Kapitel XXIII
Und du willst mir nicht sagen, warum du dich nicht mehr gemeldet hast …«, lachte er; gemächlich streckte er die Hand aus, nahm den seitlich abgelegten Telefonhörer und ließ ihn umsichtig auf die Gabel sinken. »Auf gar keinen Fall willst du das …«, wiederholte er ebenso zerstreut und ebenso fröhlich.
Offenbar erwartete er keine Antwort von mir, als wüsste er sie schon im Voraus. Wusste er sie oder nicht? Jedenfalls wusste er etwas anderes als ich. Verärgert zog ich die Decke über meine frierenden Schultern, sie war ganz verknäuelt, ich hätte aufstehen und sie geradeziehen müssen, aber dazu hatte ich nicht die Geduld. Ich kauerte mich darunter und rammte meine Fersen in die Matratze, die metallen knirschte. Der Abend legte sich sanft wie Rauch über die Möbel, doch wir taten, als merkten wir es nicht, und zögerten noch eine kurze Weile, den Lichtschalter zu betätigen. Hatte er den Hörer aufgelegt, weil er auf etwas wartete, oder war es Zufall? Ich versuchte seine Gesichtszüge im grauen Abendlicht auszumachen.
»Soll das heißen, du bist böse? Daran habe ich auch gedacht, aber ich kann mir nicht vorstellen, wieso …«, hakte er kurz darauf nach.
Ich hatte den Eindruck, er kam nur darauf zurück, weil er sonst nichts zu sagen wusste. Was hätte ich ihm denn erklären sollen, wenn er nicht einmal merkte, worüber ich böse sein könnte oder nicht? Nach wie vor verkrampft, horchte ich auf den Ton seiner Stimme, lauerte auf jede Kopfbewegung.
»Räumst du bitte die Gläser weg?«, sagte er.
Die Gesten der Liebe waren nach wie vor selten und führten nur fort, was ich schon kannte, die Unruhe, mit der ich darauf wartete, hatte mich weiterhin im Griff. Ich stand auf, und tief berührten mich für einen Augenblick seine wehmütig verschleierten Augen, wie ich sie nur zu gut kannte, weil stets so die Umarmung begann. Auch an seiner Seite hatte ich weiterhin Sehnsucht nach ihm, mein Körper brannte, mein Mund war ausgetrocknet. Ich ballte die Fäuste, bohrte meine Nägel tief ins Fleisch, senkte mein Gesicht, damit kein Geständnis zwischen den Lidern hindurchsickerte. Das war nicht nötig, er kannte es, er war sich seiner nur zu sicher, deshalb würde er mich nie aufsuchen. Deshalb fragte er mich lachend, wieso ich mich nicht mehr gemeldet hatte, deshalb schien er sich an mich erst zu erinnern, wenn meine Stimme aus dem Hörer ihn in seinem geheimnisvollen Zimmer aufscheuchte.
»Du darfst dich nicht verspäten wie damals, du sollst keine Unannehmlichkeiten haben, ich will dir keine bereiten …«, sagte er und ging zum Kleiderhänger, meinen ballonseidenen Mantel holen.
In seinen Worten, die fürsorglich wirken sollten, spürte ich nur, wie er sich vorsichtig von mir entfernte. Es war der Augenblick, in dem unsere Welten sich langsam trennten, jede sich allein weiter drehte, damit sie sich irgendwann wieder ein paar Stunden lang berührten. Er ging auf und ab, füllte das Zimmer mit den sicheren Bewegungen eines umsichtigen Mannes, der ein anderer war als ich. Seine Loslösung empfand ich nicht mehr als Riss, ich litt nur, weil ich zurück musste und auch jetzt noch nicht wusste, wem ich meine abstrakte und vom Warten ganz entstellte Liebe schenken sollte. Und einen Augenblick lang hasste ich ihn, unbeherrscht und rachsüchtig, weil er anders war, als ich ihn haben wollte, weil er nichts begriff.
»Was hast du?«, fragte er nebenbei und eilte zum Telefon, das läutete.
Wieder riss mich ein Wirbel tief hinab in die Leere, in der ich allein war. Ich hätte entsetzt fliehen und meine widernatürlich starrsinnige Liebe in diesem Zimmer zurücklassen müssen, es hätte mir klar sein müssen. Aber eingebunden in das Ganze, wie ich war, spürte ich nur, wie in den Zimmern ohne Licht die Luft zerriss, durch die wir noch bis zur Ausgangstür gehen mussten.
»Willst du dich kämmen?«, raunte er und fuhr mir so sanft mit der Hand durchs Haar, dass ich es kaum spürte.
Ich schüttelte nur den Kopf, setzte ohne Eile die Strickmütze auf, legte den Schal um, zog die Handschuhe an. Seine Liebkosung, die nicht nur mir galt – wem sonst und wie vielen? –, bewahrte ich in meinem Haar, mir kam es vor, als erwartete ich nichts mehr, genau wie er, oder erwartete ihn doch noch, aber ganz anders, irgendwann, wenn auch ich wirklich eine andere sein würde.
Draußen in dem feuchten Nebel, der nach Rauch roch und die Lichter schluckte, schwammen die Straßen in gelöster Melancholie. Die Hände in den Taschen, schritt ich langsam aus, freute mich, dass ich gehen konnte und dass der Abend kurz und traurig gewesen war. Über mich, so wie ich war, konnte ich mich freuen in dieser Stunde, die ja auch seine war, wo wir doch in denselben Gesten und denselben Worten befangen waren. Und ich ging auf das Ende unserer Stunden zu, das ich mit herzzerreißender, inniger Wehmut kommen sah.
Der Regen hatte schon lange aufgehört, doch in den zurückgebliebenen Pfützen zeichneten sich die dunklen Baumstämme, die Straße, die ich entlangging, die Mauern und Dächer deutlich ab, wie mit der Feder umrissen. In den Löchern des Gehsteigs flackerte graues Licht, in dem die reglosen Blätter am Grund leise bebten.
*
Als ich mich im Bett umdrehte und in den feuchten Kissen wühlte, splitterte das Fenster, weiß vom Licht des neuen Morgens, unter meinen ungeschützten Lidern. Ich erkannte den Schrecken des Erwachens und den Geschmack des immergleichen Schmerzes. Wie einen Akt des Leichtsinns bereute ich den Anruf und das Treffen, das ich veranlasst hatte, wieder hatte ich mich verirrt auf dem Weg der letzten Wochen, in denen ich das Wiedersehen mühevoll hinausgeschoben hatte. Ich stand auf und ertastete in dem von Atemzügen und Gerüchen erfüllten Zimmer auf dem unaufgeräumten Tisch ein fleckiges Glas, in dem ich im Bad geduldig das schale Wasser sammelte, das ohne Druck aus dem Rohr tröpfelte. Es war also so früh, dass sie es noch gar nicht aufgedreht hatten. Die Unruhe geleitete mich mit bösen Augen über den Korridor, das Dunkel floss durch mich hindurch wie ein schweres Erschrecken, das Erschrecken darüber, dass ich ihn von Tag zu Tag mehr verlor, dass ich noch gar nichts erreicht hatte, dass ich immer noch am Anfang stand. Es gibt etwas Verborgenes, Feindliches in mir, und das bin ich, ich habe meine widernatürlich starrsinnige Liebe ständig verheimlicht, ich habe gewusst, dass ich schweigen muss, damit die Mädels nicht merken, dass Petru mich nicht besucht. Etwas Beschämendes lag in dieser ganzen Geschichte, sonst hätte ich sie nicht verheimlicht, aber während ich immer weiter geschwiegen hatte, hatte sich etwas in mir verkapselt. Ich hatte den Eindruck gehabt, ich würde irgendwann Zugang finden zu einer anderen Welt als der ihren, ich müsste nur schweigen und weiter warten, eine Woche und noch eine. Und dann fiel es mir zu schwer, mich irgendwie zu entscheiden, ich war zu weit gegangen, als dass ich noch zurück gekonnt hätte, und ich wusste nicht, ob ich vor Stärke oder Schwäche zögerte.
»Wieso vertraust du mir überhaupt nicht?«, hatte Petru gefragt.
Ich vertraue mir selbst nicht oder viel zu sehr, ich weiß es nicht, ich möchte jetzt sein wie die anderen Mädels; neidisch lausche ich ihrem ruhigen Atem, während ich meinen Kopf tief ins Kissen bohre und die Decke darüberziehe.
Als ich dabei war, einzuschlafen, tat mir die Welt wieder weh, meine Nerven verästelten sich in den Mauern, das ununterbrochene Brummen der Autos empfand ich wie ein unruhiges Pulsen des Blutes. Jenseits meiner geschlossenen Augen zeichnete sich sein Körper im Dunkel ab, wo ich ihn erwartete, und noch bevor er mich berührte, spürte ich die unermesslich ausgreifende Umarmung, das Mondweiß der Haut und den merkwürdig reiherartigen Gang in Socken, die er auszuziehen vergessen hatte. Ich stöhnte und scheuchte ihn zu dem Fenster des nutzlosen Morgens, doch dieser lauerte jenseits der Scheiben meinem traurigen Schlaf auf, zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen knirschten seine welken Blätter und befleckten den Himmel, der rostig war wie sie. Ich war wieder erwacht, ich war allein, die Mädels mussten an diesem Morgen sehr leise gewesen sein, denn ich hatte sie nicht gehört. Ich hatte sonst nichts zu tun, also ging ich in die Bibliothek.
*
»Was tust du hier?«, flüsterte er, ich schrak auf und drehte mich um.
Ich hatte die Stimme nicht erkannt, erst sein Gesicht erkannte ich, das einen endlosen Augenblick lang hin und her schwankte. Es befand sich jenseits, in jener bewegten Wirklichkeit, zu der durchzudringen ich mich mühte, mitten durch die Ströme des vor Erregung entfesselten Blutes und die ausgedünnte Luft.
»Ich lese«, antwortete ich mechanisch.
Meine Blicke hafteten an meinen unbeholfenen Händen mit den bis ins Fleisch zurückgeschnittenen Fingernägeln, wie die von Mutter. Hässlich sind sie, sagte ich mir und ballte die Fäuste, wobei mir die Frage durch den Kopf schoss, wie ich gekleidet war.
»So früh am Tag …«, lachte Petru.
Die unendliche Sekunde begann sich zu runden. Unablässig durchstieg ich eine gellende Leere, ohne an ein Ziel zu kommen.
»Ich will nur ein Buch abholen und gehe gleich wieder, ich muss packen …«
»Wieso packen?«
»Ich fahre mit ein paar Freunden für zwei Tage ans Meer, habe ich dir doch gestern Abend gesagt …«
»Hast du nicht …«
»Ich glaube schon … Kann sein, dass ich es vergessen habe, weil sie es mir auch erst gestern gesagt haben … Weißt du was?«, sagte er plötzlich mit ungewohnter Beschwingtheit. »Heute Morgen haben wir festgestellt, dass noch ein Platz übrig ist, eigentlich zwei … Du könntest also auch mitkommen … Was meinst du?«
»Im Ernst?«
Noch hatte ich nicht gelernt, mich zu freuen, ich sah ihn nur misstrauisch an.
»Aber klar, natürlich, sammle deine Bücher ein und geh schnell packen …«
*
»Und wann fahrt ihr?«, fragte Marilena.
Ich zog meinen Koffer unter dem Bett hervor, holte das Knäuel schmutziger Wäsche heraus und presste es in eine Ecke des Schranks.
»Jetzt, zu Mittag …«, antwortete ich ausweichend und knallte die Schranktür gegen die Wand.
Der Schlüssel steckte noch im Schloss und hinterließ tiefe Spuren im weichen Putz. Natürlich hatte ich ihr nicht gesagt, dass ich mit Petru fuhr.
»Und was ist mit Sergiu?«
In ihrer Stimme lag ein Vorwurf, ich tat, als hätte ich nichts bemerkt.
»Was soll ich denn sonst noch tun? Du erklärst ihm das, und ihr geht zu zweit … Meine Karte kriegt ihr schon los.«
»So bringst du andere durcheinander, du denkst immer nur …«
»An mich, ich weiß«, antwortete ich, plötzlich gereizt.
Ich riss die übereinander hängenden Kleider von den Bügeln, breitete sie auf dem Bett aus und musterte sie, ich wusste nicht, welches ich nehmen sollte.
»So ein Elend …«, sagte ich nach einer Weile mit verzagter Stimme, die nach Entschuldigung klingen sollte. »Schau dir mal an, wie zerknittert die sind … Wie lange müssen wir uns wohl noch einen Schrank teilen? Und wo nehme ich jetzt ein Bügeleisen her, auf unserer Etage gibt es keins.«
»Ja, dir geht es jetzt nur noch ums Bügeleisen, alles andere hast du erledigt …«, fuhr sie mich an. »Kümmer du dich um alles andere, ein Bügeleisen beschaffe ich dir schon.«
Ich spürte, wie ihr Blick mich grausam von mir selbst abspaltete, und empörte mich über dieses ganze Zusammenleben wie über ein riesiges Unrecht, gegen das ich nichts tun konnte. Alle meine Gesten, vor denen mich mein eigenes Gedächtnis beschützte, waren in ihrer Erinnerung aufgehoben, gnadenlos. Jedes Mal, wenn ich ihrem Blick begegnete, wurde mir bewusst, dass ich auch so bin – chaotisch, fahrig, ohne eigene Logik.
»Der hat dir also heute erst vorgeschlagen, du solltest mitfahren, und du hast sofort eingewilligt. Wohin fährst du mit einem, den du …?«
»Ich habe dir bereits gesagt, ich kenne ihn schon lange, wir waren am selben Lyzeum … Es ist überhaupt kein Problem, mach dir keine Sorgen«, lachte ich und lief weiter im Zimmer hin und her.
Sie sah mir mit herabgezogenen Mundwinkeln zu, bis sie meine planlose Sucherei nicht mehr aushielt.
»Wenn dir Sergiu wirklich nichts bedeutet, hättest du auf keinen Fall einwilligen dürfen, mit ihm ins Theater zu gehen. Was hat es für einen Sinn, ihn durcheinanderzubringen?«
Sie streckte sich auf dem Bett aus, als hätte sie endlich gesagt, was sie zu sagen hatte. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich ihr antworten sollte, die Versuchung war groß. Das Licht draußen war plötzlich verschattet, weil Wolken am Himmel aufgezogen waren, hier drinnen verloren die Dinge ihre Form, ihre Kontur, als zerflössen sie in der Dunkelheit. Ich zögerte, plötzlich hatte ich die Nase voll.
»Wieso bringe ich ihn durcheinander? Er bringt mich durcheinander«, lachte ich.
»Ich geh und hol dir ein Bügeleisen.«
Sie hatte es aufgegeben, »ernsthaft« mit mir zu reden. Schon war sie an der Tür, mit dem Rücken zu mir, und ich atmete erleichtert auf.
Das Knallen der Tür, ihre sich entfernenden Schritte, der Korridor da draußen. Ich war so allein, dass die Stille gellte und das Blut mir in den Gelenken pochte, als wollte es den Augenblick messen und mich zur Eile drängen. Ich hielt mein Gesicht dicht vor den Spiegel, aus der Nähe sah jede einzelne Pore monströs geweitet aus, am liebsten hätte ich nicht mehr hingesehen, damit es sie nicht mehr gab. Ich spürte ihre Hand schon eine Sekunde, bevor sie die Klinke drückte, und begann mich langsam zu kämmen, wobei ich das Gesicht vor dem Spiegel zurückzog.
»Rate mal, woher ich es habe?«, triumphierte sie und hielt mir das Bügeleisen unter die Nase.
Der versengte, notdürftig mit Draht verstärkte Griff wackelte in den breiten, rostzerfressenen Nieten.
»Von deiner Urgroßmutter«, antwortete ich und drehte mich zum Fenster, um meinen Haarknoten von hinten zu begutachten.
»Von der Genossin Potorac«, lachte sie.
Etwas musste sie unterwegs belustigt haben, oder sie war mit sich zufrieden, weil sie mir die Wahrheit ins Gesicht gesagt hatte.
»Meinst du, das wird noch warm?«, fragte ich zweifelnd.
Ich spürte die Stunde der Abfahrt näher rücken, und die Unruhe würgte mich wie Ekel. Ich sagte mir jedoch, es würde mir immerhin leichter sein, als nicht zu wissen, was er dort tat, zwei Tage lang am Meer.
»Du hast keine Ahnung, dies ist besser als jedes andere, du hast Glück, dass ich die Genossin Potorac getroffen habe …«
»Ich wusste gar nicht, dass sie im dritten wohnt«, sagte ich, kniete mich auf den Kofferdeckel und mühte mich ab, ihn zu schließen.
»Wieso wusstest du das nicht? Sie wohnt allein, in dem Eckzimmerchen.«
»Das hätte mich auch gewundert, wenn die das nicht so gedreht hätte, dass sie allein wohnt«, sagte ich mit abschätziger Grimasse. (So sehr ich mir ein eigenes Zimmer wünschte, ich hätte dafür nicht tun können, was die Genossin Potorac tat, und dachte gar nicht dran, es zu versuchen.) »Sie wird nur traurig sein, dass sie in letzter Zeit keine Mobilmachung zu leiten hatte, sie hat uns nicht mehr gescheucht, zu keiner Kundgebung, keinem freiwilligen Arbeitseinsatz …«
Die Genossin Potorac war unsere Kommilitonin, vor allem aber die von Bucur, denn andere Freundinnen hatte der nicht. Sie redete wie er, mit Grammatikfehlern, bekam aber unerklärlich gute Noten. Sie war beim Kommunistischen Jugendverband oder beim Kommunistischen Studentenverband, saß bei Sitzungen im Präsidium, war früher Aktivistin gewesen, und das alles interessierte mich überhaupt nicht. Wahrscheinlich deshalb sagte Marilena, ich lebe in einer anderen Welt.
»Zieh dich an, schaust du denn gar nicht auf die Uhr?«, schimpfte sie plötzlich erregt.
»Und was macht sie, reibt sie sich die Kopfhaut noch mit Petroleum ein?«
»Wer?«
»Ja, wer denn? Die Genossin Potorac – ich glaube, die ist auch schon ein paar Jährchen drüber, was meinst du? Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig?«
»Keine Ahnung«, brummte sie und fegte rasch alles vom Tisch, um die Decke auszubreiten. »Siehst du, das ist es eben – du denkst nur an dich. Das ist ihr Leben, Mobilmachungen, Sitzungen … Mir tat sie leid, wie ich sie so gesehen habe.«
»Vielleicht hat sie dir das Bügeleisen deshalb gegeben«, feixte ich, riss ihr den noch warmen roten Rock aus der Hand und streifte ihn über. Ich stand in der Tür und kam mir aufgedonnert vor wie ein Propagandaplakat. Ich weiß nicht, wieso mir einfiel, dass auch Sandu groß drin gewesen war beim Jugendverband, bevor er durchdrehte. »Von Sandu weißt du nichts mehr?«
Sie schwieg und starrte mich wütend an, ich erschrak über den falschen Ton meiner Stimme und trat einen Schritt zurück.
»Du redest so dahin, dabei ist es dir egal – wenn’s dir nur gutgeht, dann …«
»Mir geht es gut«, antwortete ich. »Mir geht es so gut wie niemand sonst … Und was geht dich das an?«
Ich hätte nicht so gehen wollen, aber da war nichts zu machen. Als ich hinaustrat auf den Korridor, hörte ich gerade noch: »Hey, Mädel, wo willst du hin mit dem zerrissenen Strumpf?« Sie kramte vom Kopfende des Bettes das ungeöffnete Päckchen hervor und streckte es mir entgegen. »Nun nimm schon …«
»Und womit gehst du ins Theater heute Abend?«, fragte ich mit gesenktem Kopf, während ich eilig den Strumpf anzog.
»Wer sagt denn, dass ich gehe? … Hat Sergiu die Karten denn für mich gekauft?«
Und wieder sah sie mich an, wie sie mich den ganzen Vormittag angesehen hatte. Als könnte ich ihr helfen und wollte es nur nicht. Als könnte ihr irgendjemand helfen. Die Sicherheit ihrer fanatischen und großzügigen Augen, die alles rundum vereinfachten. Die Unruhe vor der Abfahrt kribbelte bis in meine feuchten Fingerspitzen. Sie meinte, ich fuhr, um zwei Tage am Meer zu verbringen, und war verärgert darüber, dass ich das so gut hingekriegt hatte, ohne mich jemals groß um irgendetwas zu kümmern. Vielleicht erwartete sie aber auch nur, dass ich etwas sagte, damit auch sie mir etwas erzählen konnte.
»Hau bloß ab, du bist spät dran, ich will dich nicht mehr sehen. Viel Spaß …«
*
Die Stadt hatte sich wieder von der Panik des Wochenendes anstecken lassen. In den Straßen drängelten sich die Autos vor den Ampeln in eintönigen bunten Schlangen, durch die großen Türen der Geschäfte sah man die Leute dicht an dicht in den Schlangen, wo gnadenlos geschoben und gestoßen wurde. Sie kamen heraus, bepackt mit vielen langen Broten für Kanapees, Taschen voller Wurstwaren, Wein- und Wodkaflaschen, füllten die verrauchten Restaurants, drängten sich vor Bücherständen, nur weil sich davor schon eine Menschentraube gebildet hatte, das alles übertönt von rufenden und schimpfenden Stimmen. Die späte Milde des Herbstes ertrank in dem Gewimmel auf dem noch warmen goldgelben Pflaster unter den vielen Schritten. Und während sie mich langsam vor sich her schoben, alle eilig auf dasselbe Ziel zustrebend, mitten hindurch zwischen Taschen, Koffern, Rucksäcken, Kindern in blauen Schürzchen, die neben ihren Eltern her trippelten, unter den großen Werbeplakaten, die vom Sommer übrig geblieben waren: BESUCHEN SIE DIE KLÖSTER IM NORDEN DER MOLDAU, erschien es mir ausgeschlossen, dass an einem so gewöhnlichen Nachmittag mitten in einer Stadt, die vorhatte, den morgigen Feiertag im Sturm zu erobern, Petru auf mich warten würde. Doch da war ich schon, vor seinem Block, und da wartete, mit grimmigem Blick immer wieder auf die Uhr sehend, ein kleines Köfferchen in der einen und zwei eingerollte Zeitungen in der anderen Hand, Petru.
»Du hast wohl für einen ganzen Urlaub gepackt«, sagte er missbilligend, bückte sich nach meinem Koffer und hob ihn in den Kofferraum des Autos. »Meine Kollegen …«
Ich streckte die Hand aus und prägte mir die eine trockene, männliche sowie die andere klebrig warme Hand ein. Anhand dieser Eindrücke hielt ich sie eine Weile auseinander.
»Eigentlich hätten wir schon gestern fahren wollen, aber es kommt ja immer etwas dazwischen«, sagte der kleine Schwarzhaarige.
In einem Winkel des fleischigen, allzu roten Mundes hatte er eine kleine Warze. Alle lachten, verbunden durch das solidarische Wissen um irgendwelche Dinge.
»Nun lass ihn doch«, warf der Blonde am Steuer ein, Iliescu hieß er, wie ich später erfahren sollte. »Es war ja nicht anders zu erwarten, habe ich dir doch gesagt, oder?«, wandte er sich zu Petru. »Jetzt ist er verloren, wir können nichts mehr für ihn tun. Die Gattin wird’s schon richten …«
Wieder Gelächter. Auch ich konnte mitlachen, ich dachte, ich hätte begriffen, worum es ging.
»Und Sie wohnen im Heim, höre ich«, fuhr der Dunkelhaarige fort.
Wie immer war ich sicher, ein Lächeln in der Stimme zu erkennen, und blickte hilfesuchend zu Petru hinüber. Ich sah nur seinen frisch ausrasierten Nacken über dem reglos steifen Jackettkragen.
»Wir haben auch ein Studentinnenwohnheim direkt vor dem Institut«, fuhr der andere fort.
Seine Lider mit mädchenhaft geschwungenen, an den Spitzen gebleichten staubfarbenen Wimpern klimperten heftig. Das Lächeln, mit dem er mich ansah, war von verschwörerischer Zweideutigkeit.
»Als wir vom alten Sitz dorthin zogen, da gab es eine wahre Schlacht um die besser gelegenen Büros. Morgens gibt es immer eine regelrechte Wallfahrt dahin. Wir gehen halt und schauen, was es noch auf der Welt gibt …« Sein Lächeln hatte sich zum schallenden Lachen ausgewachsen. Mein Gesicht hatte sich noch nicht entschieden, ob es starr bleiben sollte oder nicht. »Irgendwie ist es auch ein Ausgleich für die Leute im Bereitschaftsdienst. Abends, nach so vielen langweiligen Dienststunden, kriegt man wenigstens noch ein Knie zu sehen oder einen Unterrock …«
»Heime gibt es solche und solche, wie es solche Mädchen gibt und solche«, ging der am Steuer sanft begütigend dazwischen.
»Das ist gut, solche Mädchen und solche …«, kicherte der Dunkelhaarige neben mir. »Wir stehen in sehr guten Beziehungen, wir machen uns Zeichen am Fenster. Da waren sogar ein paar, die kamen an den arbeitsintensiven Nachmittagen herüber, um uns die Zeit zu vertreiben …«
»Jetzt hör doch mal auf, Mann, du bist einfach nur peinlich«, polterte Iliescu.
Petru hatte seine Zeitungen auseinandergefaltet und überflog sie, hin und wieder kniff er bei einem bestimmten Titel seine Augen wie ein Kurzsichtiger zusammen. Dann und wann lachte er zerstreut und weit weg. In meiner verschämten Ohnmacht hasste ich ihn dafür, dass er mich hierher gebracht hatte und mich jetzt meinem Schicksal überließ, mit dem ich allein zurechtkommen sollte wie in der am Samstagnachmittag aufbrausenden Stadt.
*
Durchs Autofenster erschienen die aufgeschütteten Berge aus weißem Kalk und Schotter wie riesige Brüste, die sich starr über den Terrassen des Tagebaus emporreckten. Zisternenwaggons dämmerten auf dem zweiten oder dritten Gleis der immergleichen backsteinroten Bahnhöfe. In den Höfen baumelten die zerfransten Rispen der Mohrenhirse und die späten Zwiebeldolden müde herab. An den Zäunen bogen sich die verholzten Ranken der Winde unter der Last der vom Herbst gealterten behaarten Blätter, in die der erste Reif weiße Flecken gebrannt hatte. An den dürren Wurzeln Hundekot. Kirchtürme, weiße Gänseherden, die an den Schienen entlangwatschelten. Frauen mit Einkaufsnetzen, die schwer herabhingen vom Gewicht der Brote und Konservendosen. Kneipen mit grünen Blechtischen und darüber gestülpten Plastikstühlen. Dann und wann Wald, die Eichen am Straßenrand trugen die festlichen Farben des Todes, Gelb, Rostbraun, Rot, dahinter wolkenweißer Himmel. Später dann das Wasser. Erst das Wasser des Binnensees Techirghiol, dermaßen reglos unter der bleiern lastenden Luft, dass er aussah wie dichtes, matt leuchtendes Mineral, ein riesiger durchscheinender Stein. Und dann, drüben, das Meer.
Es war zu kalt, als dass man hätte baden oder am Strand liegen können, außerdem war es zu spät. Die Essenszeiten erkannten wir daran, dass die Liftführerinnen Schichtwechsel hatten. Abends gingen wir nur noch über die Alleen mit mickrigen Bäumen, die der Nebel schluckte. Die Lichter der Hotels sahen aus wie die Lichter eines Neubauviertels, so erschien es mir, als wir zu viert spazieren gingen. Wir gingen an dem Komplex vorbei und immer weiter den Lichtern nach, die die Küstenlinie nachzeichneten. Die Straße funkelte feucht im Licht der Scheinwerfer, und die Trottoirs zogen sich endlos an den Blocks entlang, fast hätte ich vergessen, wo ich war, während ich schweigend neben ihnen einherging, fast hätte ich’s vergessen, als er mir plötzlich in die Nase stieg, der Geruch des Meeres. Er kam irgendwie von der Seite, aufwühlend stickig, geschwängert vom Algengestank. Da erst vernahm ich in dem verhaltenen Raunen des Abends die dumpf ans Ufer brandenden Wellen und danach den Kies, wie er endlos rieselnd mitgeschwemmt wurde. Der Geruch des Meeres schwand, vielleicht hatte ich mich an ihn gewöhnt, aber das Ohr nahm weiterhin wahr, wie es beruhigend in mir mitschwang.
*
»Fünfzehn Vorträge habe ich auf Lager«, sagte Iliescu. »Natürlich haben andere mehr, aber für meine Verhältnisse, in unserer Abteilung, bin ich ganz gut dabei.«
Er nahm zögerlich einen Zahnstocher vom Tisch, sah sich noch einmal unschlüssig um, dann hielt er die eine Hand als Sichtschutz vor die schwarze Mundhöhle, in der er mit langsamen Bewegungen zu bohren begann.
»Leg noch vierzig drauf, dann bist du gleichauf mit dem Professor – und dann noch ein paar Abhandlungen, die dir noch fehlen«, lachte der Dunkelhaarige mit seiner samtigen, sanften Stimme. »Du, Cornel, weißt du, was ich gehört habe? Das Heim von unserem Fräulein, das wird einstürzen – weil da so viele Löcher sind …«
»Ein schlechter Witz, und noch dazu uralt«, protestierte ich und zog empört die Schultern hoch.
»Nicht böse sein«, raunte mir der Dunkelhaarige zu und streckte seine Hand nach meiner aus, die zwischen Brotkrumen und schmutzigen Tellern liegen geblieben war.
Ich betrachtete sie, wie sie da lag, mir selber fremd, und ließ es zu, dass die andere sich, heiß und etwas feucht, darauf legte. Das Restaurant brodelte, an der leeren Tanzfläche probierte das Orchester kratzend die ersten Akkorde, immer wieder dieselben. Mit einem Ruck zog ich meine Hand unter der seinen weg und stand auf, wobei ich zwinkernd meine Furcht vor dem langen Weg zwischen den Tischen zu verheimlichen versuchte.
»Bleibst du nicht zum Tanz? Es geht jetzt los«, rief der Brünette und filterte seinen Blick durch die langen Wimpern. Er hatte einen schmachtenden, leicht altmodischen Gesichtsausdruck, der ihm, so dachte ich mir, wohl aus den Jahren einer sentimentalen Jugend geblieben war.
»Ich komme wieder …« An der Ecke des langen Tisches blieb ich stehen. Sie sahen mich nicht, ich stand hinter dem Pfeiler, der den Salon teilte. Mir war plötzlich eingefallen, dass Petru den Schlüssel mitgenommen hatte, aber ich wollte lieber hier auf ihn warten, ich hatte überhaupt keine Lust, an den Tisch zurückzukehren, und beobachtete die beiden verstohlen. Sie redeten laut, so dass ich sie mühelos hören konnte. Sie redeten über Petru. Der Blonde knickte immer wieder einen Zahnstocher auf dem weißleinenen Tischtuch.
»Was tust du hier?« Erschrocken fuhr ich zusammen. Ich hatte nur darauf geachtet, was sie über ihn redeten, und nicht mehr auf die Tür, aus der ich ihn erwartete.
»Ich möchte hinaufgehen«, flüsterte ich und sah ihn mit unsicher fragenden Augen an.
»Wieso tust du’s dann nicht? Ach so, der Schlüssel … Den habe ich nicht, der ist an der Rezeption. Zur Halbzeit des Spiels komme ich auch, wart auf mich.«
Ich sah, wie die drei ihre Zigaretten und ihre Wodkagläser nahmen und zu den langen schwarzen Sitzbänken im blauen Halbdunkel vor dem Fernseher gingen.
*
Ich verließ den Aufzug, lange weiße Gänge, Kugellampen wie an einer Schnur unter der niedrigen Decke, gedämpfte Schritte. Durch die offene Balkontür das Rieseln des Regens draußen. In den Fensterrahmen gekauert, schlang ich meine Arme, die ich als lang und dünn empfand, um meine schweren Knie und ließ den Kopf darauf sinken. Wieso tat es weh, wenn ich mir ihre Worte über Petru in Erinnerung rief, die ich kurz zuvor gehört hatte und die ich mir jetzt aus Bruchstücken zusammenreimte? Ständig, und mit stetem Unbehagen, stellte ich mir sein eilfertiges, zustimmendes und unterwürfiges Lächeln dem Professor gegenüber vor. Seine Arbeiten, die ich im Frühjahr mit Begeisterung gelesen hatte, wurden von den beiden am Tisch lapidar unter »ferner liefen« abgetan. Mein Bild von ihm und ihres begannen sich zu decken. Ich weiß aber nicht, wieso es wehtat, dass ich ihn plötzlich anders zu sehen begann. Irgendwann, dachte ich mir, muss er genauso unbeholfen wie ich versucht haben, voranzukommen, auf die Gesten in der Umgebung gelauert haben, um sie zu lernen und sie nachzumachen, auch er hatte wie ich Einlass begehrt in eine ersehnte fremde Welt und war, ohne allerdings den vergilbten Packen mit den Arbeiten des Onkels zur Hand zu haben, mit ein paar selbstbeschriebenen Bogen Papier über die dunklen Korridore geirrt, hatte in einem Büro, das ihm allzu prächtig, allzu hell erstrahlte, schüchtern seine bewundernde Unterwürfigkeit ausgebreitet. Hinter den jungenhaften Bewegungen, die ihm geblieben waren, sah ich den grauen Internatsbau heraufdunkeln, wo er aufgewachsen war zu der Zeit, als er anhand des Klassenbuchs noch als Arcan Petre aufgerufen wurde, nicht mit dem gehobenen Namen Petru. Anders verstand ich jetzt sein zustimmendes Lachen am Telefon, die gut geschnittenen Anzüge, die er trug und nach denen er damals so geschielt hatte; bis in alle Einzelheiten konnte ich mir vorstellen, was jene unbekannte, schick gekleidete junge Frau für ihn hatte bedeuten können, die ich im Beratungszimmer und auf dem zufällig entdeckten Foto gesehen hatte … Jenes Mädchen, das dann seine Frau werden sollte, von der er sich vielleicht auch deshalb so schwer gelöst hatte, weil sie für ihn die Welt bedeutete, zu der zu gehören er sich so lange gewünscht hatte.
Begriff ich das alles schon damals so klar, oder sollte ich es erst viel später neben vielem anderen verstehen? Vielleicht begriff ich gar nichts, sondern saß nur einsam da, die Wangen auf den Knien, traurig, dass seine Gestalt immer kleiner wurde, während er übereifrig das Büro des Professors betrat, wo er nachts allein an den Artikeln arbeitete, die sie gemeinsam veröffentlichen sollten, während er sich die kleinen Kompromisse ausrechnete, um am Ende des Weges einen mit Zauberkräften ausgestatteten eingetragenen Wohnsitz in Bukarest zu haben, wie ich ihn mir selbst erhoffte. Wie weit lagen doch die arbeitsreichen Nachmittage von Onkel Ion zurück, die nirgendwo hinzielten, wie weit weg und wie sinnlos erschienen sie mir jetzt. Ich begriff nur unsere eigenen Handlungen, die von Petru, meine eigenen, die der Leute um uns … Meine verzweifelte Intuition ließ mich die Ereignisse, die Gestalten der Menschen, ihre Worte, die stets etwas anderes verschwiegen, verzerrt wahrnehmen. Alle hatten ihr nahes und klares Ziel und strebten darauf zu, auch ich hatte es bis jetzt eigentlich genauso gemacht. Wissen, was man will, und irgendwie erreichen, dass die eigene Unterordnung nicht umsonst ist, sondern Früchte trägt in dem Schatten, in dem man heranwächst – wieso tat das alles so weh, und wieso verstand ich es so gut? Vielleicht würde der Tag kommen, an dem ich es abstreifte oder einfach hinnahm, ohne dass es schmerzte. Ich wusste nur, dass ich meinen Schmerz, solange es ging, verheimlichen und weiter durch ihn hindurchgehen würde. In einem Spinnennetz, in dem ich mich noch nicht so recht bewegen gelernt hatte und dennoch vorankam in der ständigen Hoffnung, dass sich jemand um mich kümmern, dass jemand meine Schritte beschützen würde. Während ich meine Vorsicht ständig hinter naiven Augen verbarg und versuchte, meine alte Angst zu vergessen, Onkel Ions Scheitern im Sinn zu behalten und es zu vergessen. Es würde mir nichts ausmachen, dass ich hin und wieder merkte, wie ich mich getäuscht hatte, ich würde weitergehen, auf jeden Fall.
Deshalb hätte mich Petru eigentlich anders aufnehmen müssen, dachte ich, oder vielleicht hat er mich gerade deshalb so aufgenommen. Ich war er, gleich im ersten Augenblick musste er bei mir seine eigenen verkrampften Gesten von damals, das ergebene Schweigen erkannt haben. In der Gewissheit, dass ich wiederkommen würde, hatte er mich nie aufgesucht und nur auf mich gewartet, deshalb würde er mich auch nie aufsuchen oder vielleicht, wer weiß, gerade deshalb zu mir zurückkommen. Er war jetzt Teil der Welt, die er sich gewünscht hatte, zu mir zog ihn die Nostalgie seiner Anfänge, zu denen er sich, erst jetzt, ungeniert bekennen konnte.
Das alles tat mir zwar noch weh, aber dabei wusste ich schon, dass ich es annahm. Es war alles noch unklarer und komplizierter, als es mir jetzt schien, aber ich wusste, dass ich nichts anderes machen würde.
Ich saß im Fenster, betrachtete das unwirklich graue Meer, den weiß schimmernden Sand draußen. Vor mir, völlig verdunkelt, der Pavillon mit den Spielautomaten. Ich warf mein warmes Haar auf die Schultern zurück, da hörte ich seine Schritte. Ich erkannte sie, alles erkannte ich jetzt, auch wie er die Klinke hinunterdrückte.
»Du sitzt im Dunkeln …«, sagte er und hängte die Jacke, die er übergeworfen hatte, an den Kleiderhaken. »Ist dir denn nicht öde, so allein im Dunkeln zu sitzen?«
In dem milchig fließenden Licht erkundete ich schweigend sein Gesicht. Er hatte die Stirn gerunzelt, vielleicht vermutete er, dass etwas hinter meinem Schweigen steckte. In seinem Gesicht drängten sich die weichen Brauen, die starke Nase, der volle, missbilligend verkniffene Mund.
»Was hast du? Ist was?«
So sieht er also aus, wunderte ich mich und stellte fest, dass sowohl sein Gesicht als auch seine Stimme anders waren, als hätten sie eine geheime Verwandlung durchgemacht. Er begann allein zu existieren, von meinen Gedanken getrennt wie die anderen Menschen auch, und ich spürte, wie meine sommerliche Aufgeregtheit sich legte. Nie würde ich sie wiederfinden, jeden Tag, der folgte, würde ich ein weiteres Stück davon verlieren, mit jedem Stück würde die Welt leerer werden.
»Sie haben gesagt, du bist ein Opportunist«, murmelte ich.
Dabei kauerte ich mich noch krummer zusammen in dem Fensterrahmen, der das fremdartige Halbdunkel des Zimmers von dem Tag trennte, der draußen erlosch. Ich kauerte mich zusammen vor Angst, denn schon tat mir leid, was ich gesagt hatte. Im Augenwinkel nahm ich seine Gestalt wahr, oder ich spürte auch nur seine Gegenwart. Er reckte mir sein Gesicht entgegen, das starr war vor Aufmerksamkeit.
»Wer?«, fragte er angespannt. »Wo hast du das nun schon wieder gehört?«
»Deine Kollegen am Tisch«, stammelte ich, zutiefst erschrocken. Jetzt war alles aus, und es war meine Schuld. Ich hatte zur Unzeit geschwiegen, und ausgerechnet jetzt hatte ich geredet. »Ich war aufgestanden, da fiel mir der Schlüssel ein, und da bin ich stehen geblieben, aber sie haben mich nicht mehr gesehen, sie haben gedacht, ich wäre schon weg …« Meine Stimme überschlug sich, demütig um Verzeihung bittend. Ich wollte noch etwas hinzufügen, aber ich hielt inne und zerknüllte mit feuchten Händen die Falten meines Rocks.
»Deine Naivität ist wirklich grenzenlos«, sagte er lächelnd und schüttelte den Kopf. In der Ironie seines Blicks, an die ich mich gewöhnt hatte, meinte ich eine verborgene Wehmut zu erahnen. Dann ging er weiter mit langsam ausgreifenden Schritten im Zimmer auf und ab. Er blieb stehen, zog die Schublade des Nachtschränkchens auf und nahm seinen Rasierapparat heraus. »Was haben sie sonst noch gesagt? Komm, lass es raus, wenn du schon dabei bist. Ich sehe, da ist noch was, du bist noch nicht fertig.«
»Sie haben gesagt, du bist der Mann des Professors, so hast du’s ans Institut geschafft, als sein Neger … Und jetzt machst du’s genauso, du förderst nur Absolventen, damit dir die Konkurrenz erspart bleibt.«
»Das ist der Iliescu, seine Platte kenn ich.«
Lag in seinem erstarrten Grinsen, in dem heruntergelassenen Mundwinkel ein Schuldeingeständnis oder nur Traurigkeit?
»Die spielt er an allen Ecken und Enden, wenn ihm nur jemand zuhört … Der hat es gerade nötig, er, der dem Parteisekretär die Tasche hinterherträgt und seine Texte verbessert – zu etwas anderem ist er ja auch nicht imstande … Was sind die doch großartig, mein lieber Mann, großartig …«, brummte er und knipste das Licht an.
Erschreckend weiß blitzte es in dem dunklen Schweigen des Raumes auf.
»Großartig, nicht einmal hier können sie damit aufhören. Und deshalb warst du so drauf? Ich habe Wunder was gedacht … Lass mal, zerbrich dir nicht den Kopf, du wirst es eh nicht begreifen … Obwohl, in deinem Alter hatte ich begriffen, wie es zugeht auf der Welt, aber dich hat ja die Familie auch nicht darauf vorbereitet …« Er sah mich wieder an, mit dem gleichen langen Blick, als hätte er etwas Neues an mir entdeckt. »Wie seltsam du doch sein kannst. Manchmal kann ich es gar nicht glauben, dass du bist, wie du bist. Ich frage mich, ob ich mir das einbilde …«
Ich hatte mich entspannt und nahm dankend seine Hand, die mir über die Stirn strich.
»Was weißt du schon, was los ist auf dieser Welt … Sieh zu, dass du deine Sachen geregelt kriegst, sei froh, dass der Artikel deines Onkels erschienen ist und noch weitere erscheinen, und warte ab, bis du älter wirst … Und worauf wartest du jetzt? Los, zieh dich an …«
Ich streckte den Arm aus und zog langsam den Vorhang vors Fenster, wie im Theater. Er schloss sich und sperrte das regengraue Meer, das schamlos entblößte Viereck des Pools aus, während nebenan in einem aufgeklappten Dachfenster die weiß eingedeckten Tische des Restaurants auftauchten, die uns an diesem Abend erwarteten.
*
»Auch Fräulein Letiţia hat heute geschwänzt und wird in die Abwesenheitsliste eingetragen«, kicherte der Dunkelhaarige. Er saß jetzt vorn auf dem Beifahrersitz und versuchte den Nachrichtensprecher zu übertönen. »Im ganzen Land fanden in diesen Tagen Kundgebungen zu Ehren …« Phrasen, die ich gewöhnlich nicht hörte. Dennoch erwachte immer wieder der Reflex aus dem Zimmer, den Lautsprecher abzudrehen. Ich hatte meinen Kopf auf die Rückbank sinken lassen, er berührte Petrus starre Schulter. Die eintönige Fahrt durch die Nacht, in der immer wieder die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos aufblendeten, hatte mich betäubt, vielleicht war ich auch nur schläfrig. »Letiţia«, sagte er immer wieder, »Letiţia … Was haben die dir doch für einen braven Namen geben, so gar nicht sexy …«
»Meine Großmutter hieß auch so«, antwortete ich. Ich bemühte mich immer weniger, die Ähnlichkeit mit ihr zu verbergen, in der Hoffnung, der verschämt schmerzliche Blick dort in dem Familienalbum mit dem harten Einband würde ausschließlich ihrer bleiben.
»Ja, das geht ja noch«, kicherte er. »Schließlich kann sich keiner vorstellen, dass unsere Großmütter irgendwann sexy gewesen wären, unsere Mütter waren ja auch immer brav.«
Diesmal lachte nur er, nachdem er eine Weile auf das Gelächter der anderen gewartet hatte. Dabei waren wohl alle nur bemüht, nicht einzuschlafen. Jetzt sah man die funkelnde Befeuerung des Flughafens, kleine rote Punkte, die irgendwo blinkten, das überwältigende Brausen der Flugzeuge drang herüber. Bald würden wir in den dichten Abendverkehr der Stadt mit seinem geregelten Gewimmel eintauchen. Wir würden die Stadt so wiederfinden, wie wir sie verlassen hatten, uns aber würde es einen Augenblick lang scheinen, als hätte nur unser Kommen sie aus dem Nichts erschaffen, aus der Stille der Abende am menschenleeren Strand, aus der dumpfen Meeresbrandung …
»Ruf noch an«, raunte Petru und stellte meinen Koffer auf dem Gehsteig vor dem Heim ab.
Er bückte sich, schlüpfte wieder hinein, zog die Tür zu und winkte mir noch einmal verhalten zu.
Reglos und betäubt stand ich da, sah dem Auto nach, diesmal nicht, sagte ich mir, diesmal werde nicht ich es sein, die dich sucht.
*
»Lassen wir das«, sagte Nana und winkte ab. Sie reckte den hochroten Kopf mit verweinten Augen unter der Decke hervor, lächelte angestrengt und fragte: »Und wie war’s bei dir … Schön, oder?«
»Es ging so, am Strand wehte jedenfalls ein fürchterlicher Wind, da konnte man nicht bleiben. Und dann immer in dem überdachten Pool baden … Immerhin …«, murmelte ich, wobei ich meine Sachen einzeln aus dem Koffer holte und sie in den Schrank zurücklegte. »Wieso bist du denn nicht essen gegangen, ist dir wirklich so schlecht?«
»Essen kann ich nicht einmal mehr riechen, wenn ich da reingehe, steht es mir hier – nach all den Spritzen …«
Sie streckte die Hand nach der aufgeschnittenen Zitrone auf dem Nachschränkchen aus und schlug ihre vorstehenden weißen Zähne hinein.
»Was haben die mich gestern Abend gequält«, begann sie zu erzählen, wobei sie sich mit einem Ellbogen in den Kissen aufstützte. »Ich habe unter der heißen Dusche gestanden, bis ich glaubte, meine Haut ist verbrüht.«
Sie lachte leise, während ihr Tränen in die Augen traten. Sie lachte immer so weiter, bis sie sich schließlich nicht mehr beherrschen konnte, das Gesicht ins Kissen vergrub und dumpf hineinschluchzte.
»Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll … Ich weiß es ganz einfach nicht, vor allem nachts, wenn ich überlege …«
Ich stand mit der Seife und der Zahnpasta in der Hand und starrte sie an. Ja, sie war schon lange sehr bedrückt gewesen, noch bevor ich wegfuhr, wieso merkte ich es erst jetzt? Ich hatte immer nur ihre gleichbleibend wohlüberlegten und präzisen Bewegungen gesehen, ich hatte nur gesehen, dass sie als Erste aufstand wie immer und sich dann auf dem Bett ausstreckte, um zu lesen, wobei sie bei dem Lärm ärgerlich das Gesicht verzog, aber nie etwas sagte, dass Silviu sie genauso oft aufsuchte wie bisher, sie aber nicht mehr weggingen, sondern in einem fort miteinander redeten, während sie in den Alleen um das Wohnheim auf und ab liefen.
So lange waren wir nun schon befreundet, und ich hatte noch nicht einmal etwas von ihrem Kummer bemerkt. Sah ich denn gar nichts um mich herum, weil ich nur an mich dachte, wie Marilena mir vorgeworfen hatte, bevor ich wegfuhr? So hatte ich auch an der Seite von Onkel Ion gelebt, ohne ihn zu sehen, ohne ihn zu beachten, viel zu spät hatte ich versucht, ihn zu verstehen, und eigentlich nichts verstanden. Das Leben der anderen glitt an mir vorüber, ohne dass ich es wahrnahm, wie lange wollte ich denn noch so sein, fragte ich mich und ging zu ihr, Zahnpasta und Seife in der Hand. Ich war einfach nur verärgert und ein bisschen beschämt.
Ich setzte mich aufs Bett und streckte die Hand aus, um sie zu streicheln, ließ sie aber sofort wieder auf die kratzende Überdecke sinken. Ich wusste, dass es nicht das war, was ich jetzt tun sollte, aber was dann? Wieder zwang sie sich zu einem Lächeln.
»Du musst dir keine Sorgen machen«, sagte ich und spürte den schalen Geschmack meiner stumpfsinnigen Worte im Mund. »Er hat dich ja gern, ihr könntet heiraten, und wenn seine Eltern nicht einverstanden sind, wird er schon merken, was die für Egoisten sind, und wird auch nicht mehr auf sie hören …«
»Nein«, entgegnete sie sanft und schüttelte den Kopf, worauf ich sie irritiert ansah. Ich verstand sie nicht, sie ging mir ganz einfach auf die Nerven …
»Nein, die sind ganz nett und freundlich, und irgendwie haben sie ja auch recht. Silviu ist zu jung, und zum Heiraten ist es noch zu früh, dazu ein Kind, schon im zweiten Studienjahr … Wenn wir den Abschluss schaffen, dann sind sie vielleicht einverstanden, wenn ich es jetzt irgendwie hinkriege.«
War ihr Ziel so unbestimmt wie meines? Gab es vielleicht auch für sie eine Welt, in die sie geduldig Einlass suchte, wobei sie ihren Willen mit sanfter Unterwürfigkeit kaschierte?, fragte ich mich, während ich sie ansah. Sie hockte da, die Knie bis zum Kinn herangezogen, die Haare auf Lockenwicklern wie immer, mit tränenüberströmt funkelndem Gesicht, so sah sie mich eine Weile an, dann stand sie auf und begann sich anzuziehen.
»Ich muss runter, bald kommt Silviu«, sagte sie und fuhr sich erbittert mit dem Kamm durch die allzu krausen Locken.
*
Ich zog den Schlafanzug über, schlüpfte unter die Decke und drückte die Augen fest zu. Wie gern wäre ich eingeschlafen, bevor die Mädels ins Zimmer kamen. Selbst wenn ich dann noch wach sein sollte, würde ich die Augen geschlossen halten, bis sie leise zu tuscheln begannen. »Ssss …«, und dann werden sie auf Zehenspitzen gehen und sich stumme Zeichen machen und hin und wieder ein Lachen unterdrücken. Irgendwann werden sie sich beruhigen, dann wird es nur noch die immer seltener werdenden nächtlichen Geräusche auf dem Gang geben.
Vom Bett aus werde ich in dem von Lichtern durchfurchten Dunkel plötzlich verwundert das Meeresrauschen der Stadt wahrnehmen. Jenseits der Mauern, jenseits meiner geschlossenen Lider werde ich verblüfft zum ersten Mal den verhaltenen Atem des Wassers im nächtlichen Rauschen der Straßen spüren. Als wäre ich dort geblieben, als wäre ich noch nicht zurückgekommen, so wird es mir scheinen, und ich werde horchen, wie es dumpf anbrandet, wie sein Schwellen im unmerklichen Fortgang der Stunden immer müder wird. Es wird die letzte Nacht sein, in der ich mit verstörten Augen darauf lauere, dass das dünne Grau des Morgens in die Fenster steigt. Ich werde mich in den Laken, die sich wie Stränge um mich winden, herumwerfen und mir die Zuneigung ins Gedächtnis rufen, die ich Petru bislang abgerungen habe. Ich werde mit mir kämpfen im Strudel der Hoffnungsleere, die mir zeigt, dass ich nach und nach, unmerklich, Millimeter für Millimeter, ins Leben eintrete. Ich werde mich mit fest verschränkten Armen schützen und mir einreden, dass mir die nächsten Tage, an denen ich ihn ganz bestimmt nicht mehr besuchen werde, unfehlbar Abstand von ihm bringen werden. Ich werde mich lösen von der Unruhe, die mich plötzlich befällt, wenn ich durch die Straßen in der Nähe seiner Wohnung gehe, von der Unmittelbarkeit, mit der mir seine Nummer einfällt, wenn ich irgendwo ein Telefon sehe. Mag sein, dass sein Name, den ich irgendwann zufällig höre oder auf einem Buchumschlag lese, vielleicht auch nur ein laufender Fernseher, wo sein Gesicht in dem streifig flimmernden Wasser des gestörten Bildschirms auftaucht, mir plötzlich den Atem verschlagen wird. Er wird mich dann mit seinen förmlich blickenden Augen festnageln, aber ich werde ihn wiederfinden in seiner gemessenen Handbewegung, genauso verkrampft wie unter meinem unerbittlichen Blick. Es wird eine Sekunde geben, in der er vergisst, dass er beobachtet wird, und am Zucken seines traurig schlaffen Mundes werde ich ihn plötzlich als einen anderen erkennen. Ein tiefsitzendes Empfinden verschwörerischer Gemeinsamkeit könnte mich dazu verleiten, meine Vorsicht und mein Kalkül fahren zu lassen. In den folgenden langen Tagen werden mich Sehnsucht und Zweifel heimsuchen, bis ich bereit sein werde, den ersten Schritt zu tun und ihn anzurufen. Ich werde nichts anderes tun können, als alles möglichst lange hinauszuzögern, bis ich schließlich mit feuchten Händen nach einer verirrten Münze tasten und mich vergewissern werde, dass niemand in der Nähe des Telefons ist, woraufhin ich wählen werde, getrieben von der Unruhe und dennoch viel zu traurig, als dass ich mich noch wirklich fürchten könnte. Doch zu dem Zeitpunkt, wenn meine Finger über die Wählscheibe fahren, wird er, wie ich vermute, nicht zu Hause sein. Das lange, von Stille unterbrochene Klingeln in einem leeren Zimmer wird mir den gleichbleibenden Rhythmus seines Lebens bestätigen, den ich so fürchte. Wie über einen Sieg werde ich traurig lächeln und irgendwann spät den Hörer wieder einhängen.
Bis ich dann, wie ich mir gesagt habe, eines Tages in einer Welt ohne Schmerz erwachen werde. Es wird Sommer sein, und die Bäume werden atmen im Wind und beinahe unmerklich ihre glänzenden schweren Blätter wiegen. Vor so viel Grün rundum geblendet, werden meine Augen zwinkern und sich unter den warm schmeichelnden Sonnenstreifen schließen. Was immer bis dahin auch geschehen mag, die Stadt wird sich noch lange gleich bleiben, und jeder wird darin selbstgewissen Schrittes seinen Weg gehen, ohne abzuweichen.