Kapitel VII
Ich war so überzeugt, dass wir uns versöhnen würden, dass jeder Morgen die Farbe der Erwartung annahm. Ich sammelte aus dem Dunkel des Korsos verstohlene Blicke und Gesten, deren Sinn nur ich zu begreifen vermochte. Abends fiel all das in der alten Leere in sich zusammen, aber ich bewahrte es geduldig bis zu dem Tag, der einmal kommen musste. Es fällt ihm schwer, den ersten Schritt zu tun, sagte ich mir, und selbst wenn er es wollte, weiß er wohl kaum, wie und wo. Allerdings verknäulten sich die Erwartungen, ich verhedderte mich darin und spürte, wie ich hängen blieb. Ich bildete mir ein, es sei immer noch alles so, wie ich glaubte, aber die klar umrissene Gewissheit der Dinge verschwamm in der Unruhe. Untergründig war ich es leid, vergeblich zu warten, und so fuhr ich ins Ferienarbeitslager.
*
Ich liege auf dem Bauch auf einem der eisernen Stockbetten mit Trenngittern, die bis zum staubigen Holzfußboden reichen. Es ist dunkel, möglicherweise ist niemand sonst da oder nur ein paar dicke Mädchen mit Pickeln auf der Stirn und im Gesicht, die nicht in den Spiegel schauen, weil sie unglücklich sind mit ihrem Aussehen. Deshalb gehen sie nicht tanzen, auch an diesem Abend nicht. Und im Lager wird ständig getanzt, man hört die Stimmen, die Schritte, das Stampfen und das schrille Lachen der Mädchen und die durchdringende Stimme irgendeines Jungen: »Komm schon, mach den Kasten lauter, was ist los?«
Draußen ist es wahrscheinlich immer gleich dunkel, ob ich nun da bin oder nicht, die Gaslaterne auf der Brüstung der Veranda flackert vor sich hin; wenn die vom Wind angefachte Flamme aus dem Lampenglas herausleckt, geht jemand hin und dreht sie herunter. Wenn es dann noch dunkler wird, weiß ich gar nicht mehr, was er tut, ich höre sein brutales Lachen nicht mehr, vielleicht sind die beiden die Treppe hinuntergegangen und spazieren durch den Hof des ehemaligen Gutshauses. Ich aber kann den Gedanken nicht mehr ertragen, dass die beiden, Mihai und Mariela, spazieren gehen, ich liege auf dem Bauch und bearbeite mit den Händen das lange, viel zu harte Kissen, in dem ich meinen Kopf nicht versenken kann. Ich versuche meinen Hals und meine Wangen darin zu schmiegen, suche nach dem wohlbekannten Gefühl vor dem Einschlafen, Hals und Gesicht in das Kissen gebettet, auf dem ich seit sechzehn Jahren schlafe. Es ist vielleicht das Angenehmste in meinem bisherigen Leben, sage ich mir, und wenn ich’s genau überlege, das Einzige, das mir niemals verloren gehen kann. Und ohne es zu merken, suche ich wieder nach meinem Kissen, aber da ist nur das fremde, voller Watteknubbel, und ich hätte begreifen und aufgeben müssen, aber wieder fällt mir ein, wie Mihai damals zu mir kam, dort, an der hellsten Stelle der Veranda.
»Komm tanzen«, sagte er und tanzte mit der Zigarette im Mund, und die junge Englischlehrerin tat, als sähe sie nichts.
Damals hatte ich zum ersten Mal begriffen, dass das mit uns nichts mehr werden würde, niemals, und dass ich länger als ein Jahr vergeblich gewartet hatte.
Ich stehe vom Bett auf und taste im Dunkeln die schweren dicken Decken ab, schnappe mir ein anderes Kissen und tappe zurück, da stockt mir plötzlich der Atem. Ich habe mir den Knöchel gestoßen und spüre, wie der Schmerz immer heftiger wird und in mir hinaufkriecht, dass ich stöhnen oder weinen möchte. Aber ich halte ihn aus, ich spüre, wie ich ihn aushalte, Sekunde für Sekunde, bis er nachlässt. Dann werfe ich mich mit dem neuen Kissen aufs Bett, aber dieses ist schrecklich weich, zu wenig Watte drin, ich stopfe das andere zwischen Bett und Wand, taste dabei mit heißen Händen den kalten Putz ab, und das tut gut … Da taucht wieder die Veranda auf, ich saß auf der Brüstung, ließ die Beine baumeln und rauchte die Zigarette, um die ich ihn gebeten hatte, als er mich zurückbrachte, ich ärgere mich, weil ich gerne ins Kissen gebissen hätte – wie ich es gelesen habe … Dann drehe ich mich aber wieder auf den Bauch und knäule die ganze Watte in dem halben Polster zusammen, das leise knarrt, der Bezug ist fadenscheinig, aber ich spüre, dass es hart ist, ärgerlich hart, außerdem schmerzt mein Ohr, wahrscheinlich habe ich es gequetscht … Jetzt weiß ich, dass ich leide, ich spüre meinen ganzen bäuchlings gestreckten Körper, er tut einfach nur weh, dabei weiß ich gar nicht, wieso … Und er tut so gut, dieser ständige Druck … Da ist wieder das kindliche Gesicht von Mariela, ihre Brauen unter dem Pony und Mihais Schultern, über ihren Stuhl gebeugt, und sein brutales Lachen, ich kann es nicht mehr ertragen und beginne mit den Beinen zu zucken. Jetzt merke ich, dass ich schon die ganze Zeit rhythmisch mit den Zehenspitzen auf der Matratze herumtrommele, die trocken raschelt, wahrscheinlich ist sie mit Stroh gestopft. Ich will nicht mehr, sage ich, ich will nicht mehr, nein nein nein, und lege die andere Wange aufs Kissen, dann fürchte ich, diese Mädchen, die sich schlafend stellen, könnten mich gehört haben … Ich habe solche Angst, dass ich mir jede Bewegung verkneife, immer flacher atme, bis ich das Gefühl habe, ich müsste ersticken, dann den Mund wieder öffne, als wollte ich stöhnen …
Ich muss einschlafen, sage ich mir, wenn ich es genau überlege, ist Mihai mir ebenso egal wie die anderen. Ich sehe, wie er geht, die Schultern leicht nach vorne gebeugt, in seinen weichen Schuhen mit Kreppsohle und dem schwarzen Pullover, den seine Mutter gestrickt hat. Wieso ist es mir peinlich, wie ich da auf dem Geländer der Veranda sitze und mit den Beinen baumele, als wüssten alle, dass ich auf ihn warte, natürlich höre ich dort gar nicht, was die beiden reden, eigentlich interessiert es mich überhaupt nicht … Es interessiert mich wirklich nicht, nur verstehe ich nicht, wieso gerade mit Mariela – und dann diese viel zu laute Musik.
»Hast du gehört, wie er putain sagt?«
Jeni hat bestimmt alles gesehen, wieso lässt sie mich nicht in Ruhe?
»Pass mal auf, wenn das Lied zu Ende ist … Hast du es gehört?«
Alle tanzen, jetzt tanzt auch Jeni mit einem Kleinen aus der Elf, bestimmt hat sie gemerkt, dass Mihai sich nicht um mich kümmert, da kann ich ihr sonst was erzählen … Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, und rauche die Zigarette weiter, es ist meine zweite, sie kratzt im Hals und ich würde sie am liebsten wegschmeißen. Meine erste, das war damals, als wir mit der ganzen Klasse zum Crâng gingen und er sagte: »Das ist nichts, du hast keine Ahnung vom Rauchen … Pass mal auf, so macht man das!«
Und er nannte mich Branea, beim Nachnamen, das ging mir immer auf die Nerven, und der Rauch zwickte fürchterlich, ich wusste, dass er loslachen wollte, und ließ meine Gesichtsmuskeln erstarren, starr wie jetzt … Einen Augenblick noch hielt ich durch, wenn er bloß nicht merkte, dass mir fast die Tränen in die Augen schossen, aber wenn ich die Augen so weit offen hielt, sah man es vielleicht nicht. Vielleicht hatte Puiu nur zufällig gesagt: »Mir scheint, du hast nicht viel Spaß heute Abend …«, oder wussten vielleicht schon alle, dass ich seit Jahr und Tag darauf wartete, dass Mihai sich mit mir versöhnte? Wieso hatte er mich sonst so angesehen im Dunkel des Korsos? Wahrscheinlich hatte er mich überhaupt nicht angesehen, wahrscheinlich hatte es mir nur so geschienen, ach wie lächerlich … Oder kann man sich so verändern, auf einmal? Wenn ich nur die Treppe hätte hinuntergehen können, es waren bloß drei Stufen, dort standen die Jungs, die nicht tanzen konnten, ein ganzer Haufen, sie lachten dröhnend, so geballt fühlten sie sich sicher, wenn ein Einzelner sich gerührt hätte und die Treppen heraufgekommen wäre, hätten ihm alle nachgeschaut und gesehen, dass er nicht tanzen konnte. So aber kümmerten sich die anderen nicht um den Einzelnen, sie tanzten oder saßen auf den Stühlen in der Ecke, wo das Licht nicht hinkam und wo ich nicht hinschauen konnte, weil Mihai mit Mariela dort waren … Wenn ich nur die Treppe hätte hinuntergehen können, vorbei an den Jungs, die nicht tanzten, nur dort herumstanden und großspurig und lautstark miteinander redeten, als wäre ihnen das alles egal, als könnten sie tanzen, wollten aber nicht, weil es besser ist, mit den Jungs herumzustehen und über die anderen zu lachen … Weiter weg wäre es dann dunkel gewesen, und ich wäre über den mit vereinzelten Grasnarben gefleckten kahlen Hof gegangen, dessen Kies unter der neuen Sohle meiner weißen Sandalen knirschte, und hätte die Tür des Haupteingangs geöffnet, dort war unser Schlafraum mit Stockbetten, und ich hatte noch zwölf Tage, denn insgesamt waren es vierzehn, und dann würde ich nach Hause zurückkehren, vorher aber würde ich mich noch aufs Bett legen und auf dem Bauch daliegen, das Kissen in den Armen, allein sein und mir vielleicht nie wieder etwas so heftig wünschen.
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Natürlich hatte ich gar nichts mehr zu erwarten. Als hätte ich mich verspätet und wäre dadurch endgültig zur Abwesenden geworden. Es war viel schlimmer, als ich mir hätte vorstellen können, in all meinem Warten hatte es immer schon die Furcht vor dem Versagen gegeben, allerdings war sie so klein gewesen, dass ich sie nie bemerkt hatte. Jetzt aber, da ich alles klar vor Augen hatte, schien es mir fast, als hätte ich es geahnt. Ich setzte Worte, Blicke, Gesten anders in Zusammenhang, und dabei wurde in der Tat alles ganz deutlich, wie hatte ich nur so blind sein können, fragte ich mich, einen Augenblick lang hasste ich mich ganz heftig, dann überkam mich eine Demut, an der ich fast erstickte. Das passierte meistens am Morgen auf dem Traktoranhänger, mit dem wir aufs Feld fuhren. Wir setzten uns auf die parallel angeordneten Bänke, die bei jeder Unebenheit wackelten, was Schreie und Pfiffe auslöste; wer keinen Platz kriegte, setzte sich hinten auf die Ladefläche, irgendwie war man da besser dran, man musste wenigstens keinen Staub schlucken. Ich saß neben Jeni und stützte mich an der in großen rostigen Haken hängenden Seitenplanke ab; die Erinnerung an mein Versagen verdüsterte mir die grünen und gelben Weiten, die an uns vorbeizogen, und der seidige Staub wehte in runden, warmen Schwaden. Wenn wir ausstiegen, sah ich die anderen an und konnte sie kaum erkennen: Mit den grau verstaubten Haaren und den schmutzstarrenden Gesichtszügen kamen sie mir vor, als sähe ich sie zum ersten Mal.
Der Anblick war mir zuwider, ich verscheuchte den Gedanken, dass sie in zwanzig Jahren wirklich so aussehen würden. Bestimmt sehe ich auch so aus, dachte ich und wischte mich mit einem säuerlich riechenden, speichelbenetzten Taschentuch ab. Eine Zeitlang gab ich mir Mühe, dass er mich nicht so sah, gab es dann aber, aus Gewöhnung oder Resignation, auf.
Noch etwas anderes tat ich unterwegs auf dem Hänger, während ich unbeweglich neben Jeni saß und darauf achtete, dass mein Lachen und Lächeln mit dem der anderen übereinstimmte. Anfangs fiel es mir sehr schwer, doch an den letzten Tagen gelang es mir perfekt, allerdings bedeutete es mir auch nicht mehr so viel. Ich zwang mich, die beiden genau so selten und so gleichgültig anzusehen wie die anderen, es war, als führte ich mich selbst am Händchen ins Gästezimmer, während jemand in mir nein nein nein schrie und mit ohnmächtiger Wut aufstampfte. Doch ich schleppte mich gnadenlos weiter, und der Gedanke steuerte mich von außen, meine vor dem Sonnenlicht oder vor Überdruss zusammengekniffenen Augen blickten nicht mehr durch. Irgendwann war es dann aber gar nicht mehr der Gedanke, sondern mein riesenhaft gequollenes, über dem unsichtbaren Zucken der Muskeln erstarrtes Gesicht, das kurz vor der Explosion stand. Wie viel Zeit mag vergangen sein, seit ich sie anstarre, dort vorn hinterm Fahrerhaus, wo die verliebten Paare sitzen, denen die gegenseitige Zuneigung eine unbestrittene Überlegenheit verleiht?
Die einzige Lösung war wohl, sie beiläufig mit dem Blick zu streifen wie all die anderen, vielleicht war das aber nur ein Selbstbetrug meinerseits, den ich gar nicht merkte. Schließlich konnte ich nicht anders, als sie zusammen zu sehen, in der Kantine mit Lehmboden und gekalkten Wänden an den mit billigen Tellern und großen Blechschüsseln gedeckten Tischen, nachmittags bei den Fußballspielen gegen die Dorfjugend oder abends, wenn die Mädchen auf der Veranda zum Tanz zusammenkamen, mit getuschten Wimpern und sonnenverbrannten Gesichtern und den guten Kleidern, die noch die Knitterspuren aus dem Koffer trugen. Ich sah, wie sie anfangs in einem fort miteinander lachten, wobei Mihai ihr den Arm um die Schultern legte, dann sah ich sie ebenso oft zusammen, allerdings ohne äußerliche Zeichen der Zärtlichkeit, vereint durch jenes Einverständnis des gefestigten Paares, das einem auf den ersten Blick auffällt. Als mir das bewusst wurde, hatte wohl jemand in mir endgültig begriffen. Allerdings merkte ich nicht, wann das war, die Tage hatten kein Gesicht, und in mir köchelte unablässig die Scham, ich war die ganze Zeit nur darauf aus, sie zu verbergen, und manchmal hörte ich nicht einmal mehr die einfachsten Worte von Jeni: »Es hat Mittag geläutet« oder »Pass auf, du hast deinen Koffer offen stehen lassen« …
Ich allein, unter so vielen glücklichen Paaren, ich allein, während sie Abend für Abend den staubigen Abhang zum Teich hinuntergingen, im alles durchdringenden Zirpen der Grillen, vorbei an verrunzelten Tomaten, Konservendosen, getrockneten Kothaufen und leeren Kognakflaschen, alle Kofferradios mit dem Wunschkonzert bis zum Anschlag aufgedreht. Und darüber die vielen Sterne, zum Verrücktwerden … Ihr warmes Licht oder die der über Tag erhitzten Erde kroch mir durch die Schuhsohlen in die Füße, und in jenem Sommer begann ich mich einzuigeln, in die Ecke getrieben von meiner beschämenden Andersartigkeit.
Mittags roch das Dorf nach Staub und gebratenen Gründlingen. Es erschien mir jetzt in meiner Erschöpfung dermaßen vertraut, als hätte ich Ewigkeiten hier gewohnt. Die krummen Lehmgassen, das Gewusel um die drei Kioske und die Lebensmittelläden, die langgestreckten Höfe mit gilbendem Grün, die distelbestandenen Lehmböschungen, das alles wurde mit einem Mal unwirklich, sobald der Wind am Abend den Sand in Fontänen emporwirbelte, wenn wir in den Hof des ehemaligen Gutshauses zurückkehrten. Weil ich wider besseres Wissen immer noch wartete, jätete ich tagsüber stundenlang immer weiter, stur zwischen dem feinblättrigen Möhrenkraut unter einer Sonne gebeugt, die mir Arme, Nacken, den ganzen Körper im Badeanzug versengte. Noch ein bisschen, sagte ich mir, noch ein bisschen, aber dann konnte ich nicht mehr und stand auf, um mich zu recken. Über dem ganzen Feld sah ich die braungebrannten Schultern der Jungs und große gebleichte Strohhüte, ging Wasser trinken aus einem der Eimer mit Sand auf dem Boden, die am Feldrand standen, und unterwegs vermischten sich plötzlich die Dinge, wurden anders, als sie gewesen waren. Wenn er sich aber, sagte ich mir, wenn er sich nun aber nicht zufällig immer mir gegenüber an den Tisch setzt, wenn ihn gerade mein allzu offensichtliches Warten abgeschreckt hat … Ich schlüsselte das alles in vier oder fünf Hypothesen auf, die nur eines gemeinsam hatten: Ausgeschlossen, dass es ihm gleichgültig war; dann ging ich zurück und jätete stunden- oder nur minutenlang glücklich erhitzt weiter vor mich hin. Dieser Zustand war aber nicht von Dauer, denn da sah ich sie wieder zusammen und spürte augenblicklich, wie der unerträgliche körperliche Schmerz vom ersten Abend aufkam.
Dann gab es allerdings auch ganze Stunden, in denen der Schmerz sich zu erschöpfen schien, fast als wäre er nie da gewesen, zusammengenommen machten sie mehr aus als all die anderen, außerdem wurden es immer mehr, ich hoffte zumindest, es wäre so. Das war meist dann, wenn ein paar von uns ans Meer fahren durften und auf die LKWs kletterten, die die Gemüseläden belieferten, sich dort zusammenkauerten, mit Zeitungspapier gegen die emporwirbelnden Staubfahnen geschützt, und die beiden ließen keine dieser Gelegenheiten aus. (Mihai war mit dem Sportlehrer befreundet, abends tranken sie einen – im Geheimen, wie sie meinten, dabei wussten es alle.) Es gab Sommernachmittage, an denen ich auf der Veranda zurückblieb, um zu lesen, und hin und wieder zu den Kronen der Robinien hinaufsah, die keinen Schatten warfen. Wenn es Abend wurde, gingen wir in Gruppen zum Teich, streckten uns auf den Decken aus, die wir heimlich aus den Schlafräumen verschleppt hatten, rauchten unter dem holzigen Gequake der Frösche zu zweit eine Zigarette, bis dann zu einer bestimmten Stunde, die wir vorausahnten, in Mangalia die Lichter angingen, dort drüben, sehr weit, weiter weg als alles andere. Dann war es gut, bis ich irgendwann ein neues Paar sah und wie einer seinen Kopf auf die Knie oder Schenkel eines Mädchens gelegt hatte. Einen Augenblick lang stockte mir der Atem, gleich darauf verspürte ich wieder den schalen Geschmack der Erinnerung.
Dann ging ich allein weg und vergrub die Hände tief in den Hosentaschen. Langsam schritt ich durch die immer dichter werdende Dunkelheit, es sollte möglichst lange dauern. Sobald ich dort war, drehte ich den gekrümmten Nagel um, der die Brettertür geschlossen hielt. Wie gern hätte ich mich in den Arm genommen und mir übers Haar gestrichen, so aber sagte ich mir in Gedanken: Macht nichts, macht nichts, heute ist schon Dienstag, und lehnte mich verdrossen an die Wand. Bis zur halben Höhe war sie in einem schwärzlichen Grün gestrichen, darüber standen, in den weißen Kalk mit einem Nagel eingekratzt oder mit einem stumpfen Bleistift geschrieben, die heißen oder einfach nur obszönen Wünsche Unbekannter. In der Dunkelheit dachte ich nicht mehr daran und passte nur auf, nicht auf dem feuchten, miefenden Betonfußboden auszurutschen.
Ich konnte nichts tun, ich musste ganz einfach Geduld haben und den Tag abwarten, an dem ich von hier weg konnte, und dabei nicht daran denken, wie sehr ich ihn herbeisehnte. Immer wieder sagte ich es mir an den langen Vormittagen, wenn ich Mais schälte, immer wieder sagte ich es mir schon morgens mit größter Bestimmtheit, wobei ich die weichen, von Blütenstaub starrenden Lieschen Büschel für Büschel herunterriss, während in meinem Inneren jemand unablässig redete wie ein Tonbandgerät, das in einem leeren Zimmer vergessen worden ist. Und plötzlich merkte ich, dass ich längst nicht mehr glaubte, was ich mir ständig wiederholte, ach, meine ganze Geduld war umsonst, nie würde ich diesen dumpfen Schmerz loswerden, der irgendwo unterhalb des Halses bohrte. Mein Gott, wieso konnte ich es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, kannte ich doch unser Zimmer mit den konfus schwirrenden Flüstertönen, das Knarren jeder Tür in meinem Rücken und den Weg zur Schule, wo ich Mutter traf, die mit den prallen Einkaufsnetzen vom Markt kam, und die Männer mittleren Alters, die vor den Zeitungskiosks die Sportgazette lasen, und der Korso mit den Gruppen frisch geschorener Gymnasialschüler in blauen Uniformen, die Hand- und Fußknöchel freigaben … Ich setzte mich zwischen die Maishaufen ins spärliche Gras, dem Ersticken nahe, die Tränen glänzten in meinen Augen, lösten sich aber nicht, sondern rannen zurück in die Nasenlöcher und in den Rachen. Um mich herum nahm ich Schreie und Wortfetzen wahr, die Erde klebte an meiner feuchten Haut, ich saß einfach da, der Kopf leerte sich, und plötzlich spürte ich die Ameisen an meinem ganzen Körper.
Am letzten Sonntag vor der Abfahrt fuhren wir mit LKWs ans Meer. Ich sah es zum ersten Mal, und als ich ins Wasser ging, vergaß ich alles. Rhythmisch grün rollte der Himmel gegen mich an und füllte meinen Mund mit Salzgeschmack, mir war, als wäre ich zurückgekehrt zu etwas lang Vertrautem und als zählten die vergangenen Jahre nicht mehr. Das Licht pulsierte im Einklang mit dem Wasser. Hin und wieder rollte eine Welle über meinen Kopf hinweg, dann packte mich in dem durchscheinenden flüssigen Dunkel die Angst, eine endlose Sekunde lang ruderte ich in den Blasen des Strudels aufwärts, dann watete ich weiter, die vernebelten Schiffe, die das Meer bewachten, fest im Blick.
Später schlief ich unter der weißen Mittagssonne ein. Die rote Leinwand mit kreisenden Flecken vor den geschlossenen Augen und das von Schreien durchsetzte Gewimmel der nackten Leiber … Als ich erwachte, hatte ich Kopfschmerzen und das Licht nahm ab, wurde mild und traurig wie an den Morgen im Herbst. Reihenweise übten Jungs am Wasser den Wechselschritt, mit ihren unterschiedlichen Körpern und Gesichtern, mal kindlich, mal von Flaum und Pickeln entstellt. Der Himmelsrand zog sich zurück, das Ufer weitete sich, bis die Luft sich verschattete und das Meer milchig glänzte und mit seinem nunmehr vertrauten Schwappen meine Füße benetzte. Ich marschierte am Ende der Reihe, die Badeschlappen in der Hand, die Küste entlang, die steinig gekrümmt auf das blinkende Licht des Leuchtturms von Mangalia zulief.
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Als ich zurückkehrte, war der Herbst gekommen und es wurde früher Abend. Ich versuchte den klebrig zähen Schleier des Schlafes zu zerreißen, als ich Mutters Stimme hörte. Ich richtete mich auf und sah im Spiegel die Abdrücke der Knöpfe und Falten des Kissens in meinem geschwollenen Gesicht, betrachtete das sinnentleerte Zimmer, die staubbedeckten Möbel und sah, wie die Nachbarin im Garten nebenan mit der großen Schere die fleischigen Dahlien abschnitt. Was habe ich bloß geträumt, dachte ich verzweifelt, was habe ich geträumt, ich erinnerte mich nicht, es tat mir nur leid, dass ich aufgewacht war. Immer tat es mir leid, dass ich aufgewacht war, und weil ich es ahnte, wollte ich mich zurückwälzen, noch bevor ich die Augen aufschlug. Ich klammerte mich an eine letzte fadenscheinige Traumvorstellung und versuchte an ihr entlang wieder in den Schlaf zu finden, doch je krampfhafter ich daran festhielt, desto schneller gelangte ich an die Oberfläche. Es blieb mir nichts als ein lächerlich verquerer Gedanke, und ich musste mich, ob ich es wollte oder nicht, langsam anziehen, taumelnd und mit einem schalen Geschmack auf der Zunge.
*
»Jeni ist da.«
Ich öffnete die Tür zur Veranda und bat sie herein.
»Crăiţa feiert am Samstag ihren Geburtstag … Sie hat mir gesagt, ich sollte auch dir rechtzeitig Bescheid sagen …«
»Kommt Mihai auch?«, fragte ich, sobald Mutter die Küche verlassen hatte.
Als Jeni nickte, fiel mir wieder der Staub in den Nasenlöchern ein und die endlose, im Sonnenlicht gleißende Straße, die wie Spielzeug darüber hingleitenden vielfarbigen Autos, die dürren Disteln am Straßenrand, wo eine alte Bäuerin, deren schwarze Fußsohlen unter den faltigen Röcken hervorsahen, reglos neben einem Haufen Melonen saß. Es war eine Unruhe, fast schon ein Schmerz.
»Nein, lass es gut sein, es hat keinen Sinn – ich habe dir doch gesagt, es ist mir egal.«
Vielleicht war es ja auch wirklich so, nur der Gedanke, in dem nichts mehr mitschwang, kehrte reflexartig immer wieder. Woran sollte ich auch denken, während ich mit dem heißen Eisen die feuchtklamme Wäsche bügelte? Der Geruch von Sauberkeit und Seife mischte sich mit dem Dampf des Bügeleisens, und ich bekam Kopfschmerzen, mir wurde zunehmend übel. Es gab nur Geräusche, das Klirren der Teller und Gabeln, die für das Abendessen aufgedeckt wurden, das Rascheln der Papiere, in denen Onkel Ion blätterte, und das Knarren des Fußbodens unter seinem wippenden Fuß, das verhaltene Krächzen des leise gedrehten Radios, Voice of America, und die Zeitansage. Der Gedanke an Mihai kam trübe auf wie eine lästige Gewohnheit, dann lief ich, von geheimer Angst getrieben, zum Spiegel und betrachtete mich einige Augenblicke mit aller Bösartigkeit, die ich aufbringen konnte. Wie viel älter war ich geworden? Wer würde mich denn noch »ansehen«?
»Kommt ihr essen?«, rief Mutter und ging wieder in die Küche.
Ich spürte, dass ich die anderen überhaupt nicht mehr sehen wollte, und sagte mir, dass es von nun an immer so sein würde, das Weinen wand sich in meiner Kehle wie ein fremdartiges Tier, ich klaute ein paar Zigaretten aus dem Nachtschränkchen des Onkels und ging hinaus. Irgendwo lehnte ich mich an eine Mauer, die noch warm war, hörte den Zug, der gerade durch die nahe liegende Station fuhr, und die Rabauken des Viertels schossen auf Fahrrädern an mir vorbei. Ich weinte, endlich weinte ich und ließ die Tränen im Gehen auf meine Bluse und auf den Asphalt tropfen. Ein Paar kam vorüber, sie sprachen leise miteinander, um nicht das auf den Schultern eingenickte Kind zu wecken, ich wäre gern stehen geblieben, wusste aber nicht wo.
»Psst, psst«, zischte ein schwarzer Schatten, der sich hinter einem Baum versteckt hielt.
Ich erschrak, rannte los, und der Widerhall meines Laufschritts erschreckte mich umso mehr.
Die Angst ließ mich erschöpft an der Ecke zum Boulevard innehalten, ich suchte nach meinem Leid und konnte es kaum finden, und der Junge, der mich um Feuer bat, versuchte mich unbeholfen mit tröstenden Worten anzubaggern. Ich schwieg, denn jetzt war die Erinnerung erträglich, sogar angenehm, ich wollte mir die Augen trocknen und die Nase putzen, aber ich hatte das Taschentuch zu Hause vergessen. Schließlich gab er auf, und ich ging allein weiter. Ich warf den Kopf in den Nacken, die Linde am Tor reckte ihre blätterschwere Krone zum Himmel, und ich fühlte mich immer besser, so allein. Im Fenster unseres Schlafzimmers war noch Licht.
Am Ende arbeitet Onkel Ion immer noch, sagte ich mir, öffnete die Küchentür und begann nach etwas Essbarem zu stöbern.