue Notizen gemacht. Die Gänge, durch die ich ging, rochen nach kaltem Putz, Staub und Altpapier. Im Vorraum hatten sich zwei alte Männer getroffen, jeder trug eine offene Mappe unter dem einen Arm, über dem anderen hing der Griff eines schwarzen Regenschirms – die beiden Schirme glichen sich. Ihre Glatzen waren von schütterem weißem Haar umkränzt, und wenn sie lachten, sprühten kleine Wassertropfen aus ihren zahnlosen Mündern. Auf der Bank gegenüber saßen, Zigaretten in der Hand, zwei langmähnige Mädchen in sehr kurzen Röcken, die über ihren strammen Schenkeln spannten. Ein Mann hämmerte mit der Faust gegen das Telefon an der Wand, wahrscheinlich war der Münzschlitz verstopft. Die auf Putz verlegten gewundenen Rohre waren kalkverspritzt von den Malerarbeiten. Wenn ich zu den dunklen Fenstern, rund wie Bullaugen, hinaussah, kam es mir vor, als sei ich im Rumpf eines Schiffes. Ich irrte auf den kalten grauen Mosaikquadraten herum wie die Luft, die von draußen hereinzog, im Hall der Schritte, die von überall kamen. Ich konnte kaum glauben, dass ich es so weit gebracht hatte, in dieser Bibliothek zu lesen, von der Onkel Ion manchmal gesprochen hatte, immer ganz nostalgisch und andächtig. Die Raucher scharten sich um einen großen schwarzen, verkratzten Tisch, sie kannten sich wahrscheinlich, denn sie standen dort im Dunkeln in kleinen Gruppen flüsternd zusammen. Ein gebeugter alter Mann kam jetzt mit steifen Beinen zittrigen Schrittes die Treppe herab, wobei er sich mit der Hand vorsichtig an der Wand abstützte. Neugierig sog sich mein Blick an seinem vom Alter enthaarten Gesicht voller frischer rosaroter und gelber Fältchen fest, ich beobachtete seine unsicheren Bewegungen, denen ich dennoch die Vertrautheit mit dieser Örtlichkeit ablesen konnte. Schau an, wie er diese undurchsichtigen Zeiten durchschwommen hat, sich von den Wassern hat tragen lassen aus »anderen Zeiten« bis ins Heute. In meine Neugier mischte sich wehmütiger Respekt wie für einen stolzen Sieger (damals war mir noch nicht aufgegangen, dass man sich den Sieg manchmal mit Lügen erkauft). Selbst wenn man mir seinen Name genannt und ich ihn nicht gekannt hätte, wäre ich überzeugt gewesen, dass das nur an meiner Unwissenheit lag. Auf der Weltenleiter, die ich mir im Kopf zurechtgezimmert hatte, saß er auf der letzten, obersten Sprosse. Die Zeit und die Geschichte waren über ihn hinweg gezogen und hatten ihn sich gleich bleiben lassen, nur immer gebeugter auf seinem täglichen, immer mechanischeren Gang zu den vergilbten Zeitungen, zu den zahllosen Büchern in den Magazinen, die irgendwo in den Kellergewölben versenkt waren.
Ich holte mir vom Büfett ein Stück kalte gebratene Leber, eine Cremeschnitte und eine schale Zitronenlimonade. Auf dem Tisch unter der Glasplatte waren lauter Namen eingeritzt, in deren Schriftzügen sich Krümel angesammelt hatten. Darauf standen Tellerchen mit Senfklecksen, die mit Löffelchen umgerührt worden waren. Ich schluckte langsam und andächtig, die Augen waren vom Lesen leicht getrübt, und mein Kopf schwirrte von Ziffern und Wörtern. In unregelmäßigen kleinen Abständen brummte in meinem Rücken die weiße Kaffeemaschine. Draußen schien es dunkel zu werden, denn hier gingen plötzlich die Lichter an. Um diese Zeit, dachte ich, hat Petru Arcan wohl Sprechstunde.
*
Ich hatte ihn schon mehrere Male aufgesucht und, ans Fenster gelehnt, auf dem Korridor gewartet, wobei ich mich von der Gruppe Studenten des Abschlussjahrgangs fernhielt, die über ihre Diplomarbeiten sprechen wollten. Vor lauter Unsicherheit wuchs meine Geduld, und während ich fieberhaft in meinen Notizen blätterte, ließ ich ihnen den Vortritt, weil ich mich plötzlich nicht mehr traute, seine Zeit für meinen Beratungsbedarf in Anspruch zu nehmen. Der Lehrstuhl wirkte verlassen, als ich schließlich eintrat, der Raum verödet, nur ein paar getippte Blätter lagen neben dem Telefon herum, alles erschien mir unwirklich … Mal traf ich Petru Arcan von Erschöpfung und Überdruss gezeichnet an, mal merkte ich, wie sein Blick zu der Uhr am Handgelenkt huschte. Nach einer oder zwei Minuten erhob ich mich, während er mich weiter beriet. Seine Sätze erschienen mir in meiner Zerstreutheit nur noch unverständlich, und langsam ging ich rückwärts zur Tür. Meist rief er mich mit einer Stimme zurück, in der so etwas wie Ärger über meine offensichtliche Oberflächlichkeit mitklang.
Anfangs hatte ich vorgehabt, ihm zu erzählen, dass ich in der Bibliothek zuerst seine Arbeiten angefordert und gelesen hatte, bebend vor Aufmerksamkeit und Erregung. Zeile für Zeile hatte ich innegehalten in der Überzeugung, dass jedes Wort von ihm einen tieferen Sinn hatte. Ich hatte ein paar den Umständen geschuldete Stellen zur Rolle der Partei und zum 9. Parteitag entdeckt, die zumal vor drei oder vier Jahren Pflicht gewesen waren – allerdings gab es bei ihm davon weniger als bei anderen Autoren, und so versuchte ich, meine Enttäuschung hinunterzuschlucken und nur meine Bewunderung für den Rest aufrechtzuerhalten. Doch nie ergab sich die Gelegenheit, ihm etwas zu sagen. Außerdem erschien es mir riskant, er hätte mich nach meiner Meinung über seine Artikel fragen können, und mir wäre bestimmt nichts über die Lippen gekommen.
Er nahm sich die Blätter vor, die ich wie gewöhnlich auf eine Tischecke gelegt hatte, und sprach mich ab und zu darauf an: »Was ist denn das?«, fragte er und kreiste mit dem Bleistift irgendeine Zeile oder eine Zahl ein.
Ich sprang mit vor Demütigung und Empörung glühenden Wangen auf, während er abwesend durch die Zähne knurrte: »Sie sind mir ja vielleicht eine … Wo steht Ihnen denn der Kopf, wenn nicht bei der Arbeit? … Wenn Sie so weiter …«
Hinter seiner Strenge erkannte ich seine intellektuelle Gewissenhaftigkeit, die mich so überwältigt hatte. Daraus bezog er seine Stärke, aber auch aus seiner Selbstgefälligkeit, die in dem selbstsicheren Lachen durchklang.
Eines Abends war ich die letzte, denn ich war später gekommen.
»Wir gehen zusammen«, sagte er und blieb kurz stehen, um die Tür abzuschließen. Er ging zum Schalter des Pförtners, um den Schlüssel abzugeben, da schnappte ich ein Satzende auf, das ihm aus Unachtsamkeit herausgerutscht war: »… wenn ich in den Ferien nach Hause gefahren bin.«
»Wohin nach Hause?«, fragte ich ihn.
Er spürte das verschwörerische Lächeln in meiner Stimme, und ich sah, wie er ärgerlich mit den Schultern zuckte.
»Sie wissen ja doch nicht, wohin«, antwortete er nach einer Weile.
Den Rest des Weges schien er mich durch hartnäckiges Schweigen dafür zu bestrafen, wie vorlaut ich versucht hatte, mich in die Welt einzuschleichen, aus der er kam. Mein erster Gedanke war nicht, dass er sie hätte verleugnen wollen, sondern dass er sie für sich behalten wollte, niemandem sonst zugänglich. Dabei war er (höchstwahrscheinlich) nur müde und hatte keine Lust zu reden.
*
Nur einmal meinte ich seine alte Verletzlichkeit zu spüren. Die Tür zu seinem Sprechzimmer ging auf, und diejenige, die eintrat, legte schon in der Art, wie sie die Klinke betätigte, und in ihren eiligen Schritten bis zum Tisch, an dem wir arbeiteten, eine Selbstgewissheit an den Tag, dass ich meinte, es müsste eine Assistentin sein, und erst von den Papieren aufsah, als Petru Arcan aufsprang, um sie zu begrüßen.
Zwei rötliche Flecken waren auf seine blassen Wangen getreten. Unregelmäßig, kaum wahrnehmbar für ein anderes als mein lauerndes Auge. Mit langen Unterbrechungen antwortete er der jungen Frau, deren hochgewachsene schmale Gestalt in einem langen schwarzen Mantel, wie es sie damals in den Straßen von Bukarest kaum gab, ich nur undeutlich wahrnahm. Ich spürte seine verlegene Unruhe und wandte mich ärgerlich ab, als wäre ich selbst errötet. Sie waren ein paar Schritte zur Seite gegangen, und ich hörte nur ihre raunende Stimme und das helle Klirren ihrer Armbänder, wenn sie ihre Worte mit kategorischen Bewegungen ihrer schmalen Hand unterstrich. Ohne hinzusehen, mutmaßte ich, dass bei ihm die zehn Jahre zurückliegenden linkischen und fahrigen Gesten wieder auftauchten. Er griff hinter sich nach einem Stuhl, den er ihr anbieten wollte, kriegte ihn in der Eile nicht zu fassen und stieß sich an dem anderen.
»Nicht nötig, ich hab’s jetzt eilig, lass mal, ich ruf dich an«, rief sie von der Schwelle. Schwungvoll warf sie den Tragriemen ihrer glänzenden Handtasche mit komplizierter silberner Schnalle über die Schulter, und gleich darauf waren ihre flinken kleinen Schritte auf dem Betonfußboden des Korridors zu hören.
Petru Arcan setzte sich wieder und suchte in den Papieren die Stelle, an der er unterbrochen worden war. »Entschuldigung«, sagte er nach einiger Zeit, als erinnerte er sich jetzt erst an mich.
Ich bohrte meinen düsteren Blick in den Fußboden, denn ich sah etwas kommen, dessen Ende ich nicht abzusehen wagte. Ein allzu runder Mond stieg über den Dächern herauf, weiß und angenagt vom ätzenden Licht der Neonlampen.
*
Der Hof vor der offenen Tür war grün durchrauscht von den Bäumen, die den Regen vorausahnten. Mit sicheren Schritten ging ich die Stufen hinunter, mit mir zufrieden wie noch nie. Alles, was ich an Neuem erfuhr, begeisterte mich, als hätte ich es entdeckt. Später sollte ich enttäuscht feststellen, dass ich es auf einer Seite des Onkels angeführt fand, die ich mir bis dahin nicht genauer angesehen hatte. Heute jedoch verspürte ich nichts als die Freude über den Lohn meiner Mühen, in der belebten Luft des Hofes wankte ich leicht vor Müdigkeit. Das üppig aus der feuchten Erde sprießende Gras bog sich unter den Sohlen meiner Sandalen, und darunter glitten unhörbar die Schnecken hindurch. Am Hofgitter vernahm ich das anschwellende Brausen der Stadt. Wo immer ich vorbeikam, wünschte ich mir, mein Leben hätte genau hier längst begonnen und wäre schon zur Gewohnheit geworden. Jenes Fenster im zweiten Stock, dessen Nylonvorhang sich im Wind blähte, hätte das Fenster meines Zimmers sein können. Ich machte einen Bogen um den Stapel Drahtkörbe mit vollen Milchflaschen. Irgendwann wird ein Morgen sein, an dem ich herunterkomme und hier meinen Joghurt kaufe, den kleinen Laden nebenan mit den länglichen Gläsern voller Bonbons und Rosinen werde ich gelegentlich betreten wie alle Erwachsenen der Stadt und dort meinen Kaffee kaufen. Auf den Stufen des Rathauses ließ sich ein junges Brautpaar mit der Hochzeitsgesellschaft fotografieren, ich sah sie reglos dastehen, die Blumensträuße bündelweise so im Arm, dass sie aus dem raschelnden Glanzpapier zu rutschen drohten. Eine Mutter oder Tante mit einem Gesichtsschleier am Hut, wie er vor dreißig Jahren modern gewesen sein mochte, drapierte noch das Kleid der Braut, als der Apparat auslöste. So würde auch ich eines Tages dastehen, sagte ich mir, und hinter mir würden meine Freundinnen genau so kichern wie diese Mädchen.
Das Leben der Stadt überströmte mich, und ich verlor mich darin, während ich immer aufgeregter die Straßen entlangging, die sich bunt einfärbten vor lauter Reklamelichtern und vor Erwartung.