Kapitel XIX

Hier könnten wir hineingehen – waren Sie schon mal da?«, fragte mich Petru Arcan und stieß die schwere Glastür mit einer Hand auf.

»Nein, noch nie …«

Ich ging andächtig und vorsichtig neben ihm her, wagte kaum aufzuschauen. Auf den schwarzen Plüschsofas saßen Pärchen mit langstieligen Gläsern in der Hand, aus denen sie hin und wieder mit Strohhalmen von den bunten Getränken nippten, die Mädchen trugen sehr kurze Röcke und hatten die Lider grün oder blau geschminkt, wie es damals aufkam. Es wurde im Flüsterton geredet, und der dicke Teppich dämpfte die Stimmen zusätzlich. An der Bar drehte sich ein Mann immer wieder mitsamt dem Hocker um und spähte ungeduldig in den Saal. Gerne hätte auch ich dort gesessen, mit einer Zigarette in der einen und einem langstieligen Kelch in der anderen Hand, hätte laut gelacht und die Locken geschüttelt, wie ich es im Kino gesehen hatte. Aber meine Bewegungen waren dermaßen unsicher, dass ich froh war, als wir die Saaldurchquerung hinter uns hatten. Hier auf der Eckbank fühlte ich mich in Sicherheit, nur manchmal fiel mir ein, dass wir irgendwann auch gehen mussten und ich dann gezwungen war, noch einmal all die Blicke zu ertragen.

»Ist es nicht besser hier als im Sprechzimmer?«, fragte er. Zerstreut überflog er das Faltblatt mit den Namen der Getränke, fremden Wörtern, die mir allesamt unbekannt waren. Mit verstohlener Eile versuchte ich sie auf den dunkel etikettierten Flaschen vor dem Barkeeper oder im Spiegel hinter dem Regal auszumachen. Es gelang mir jedoch nicht, mehr als hie und da ein Wort, manchmal auch nur ein paar Buchstaben zu erkennen.

»Doch«, antwortete ich mit einiger Verzögerung.

Ich fürchtete mich vor jeder Frage, die er mir stellen könnte, ich befürchtete, ich würde den ganzen Abend zu nichts anderem imstande sein, als ja und nein zu sagen. Ein Spiegel hing auch über dem Tisch, an den wir uns gesetzt hatten. Ich betrachtete mein Spiegelbild unzufrieden wie immer, und mich überlief eine beschämte Dankbarkeit, die ich behalten und jahrelang aufrechterhalten sollte. Er hatte es fertiggebracht, mit mir hier hereinzukommen und sich neben mich zu setzen, als scherte er sich nicht im Geringsten um den vor drei Jahren von der Stange gekauften ballonseidenen Mantel, den ich an der Garderobe abgegeben hatte, um meinen billigen Relonpullover und die schief geschnittenen Nägel an meinen tintenfleckigen Fingern.

»Ich suche etwas für Sie aus, wenn Sie sich nicht entscheiden«, sagte er, und für einen Moment atmete ich erleichtert auf.

Staunend betrachtete ich die hohen Kelche, in denen je eine dünne Zitronenschnitte schwamm. An den Rändern funkelten kleine Eiskristalle. Als ich mein Glas zum Mund führte, leckte ich verstohlen daran und merkte, dass es Zucker war. Noch mehr wunderte ich mich darüber, dass er nichts mehr über die Arbeit sagte, er fragte nach meinem Zuhause, nach der Stadt, nach dem Onkel und seinem Tod, allerdings nicht ungezwungen, sondern so, als müsse er das Schweigen überbrücken, das sich sonst sofort einstellen würde. Doch ich hing angespannt an seinen Lippen, legte mir die Antwort vorher zurecht, um sie mir dann im letzten Moment zu verkneifen. Alles, was ich in meinem Kopf zusammenkramte, erschien mir dermaßen bedeutungslos, ich konnte es einfach nicht riskieren, dass er mich so sah, wie ich war, deshalb schob ich die Antworten hinaus und suchte krampfhaft nach etwas anderem, das ich ihm hätte sagen können.

Am Plattenautomaten wählte jemand immer wieder dasselbe Lied, das ich mittlerweile auswendig kannte. Getragen wogte es zwischen den gepolsterten Wänden der Bar auf und ab, Only yououou, und ich spürte, wie es sich emporschwang, vermischt mit dem Getuschel an den Tischen, mit dem Abendlicht, das jenseits der schweren Samtvorhänge an den Fenstern verblich, mit dem Getränk, das mir die Schultern bleiern hinabzog. Etwas Fremdes und Gefährliches, eine in so viel Wohlgefallen aufgelöste Trauer hatte mich überschwemmt, in den klangvollen Worten Only you meinte ich die Möglichkeit eines anderen, aufreibenden Lebens für mich zu erkennen, der Schmerz, den ich in mir trug, war auf einmal konzentriert, frei von Langeweile und Vergessen. Nichts von all dem, was ich bisher erlebt hatte, kam der durchdringenden Schärfe dieses Augenblicks gleich. Als es still wurde und der Nachhall des Liedes verklungen war, blinzelte ich verblüfft, weil ich nicht begriff, wohin alles verschwunden war.

Als ich die Hand nach dem Glas ausstreckte, und unsere Finger sich berührten, spürte ich, dass die zarten Nerven in meiner Brust elektrisiert waren, das gab mir einen Stich, und ich senkte verlegen den Blick. Ich war plötzlich dem seinen begegnet, er erschien mir zu feucht und zu unstet. Seine blauen Augen wichen mir aus, kehrten wieder zu mir zurück, blieben haften. Und dann dieses unwirkliche Blau, festlich und durchsichtig, feucht glitzernd vor Erregung.

»Gehen wir«, sagte er, »ich will dir auch das Buch geben …«

Ich ahnte, was sein Lächeln bedeutete, allerdings derart undeutlich, dass ich es gar nicht an mich herankommen ließ. Umständlich stand ich auf und suchte nach meiner weißen Handtasche mit den schmutzigen Ecken. Mir schien, als hätte ich mich schon vor langer Zeit entschlossen, es diesmal darauf ankommen zu lassen, ohne mir Gedanken darüber zu machen, so dass ich keine Bewegung wagte, durch die ich ihn jetzt, wo ich ihm so nahe gekommen war, hätte verlieren können. Ich ging quer durch den Raum der Bar und hätte es in Kauf genommen, mit Eintretenden zusammenzustoßen, um mich nicht in den Spiegeln, in denen sich meine Schritte abzeichneten, wiedererkennen zu müssen.

*

Ich hatte keine Zeit gehabt, mich an das Zimmer zu gewöhnen. Ich saß auf der Kante des schwarzen Stuhls aus geschnitztem Holz, scheinbar zum Gehen bereit, doch von Gehen konnte jetzt keine Rede mehr sein. Mein Blick streifte die überquellenden Bücherregale. Darüber hing eine folkloristische Maske. Ich wusste noch nicht einmal, dass es solche Masken gab – geschweige denn, dass sie jetzt als Zimmerschmuck in Mode waren. Er bückte sich zu einem Schränkchen, nahm eine Flasche und zwei Gläser heraus und stellte sie auf ein Tablett.

»Trink«, raunte er leise und gebieterisch, im selben Tonfall, in dem er mir seinerzeit die Bibliographie diktiert hatte.

Ich nickte und legte meine feuchte Hand auf die seine, die sanft meine Knie streichelte. Nichts von dem, was mit mir geschah, überraschte mich, es war, als hätte ich es schon erwartet, als ich mit den zusammengerollten Arbeitspapieren zu ihm gegangen war. Ich spürte immer noch Onkel Ions ängstliche Vorsicht in mir, allerdings überlagert vom betäubenden Geschmack des Risikos, das ich noch nie eingegangen war. Hinter meinen Lidern tat sich jenes andere Zimmer auf, aus dem ich gekommen war, in das ich zurückgehen musste, die fünf Betten mit großflächig gelb geblümten Überdecken, Didis leises Schnarchen und wie ich nachts zu ihr ging, um sie zu schubsen, damit sie sich zur Seite drehte, wie ich es früher mit dem Onkel getan hatte. Petru Arcans feuchter Mund hatte sich an meinem festgesaugt, und sein fliegender Atem nahm die Witterung meines Haars und meines Halses auf. Das ganze Zimmer, oder war es nur er, roch betäubend und seltsam nach ausländischen Büchern, gutem Tabak und After-shave, was mich an Biţă erinnerte. Ob das immer so war oder ob nur ich nichts spürte als das, fragte ich mich verwundert, während ich ergeben die Arme hob, damit er mir den Pullover ausziehen konnte. Noch nicht einmal sechs war ich damals, als ich mit Mutter zu Onkel Ion kam, der ihn mir auch so auszog, mit einer vor lauter Ungeschick brutalen Sorgfalt. Er hatte es versäumt, die Knöpfe am Hals zu öffnen, und ich weinte verschreckt in der weichwollenen Finsternis.

»Wieso bist du denn dermaßen brav?«, flüsterte er mit unsicherem Lächeln.

Die unteren Zahnhälse waren über dem Zahnfleisch gelb, wahrscheinlich vom Rauchen, dachte ich mir und schützte meine Schultern mit den Händen. Der Rauputz an der Wand war voller gelber Pusteln. Ich ging auf nackten Sohlen bis zum Tisch und tastete nach meinem Glas. Ich trank, damit ich mich nicht umdrehen, ihn nicht sehen musste. Er wusste nicht (ich sollte es erst später begreifen), dass die Ruhe, mit der ich mich nackt zeigte, auf das Gemeinschaftsbadezimmer mit Betonfußboden und schadhaftem Spülbecken zurückging. In der dünnen Luft hörte ich seine Kleider raschelnd fallen, ein kleiner Augenblick blieb mir noch, um allein und in Ruhe das Zimmer zu betrachten, angetan von den schweren Gardinen und dem matten Glanz des silbernen Aschenbechers auf dem Kristallglas des Schreibtischs.

»Ich hab ausgetrunken«, flüsterte ich, streckte mich aus und legte meinen Kopf auf die angewinkelten Arme.

Mit der einen Gesichtshälfte, die nicht in der Polsterung des Sofas versunken war, nahm ich die rollende Bewegung der Möbel wahr. Sie fuhren mit meinem sich hebenden Atem langsam aufwärts bis zu einem Punkt, an dem mir schwindlig wurde, dann rasselte mit einem Mal alles herunter, und wenn ich wieder einatmete, begannen die Möbel ihren Aufstieg von neuem. Es war eher die Wirkung des Camparis als die der Aufregung oder Angst. Ich umarmte ihn, weil er mir leidtat in seiner fremdartig bettelnden Erregung, selbst seine Achselhöhle pochte wie ein Herz. Nur der Moment, als ich mich nackt dem augenlosen Zimmer ausgesetzt hatte, drängte sich vor seine Bewegungen, die mir demütigende Schmerzen verursachten. Während ich die Zähne zusammenbiss und mein Körper sich immer weiter verkrampfte unter dem unbeholfenen Druck, mit dem er – fast war es langweilig – versuchte, mich zu öffnen, sah ich wieder das Bad, die vom Dampf tropfenden Wände und mich, wie ich bei jedem Schritt auf dem zu den runden schwarzen Abflusslöchern abfallenden Betonfußboden ausrutschte. Dabei erkannte ich mich verärgert wieder in der vielfachen Nacktheit der anderen, den Brüsten, den Hüften, den von dem Strahl lauwarmen Wassers aus den verbogenen Brausen geröteten Gesichtern. Vielleicht hätte ich das, was mir geschah, noch mit Tränen oder Bitten hinauszögern können, aber ich hatte meinen fremden Körper ostentativ verlassen; zwar versuchten meine Bewegungen willenlos, seinen zu folgen, ich war mir jedoch sicher, dass ich selbst irgendwo draußen geblieben war, und betrachtete sowohl ihn als auch mich mit derselben Mischung aus Neugier und Überdruss.

*

Plötzlich wurde es kalt im Zimmer von der grauen Nachtluft, die durch die Gardinen hereinwehte. Vom Tablett her verströmten die Reste des Getränks säuerliche Gerüche, rundherum, auf dem Teppich und auf den Stühlen, lagen reglos und offen, weich und obszön unsere Kleider durcheinander. Auch das ist etwas Gewöhnliches, das ständig passiert, sagte ich mir mit bitterer Empörung, presste die Lider zusammen, ohne mich zu rühren unter seiner Hand, die erschöpft auf meiner Schulter lag. Nebenan lag mein Körper, den ich am liebsten vergessen hätte, ein schändlich beflecktes Gefäß. Wie können sie das nur tun, wieso schämen sie sich nicht voreinander, dies so zu tun, nackt, Auge in Auge?, fragte ich mich immer wieder und verbarg, allerdings zu spät, mein tränenloses Gesicht unter den Ellbogen, die sich hager und spitz anfühlten. Seit eh und je hatte ich alle anderen Menschen in Kleidern gesehen, die mit ihrem Körper verwachsen schienen, wie sie ernst und eilig zur Arbeit, auf den Markt oder zu Sitzungen gingen. Ich vermied jede Kopfbewegung, am liebsten hätte ich ihm nie wieder ins Gesicht sehen mögen.

»Gehst du zuerst ins Bad?«, flüsterte er und strich mir mechanisch übers Haar.

Ich schüttelte feindselig den Kopf und zerrte die Überdecke des Sofas über mich, hinauf bis zu meinen nackten Augen. Hinter der Tür hörte ich das Plätschern des Wassers und seine Schritte. Ich fürchtete, er würde wiederkommen, ich fürchtete mich davor, die feuchte und widerliche Wärme verlassen zu müssen. Unten auf dem fremden Boulevard gingen die Lichter an, ich hörte das Knacken der Türklinke und erahnte seine Gestalt in der Dunkelheit und seine Ratlosigkeit vor meinem Schweigen. Er wühlte im Schrank und legte mir das gefaltete Handtuch neben das Kissen.

*

Die eine Schulter war steif, ich spürte es durch den dünnen Schlaf, der immer durchscheinender wurde, aber ich rührte mich nicht, um ihn nicht zu wecken. Ich vernahm seinen gleichmäßigen Atem neben mir. Sein Kopf war in eine Ecke des Kissens gerutscht, die sich blähte, und während ich aus dem Schlaf zurückkehrte, erkannte ich ihn plötzlich wieder und betrachtete ihn verwundert. Die krachende Aufzugstür ließ die Mauern immer wieder erbeben, und das morgendliche Stimmengewirr auf dem Gang schien mir unsere Nacktheit zu belauern. Hin und wieder klinkte unten eine Weiche ein, und die Straßenbahn fuhr mit metallischem Gerassel über uns hinweg. Während ich ihn so betrachtete, versuchte ich sein im Schlaf kindlich erscheinendes Gesicht zu lesen. Ich ahnte etwas, fast meinte ich, es zu begreifen. Das allerdings nur eine wirre Sekunde lang, die ich sofort wieder vergaß, weil sie sich mir nicht deutlich erschloss. Ich hatte ihn bislang noch nie richtig sehen können, weil ich den Blick nicht von mir selbst abgewandt hatte. Er hatte sich die ganze Zeit in einem leeren Raum bewegt, er war wie ein Unbekannter in einem Türrahmen. Ein unsichtbares Schwanken lag in dem Augenblick, nur ich spürte es, noch konnte ich auf sein unbekanntes Leben, auf seinen Körper verzichten, noch war nichts von ihm auf mich übergegangen. Dann meinte ich, es greifbar vor mir zu sehen wie einen Schritt, meinte zu wissen, wie ich mich entscheiden sollte, war unbewusst aber schon gebannt von ihm, von seinem gleichmäßigen Atem. Ich streckte die Hand aus und berührte mit neugieriger Zärtlichkeit sein leicht verschwitztes Haar, meine versöhnlichen Gedanken breiteten sich zum ersten Mal über seinen unwissenden Schlaf.

*

Dann dämmerten die Stunden vor sich hin, Gewöhnung stellte sich ein, und nur hie und da sah ich nach seiner Uhr, die auf dem schwarzen Schreibtisch lag. Auf dem kleinen Zifferblatt glitten die Minuten wie immer ohne Eile dahin. Ein Zimmer, in dem das Rauschen der Dusche zu hören war und die Wände umschmeichelt wurden von sanften Akkorden, es war, wie ich mittlerweile wusste, der Geiger nebenan, der zu dieser Stunde übte. Aufgrund unerklärlicher Umstände war er manchmal zu hören, dann wieder zogen sich die Töne ins Schweigen zurück. Ich stand vorgeneigt an dem breiten Fenster und sah zwischen den Vorhängen in das im Morgennebel weißlich schimmernde Licht. Unvorstellbar: so wäre mein Leben hier. Durch das Fenster seiner Wohnung drang eine fremde Stadt herein, die ich mit freudig verwunderten Augen aufnahm, wie auf Reisen. Die Häuser hatten andere Ecken und Kanten und seltsame Dächer mit Zinnen und Scharten. Von unten reckten die Bäume ihr schweres Sommerblattwerk herauf. Das Licht ergoss sich immer milchiger, und das plötzliche Rasseln des Telefons ließ mich zusammenzucken. Unter meinen staunenden Augen ankerte das Zimmer plötzlich in einer Welt, für die Onkel Ion mir, ohne es zu wollen, ohne es auch nur zu ahnen, das Gift und die Süße der Bewunderung eingeträufelt hatte. Für mich war der Anrufer ein Name, den ich aus den Büchern kannte, ein Gesicht, das ich im Fernsehen gesehen hatte, und dennoch so nah, dass ich seinen keuchenden Atem aus dem Hörer vernahm, den Petru langsam abgenommen hatte.

»Ich habe dich angerufen, eine Stunde bevor ich gegangen bin … Bist du denn verrückt, mich einzuladen und dann wegzugehen?«, schimpfte Petru mit der jungenhaften Grobheit, die mich gleich beim ersten Mal getroffen hatte.

Und der andere, der für mich immer noch bloß ein Name war, verwandelte sich in eine Stimme, die sich hastig entschuldigte.

Da ich nicht weiter wusste, trat ich näher an den Tisch und ließ meinen neugierigen Blick über seine herumliegenden Notizen schweifen. So ein Leben, das war meine Sehnsucht, mir schwebte eine jahrelange Anstrengung vor wie die meines Onkels, die hier zum Erfolg gediehen war. Ohne das Gespräch mit dem anderen zu unterbrechen, drehte sich Petru plötzlich nach mir um, und seine böse Miene hielt mich davon ab, näher an den Tisch zu treten; ich ging zurück und setzte mich auf einen Stuhl, möglichst weit weg. Mir wurde bewusst, dass er sein Leben genau wie bisher gegenüber meinem abschottete, und einen Augenblick lang erschien mir der Gedanke unerträglich. Ein Irrtum war allerdings ausgeschlossen, in seinem Gesicht lag eine unerbittliche, sachliche Aufrichtigkeit.

»Schauen wir doch mal, was du sonst noch gemacht hast …« In seinen Worten klang ein verstecktes begütigendes Lächeln für mich mit. Zugleich hatte ich wieder den Eindruck, dass er vollkommen eingekapselt war, so wie es mir immer ging, wenn ich mit ihm zusammen war und ihm näher zu rücken versuchte. Ohne zu antworten, bückte ich mich nach der Mappe in einer Ecke, um die Papiere hervorzuholen.

Er setzte sich auf die Fensterbank, und während er las, senkten sich sanft seine Wimpern. Ich sah, wie sie, weich und dicht, sein verschlossenes Gesicht besänftigten, jenes Gesicht, von dem ich wusste, dass er sich dahinter versteckte. Eigentlich hatte ich ihn mir ja schon lange ausgesucht, vielleicht schon damals, als Onkel Ion mir von ihm erzählte, hatte ihn ausersehen unter all denen, die ich kannte, all denen, die ich noch kennenlernen sollte, war dann aber aus Unachtsamkeit an Mihai geraten. Vielleicht war es sogar noch früher gewesen, damals, als er in der Tür zu unserem Flur lehnte, von einem Bein aufs andere trat und nur mit ja und nein antwortete. Ich hatte ihn ausgesucht, ohne es zu wissen und ohne ihn wirklich zu kennen, und ich kannte ihn noch immer nicht besser. Er schien ganz anders zu sein, als ich ihn mir vorgestellt hatte, vielleicht hatte ich die Jahre verpasst, in denen ich ihn so hätte finden können, wie ich ihn mir gewünscht hätte. Ich hatte ihn zu spät bekommen, vielleicht aber hatte ich ihn erst jetzt und nur so erwartet.

Als er mir die Hand auf die Schulter legte und mich näher an sich heranzog, sah ich seine konzentriert geweitete Iris, die alles Blau um sich verdrängt hatte, und vergrub meinen erstaunten Blick in dem weichen Hemdausschnitt, wobei ich spürte, wie sich mein Körper sperrte. Er schob mich gleich wieder von sich, misstrauisch und verständnislos.

»Was hast du?«

»Nichts – was soll ich denn haben?«, gab ich gereizt zurück.

Ich umrundete ohne bestimmte Absicht den Schreibtisch und griff nach irgendeinem Buch, um es dann sofort wieder sinken zu lassen. Zwischen den Blättern hatte ich ein Foto entdeckt, von dem mir ein entspannt lächelndes Gesicht entgegenblickte, das ich irgendwoher kannte. Er war dermaßen schnell aufgefahren und hatte sich so plötzlich wieder gefangen, dass ich, weil mir nichts Besseres einfiel, fragte, ob er am Nachmittag vielleicht weggehen wollte?

Mürrisch entgegnete er: »Nein, ich habe zu tun«, dabei zeigte er auf die Notizen, »du kannst mich anrufen …«

*

Inzwischen wusste ich im Voraus, wann die Unruhe kam, im Näherkommen wurde sie größer und größer, ich spürte, wie sie mir in die Hände kroch, kribbelnd wie Alkohol. Sie begann vor der Zeit, die wir für meinen Anruf ausgemacht hatten, mit der Befürchtung, das Läuten werde in einem leeren Zimmer verklingen. Langgezogen, mit Pausen der Stille, dann erneut, viermal, fünfmal, sechsmal. Die Demütigung des Rufs, der ohne Antwort blieb, trieb mir die Röte in die Wangen. Die Hand gegen die Mauer gestützt, der schwere Hörer aus Metall noch warm von der Berührung mit dem Ohr. Es kann nicht sein, es kann nicht sein, sagte ich mir und kratzte mit dem Fingernagel am bröckelnden Putz der Mauer, wo Telefonnummern standen, unbeholfen mit Bleistift gekritzelt.

Unbegreiflich sein Leben, immer weiter weg von meiner Unruhe, die meinen Atem erstickte und unermesslich weiter wuchs wie ein Fieber, bis nichts übrig war als der diffuse Schmerz, der sich längst von seiner Ursache gelöst hatte. Dann hängte ich den Hörer zögernd ein und ging langsam dem öden Neonlicht der Kantine entgegen, wobei ich schicksalsergeben nach einer Rechtfertigung für ihn suchte.

Wenn ich dann aber die hohe, beidseitig von den feuchten Händen der ständig Ein- und Ausgehenden befleckte Glastür aufstieß, fuhr mir die Traurigkeit und der warme Dunst des Gemeinschaftsessens derart scharf in die Kehle, dass ich sie kaum hinunterzuwürgen vermochte. Ich blieb auf der Schwelle stehen und blickte in den schmalen Raum, der an ein Aquarium erinnerte, weil die fahle Sommerluft von den Kunststoffjalousien blau eingefärbt war. Auf den Tischen weiße Tabletts und fettige Essensreste, das Klirren der stumpfen Messer auf billigen Tellern.

Plötzlich erschien mir die Nähe des anonymen Stimmengewirrs unerträglich, ich machte kehrt und drückte mit schlaffer Hand gegen den zerkratzten Eisenrahmen der Tür. Der in dem schweren Metallhörer wiederholt surrende Klingelton des Telefons war der Auslöser, das Leid aber hatte immer schon in mir gewohnt, wie hätte ich es sonst erkennen sollen, wenn es pünktlich wie ein wiederkehrender Traum in den müden Raum des Déjà vu trat? Ob das nun ich war oder eine andere jenseits von mir, jedenfalls lebte sie die tierische Panik aus, indem sie endlos durch die Straßen streifte, und für eine Sekunde glaubte ich in dem zitternden Schaufenster den breiten Kiefer von Großmutter Letiţia und ihre beschämend traurigen Augen zu sehen … Ich ging weiter, und die erschöpfte Erbitterung, die diffuse Unruhe waren stets dabei, und ich hasste sie unablässig, bei jedem Zucken eines ausgelaugten Muskels, bei jedem Pulsen des Blutes in den Adern meiner müden Beine.

Und da war nichts mehr, es war nur noch spät, es war die Zeit, da die Wörter, die ich mir vorgesagt hatte, um sein Schweigen auszufüllen, nicht mehr sein konnten und nie gewesen waren, und unausweichlich wie eine Offenbarung drängte sich mir die Einsicht auf, wie bedeutungslos ich war für seine Tage, die sorgfältig in seinem ledergebundenen Terminkalender vermerkt waren.

Diese Straße war ich schon zweimal entlanggegangen, ohne es zu wissen, ich bemerkte, wie der Schatten die Betontreppen eines gelben Hauses, die gleich an der Straße begannen, hinaufgekrochen war. Ich spürte, dass ich nicht mehr weiter konnte, ich hätte meine Sandalen abstreifen und so dastehen mögen auf dem noch warmen Gehsteig, dessen Asphalt leicht nachbebte von der Fieberhitze des Tages. Dann blieb ich stehen und drückte das Mündungsrohr des Trinkspringbrunnens mit den Fingern so zu, dass sich ein Strahl bildete. Ich hatte keinen Durst, aber wenn ich schluckte, spürte ich meinen ausgedörrten Gaumen und die wie von einer Krankheit weiß belegte Kehle. Der weiche Schatten eines Vogels, der über die Häuserwände glitt, ließ mich aufschrecken. Ohne Sinn und Verstand trank ich weiter und zögerte den Augenblick hinaus, wenn die Gedanken mich wieder überfallen würden, die vertraute schleimige Feuchtigkeit der Mundhöhle stellte sich zwar nicht wieder ein, doch ich schlürfte unablässig weiter von der flüchtigen und geschmacklosen, ja fremdartigen Flüssigkeit.

*

»Fräulein, entschuldigen Sie bitte …« Die Münze, mit der der junge Mann nervös hantierte, sah ich nicht gleich, was er sagte, erschien mir unglaubwürdig, aber ich war zu müde, um wegzugehen. »Ich brauche eine weibliche Stimme zum Telefonieren …« Wieder dieser Metallkasten auf halber Höhe an der Mauer, und aus dem schweren Hörer der Klang wie Wasserrauschen, der mir Angst machte.

»Wenn eine Frau dran ist, fragen Sie nach Marius, wenn es ein Mann ist, nach Gabi …«

Ich versuchte meine Unruhe in den Griff zu kriegen, als ich hörte, wie es in einem leeren Zimmer läutete, und sagte mir – ohne Überzeugung –, es gehe ja nicht um mich. »Wenn es eine Frau ist, fragen Sie nach Marius, wenn nicht, dann nach Gabi.« Ich hörte, wie er es wiederholte, ohne dass ich etwas begriff, seine Brille ließ das schmale Gesicht alterslos erscheinen, kein Muskel rührte sich darin, nur seine Füße in weichen Sommersandalen trippelten unhörbar und unregelmäßig auf der Stelle.

»Ist auf dem Land …« Die Stimme einer Mutter, verdrießlich bis zur Feindseligkeit.

»Und Gabi?«

»Welche Gabi?«

»Seine Freundin«, raunte er mir von hinten ins Ohr und drehte das Feuerzeug zwischen den Fingern.

»Kenn ich nicht«, sagte die Mutter und legte ärgerlich auf.

Was fing er bloß an mit diesen leeren Worten? »Ich habe viele Mädchen gebeten, aber sie wollten nicht, die dachten …« Er ging mit schleppenden Schritten allein zu der Haltestelle zurück, wo ich ihn getroffen hatte.

Als ich dann aber wie jedes Mal im Dunkel des Zimmers gegen einen Stuhl stieß, den man in der Nähe der Tür hatte stehen lassen, und eine verschlafene Stimme heiser brummte: »Verdammt!«, riss ich mir mit fliegenden Händen die vor Erschöpfung feuchten Kleider vom Leib, geborgen in der weichen und betäubenden Finsternis, in der sich nur das Fensterviereck abzeichnete, durch das man eine weiß schimmernde Wolke sah und das flache Rauschen der Straßenreinigung heraufklang. Am liebsten hätte ich mich fallen lassen, aber ich kroch ins Bett, wobei sich meine Muskeln bei jedem Knarren anspannten, vergrub meine Wange im Kissen; da war der mir längst vertraute Geschmack seiner Nähe, und auf der gesamten Länge des Bettes lag der Umriss seines Körpers, den ich in Gedanken bei mir trug. Mit heißen Händen tastete ich nach dem enttäuschend raschelnden Laken und schließlich dem kalten eisernen Bettgestänge, um mich daran festzuklammern.