Kapitel IV

In diesem Namen, mit dem sie mich riefen, erkannte ich mich ebenso wenig, wie ich mich in meinem Körper erkannte. »Wie die nur dazu kommen, mich so zu nennen«, sagte ich mir und zuckte zusammen, wenn ich mich in dem halbblinden Spiegel in der Küche erblickte. Der Dunst, von dem er ständig beschlagen war, hatte an seinen Rändern welke Ranken geätzt, doch sein ungewisser Widerschein reichte aus, um mir mein bis zum Überdruss bekanntes Gesicht entgegenzuhalten, und ich wandte mich verstimmt ab.

Über die gesamte Dauer des Films haftete, solange ich weinte, wobei ich die Tränen schön langsam über die Wangen rinnen ließ, das Gesicht der Schauspielerin auf meinem, und ich behielt es auch, wenn die Lichter angingen. Die Platzanweiserin zog die verstaubten, ausgebleichten Vorhänge zu, und zum Klirren der Ringe gesellten sich Getrampel, Schnäuzen und von dem langen Schweigen heisere Stimmen. Während wir über den Zementboden des Hinterausgangs zwischen Stapeln leerer Fässer und mit Bettlaken vollgehängten Wäscheleinen hinausdrängten, trug ich den Blick und den Körper der Schauspielerin in mir. Immer schon hatte ich lächeln können wie sie, wie ich jetzt mit nachdenklichem Triumph herausfand, und ich ließ meinen Blick, ohne etwas zu sehen, über einen mit grünen Brettern eingefassten Brunnen gleiten, der in einem einsamen Hof vor sich hin plätscherte. Tief in den verschlissenen Taschen des Mantels vergraben, strichen meine zartgliedrigen langen Hände mit schweren Armbändern um die Gelenke in einem endlosen, in langer Einstellung gefilmten Kuss über die Schultern des Jacketts, seines Jacketts.

»Mach schon, deck den Tisch, du hast dich genug herumgetrieben«, herrschte mich Mutter mit vorwurfsvoll verzogenem Mund an.

Als ich mich zu der Schublade hinabbeugte, wusste ich um meine makellosen langen Beine, um die hochhackigen Schuhe auf der Leinwand, aber ich stieß hart gegen eine Ecke des Tisches, so dass er wackelte.

»Das Klötzchen unter dem Tischbein ist weggerutscht«, sagte Mutter. »Schieb es zurück, verdammt, hier geht alles zu Bruch …«

Zornig fasste ich mir an das verletzte Knie, das dabei zum Vorschein kam, die starken Knochen wölbten sich unter der runzligen Haut, die Schenkel sahen schwer und geschwollen aus.

»Nicht das Alltagsbesteck«, sagte Mutter, »hol das Tischtuch mit dem Fliedermuster aus dem Haus, dein Onkel ist mit Anhang gekommen …«

Ich beobachtete sie verstohlen, ohne etwas zu sagen, und hatte den Verdacht, dass sie sich bei allem Ärger freute. Sie war ungewöhnlich lebhaft, knallte die Türen, redete in einem fort, und ich nickte nur, während ich die abgenutzten Besteckböden aus der Anrichte im Vorzimmer holte.

»Wir verhungern, und bei euch, da tut sich nichts«, rief Onkel Ion. Vorsichtig senkte er den Kopf, um nicht gegen den Türstock zur Küche zu stoßen.

»Er übertreibt«, sagte der Herr Emil aus dem Hintergrund begütigend, unschlüssig, ob er eintreten sollte. »Das stimmt nicht, ganz und gar nicht.« Dann sah er mich und hatte es plötzlich eilig, seine krummen Knie stießen gegen die dicht um den Tisch gedrängten Stühle.

»Küss die Hand«, sagte er. Sein Anzug, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, schlotterte ihm um den Leib, als er sich verneigte.

»Ich habe Sie nicht gesehen, als ich kam, es hieß, Sie seien spazieren gegangen.«

»Ich war im Kino.«

Während ich meinen Platz an der Wand einnahm, schielte ich zu ihm hinüber. In seiner Stimme meinte ich eine alte Ironie wahrzunehmen, die er bewahrt oder allzu viele Jahre vergessen haben mochte. Ich aß mit gesenktem Blick und betrachtete dabei meine kurzen weichen Finger und die von der Nagelblüte gefleckten Fingernägel. Ich kam mir immer näher, mit jedem Augenblick, aber die Traurigkeit des Films hatte Bestand, setzte sich klar von den kauenden Kiefern ab und drängte ihre Gesichter dermaßen zusammen, dass ich gar nichts mehr wahrnahm …

Wie die bloß dazu kommen, mich so zu taufen, sagte ich mir wieder, als wir alle ins Schlafzimmer hinüberwechselten und nur Mutter in der Küche blieb, um das Geschirr zu spülen. Die Spieluhr im starren Deckel des alten Albums klimperte, wenn ich daran rührte, zart eine lustige Melodie. Von Großmutter Letiţia gab es darin nur ein einziges Foto, aus dem funkelnden Rahmen mit berankten Ecken lächelte sie vom Stuhl des Fotografen ergeben wie immer, mit schlaffen Wangen und beschämend traurigen Augen.

»Irgendwie ähnelt sie Ihnen, nicht wahr?«, fragte mich der Herr Emil, und wieder vermutete ich ironischen Abstand in seinem werbenden Lächeln. »Der Gesichtsausdruck, die Augen … Auch die Wahl des Namens erscheint mir durchaus geglückt …«

»Mir nicht«, gab ich trocken zurück und blätterte schnell um.

So viele Leben ihm auch gegeben sein mochten, nie würde er merken, wie sehr er mir auf die Nerven ging mit seiner Beharrlichkeit: Bei allem, was um ihn war, sah er nur sich. Natürlich war das der Grund, weshalb ich ihn so langweilig fand, aber dachte ich denn an jemand anderen als an mich selbst?

*

Wieso sprachen Mutter und Onkel Ion kaum über Großmutter Letiţia? Vielleicht hatten sie sie nicht mehr gut in Erinnerung. Aber Tante Zoica hatte mir von ihr erzählt, als sie eines Vormittags bei uns vorbeikam und ich allein zu Hause war. Steif saß sie auf dem Stuhl, die weiche Brust ergoss sich über den von vielen Knöpfchen und Schlaufen zusammengehaltenen Rock wie auf Fotografien aus der Zeit vor dem Krieg.

»Ich war damals im Internat und hatte ein Stipendium, weil Vater ein Kriegsheld war. Aber wenn ich in den Ferien da war, dann besuchte ich sie … Sie war eine hochgewachsene Frau, wie ihre Mutter, allerdings noch jung, nur hingen die Kleider irgendwie schlaff an ihr herab, sie war etwas schlampig, wie man so sagt. Ihr Mann war etwa ein Jahr zuvor gestorben, sie aber hatte noch diesen suchenden Blick, auch wenn nicht mehr viel los war mit ihr, das siehst du ja an den Bildern … Hol mir eine Zigarette, mein Kind, aus dem Nachtschränkchen von deinem Onkel, so, danke, und ein Streichholz, wenn es geht, ja, das mit ihrem Mann, mit deinem Großvater also, das war eine Geschichte für sich … Der hatte eine Verletzung, aus dem Krieg, und die Ärzte gaben ihm Morphium, wie das damals üblich war. Dann konnte er nicht mehr ohne, er war eben ein willensschwacher Mensch, er lernte, sich selbst zu spritzen, das ganze Bein war von Einstichen übersät. So hat er sich auch die Entzündung geholt, und eines Tages war es aus mit ihm … Mittlerweile hatte es sich herumgesprochen, dass er in keine Klasse ging, ohne vorher zu spritzen. Er war Lehrer wie sie, aber um einiges älter … Und manche haben auch deine Großmutter Letiţia verurteilt, weil sie ihn nicht von dem Bösen abgehalten, sondern all ihre Apothekenbekanntschaften abgeklappert hat, um ihm Morphium zu besorgen. Nachher hat sie gesagt, sie habe Mitleid gehabt und ihn nicht seinen Qualen überlassen wollen, und sie hat sich das immer vorgeworfen, aber so ist sie selbst allein geblieben mit den Kindern … Halbwegs erwachsen war unter denen nur dein Onkel Ion, deine Mutter und Biţă waren klein, ich sehe sie noch, wie sie im Hof spielten, die Leute meinten, sie würde sich nicht genug um sie kümmern, sie würde dasitzen und lesen, wenn sie nicht in der Schule war. Und einen Offizier hatte sie auch gefunden, da war nämlich eine Garnison in der Stadt, in die sie zog, nachdem ihr Mann gestorben war. Was sie sich aber auch gedacht hat dabei, dass der sie nehmen würde, wie sie war, und drei Kinder dazu, da hätte sie eine Mitgift gebraucht, anders war an eine Heirat mit einem Offizier nicht zu denken. Der dachte auch gar nicht dran, die Garnison wurde verlegt, und weg war er, er mag ihr noch eine Weile geschrieben haben, wie sie behauptete, und dann, wie die Männer halt sind … Und sie, eine erwachsene Frau, hatte wohl kein Hirn im Schädel, denn statt sich um Haus und Kinder zu kümmern, irrte sie wie betäubt herum, aß nicht mehr und erkältete sich, wie, weiß ich nicht, jedenfalls bekam sie Tuberkulose. Die konnten nichts mehr für sie tun, sie kam ins Krankenhaus, und was haben ihre Geschwister da nicht alles angeschleppt, Tag für Tag kamen die mit Päckchen. Sie aber teilte sie ständig unter anderen Kranken im Zimmer auf, als wären die unsere große Sorge. Schließlich merkte sie selbst, was sie getan hatte, heulend bettelte sie die Ärzte an, macht etwas, damit ich weiterlebe, sagte sie, ich will noch nicht sterben, was wird aus meinen Kindern allein auf der Welt, ich will leben, sagte sie, ich will nicht sterben … Die haben nichts mehr gemacht, was denn auch, wo sie doch selbst nicht imstande war, für sich zu sorgen, wer sollte es denn sonst tun … Die armen Kinder, die blieben halt so zurück und mussten sich mühsam durchs Leben schlagen. Es waren aber gute Kinder, und sie haben es geschafft, wenigstens dein Onkel Ion, und er hat auch für die anderen beiden gesorgt, und so …«

*

»Letiţia ist ein völlig bescheuerter Name«, sagte ich und klappte das Album zu.

Ich wandte mich ab und schob es zurück in die Anrichte zwischen verwaiste Tassen und Bettwäsche, dabei konnte ich noch mit halbem Auge sehen, wie der Herr Emil automatisch zustimmend nickte. Erst in der Sekunde darauf, als meine Worte ihn erreichten, nahm ich den verwirrten Ausdruck seiner Augen wahr, starr wie eine stehengebliebene Uhr.

»Niemand ist zufrieden mit dem Namen, den man ihm gegeben hat – das wirst du sehen, wenn du Kinder hast«, tröstete mich Mutter, nur weil der Herr Emil da war.

So dachte ich zumindest, böse wie ich war. Und scheuerte in der Hocke den Bratrost des Ofens.

»Weder mit seinem Namen noch mit seinem Wohnort«, lachte Onkel Ion und entkorkte die Flasche mit dem gelben Etikett der Weingenossenschaft Vinalcool.

»Nein, das reicht!«, sagte der Herr Emil hastig und hielt seine langen knochigen Finger über das Glas. Und um seine Abwehr zu unterstreichen, neigte er seinen stets von allzu langen Haaren überwucherten Kopf nach rechts.

»Meinst du denn«, gab der Herr Emil nach einer Weile zu bedenken, »meinst du denn, wir wären froh, wenn wir immer nach unserem wahren Wert beurteilt würden? Schließlich ist er wirklich nicht leicht zu fassen. Wir selbst überschätzen uns ja gern und schieben es auf Zufälle und die anderen Menschen, wenn uns unsere Stellung im Leben nicht angemessen erscheint … Meinst du nicht, dass es eher unser Selbstvertrauen stärkt, nicht allzuviel über unsere Bestimmung zu wissen?«

Ich hatte geahnt, dass er damit kommen würde, nur das Lächeln, das er über seinen Redeschwall breitete, milderte sein Pathos. Mit letztem Mut zum Risiko gab er blindlings seine verschämte Zurückhaltung auf. Aber Onkel Ion schien nichts zu bemerken, oder es war ihm egal.

»Lass das, Emil«, lachte er und streckte das kranke Bein auf einem Stuhl aus. »Lass das, trink doch ein Glas, wenigstens einmal möchte ich auch dich trinken sehen …«

Der andere verharrte mit vorgebeugtem Oberkörper, hängenden Schultern und schlaffen Knien. Nur in den Mundwinkeln ging das demütige Lächeln (oder schien es nur mir so?) in eine leicht spöttische Gleichgültigkeit über.

»Als wäre es für dich das Richtige, wo du doch weißt, dass dir danach schlecht wird …«

Mutter hatte mich vom Herd weggeschubst und kam jetzt mit der vollen Kohleschaufel in der Hand zurück, um den Herrn Emil zu verteidigen. Sie schämte sich der Grobheit des Onkels und hegte eine mütterliche Zärtlichkeit für den unbeholfenen Herrn Emil, in die sich wohl noch vage etwas anderes mischte, das sie für ihn empfand und das mich auf die Palme brachte, sooft ich es spürte.

»Vielleicht noch ein Sorbet?«, fragte sie ihn.

»Ja, schon, aber wenig, wirklich nur ein bisschen«, beteuerte der Herr Emil eilig und setzte sich so vorsichtig auf den Stuhl, dass die Bewegung kein Ende zu nehmen schien.

»Gestern war schönes Wetter, nicht wahr? Ich glaube, von jetzt an …«, sagte er, unschlüssig, ob er einen fragenden Tonfall anschlagen sollte.

Seine Maske aus Diskretion behinderte ihn beim Reden, oder war das schon immer so gewesen? Alle lachten wir, sogar Mutter, die mit einem silbernen Löffelchen unter der zuckrigen Kruste im Glas nach dem Sorbet bohrte.

»Lass mal, Onkel«, warf ich großmütig ein, »ich trinke mit dir …«

Mutter sah mich strafend an.

»Es wird ihm ja nicht immer schlecht, wenn er trinkt«, sagte ich zu meiner Entlastung. Aber Onkel Ion wurde böse.

»Um mich geht es gar nicht, sondern um dich«, sagte er. »Du bist ein Mädchen, und mit deiner Erbanlage bist du anfällig für Exzesse …«

»Gott bewahre …«

Mutter goss sich ebenfalls Wein ins Glas, während ich mich gekränkt abwandte. Wenn sie trank, traten rote Flecken auf ihre Wangen und auf ihre Brust, sie war überdreht und lachte ohne Grund, und ich spürte, dass der Onkel sie in ihrer Fröhlichkeit ängstlich beobachtete und so tat, als merkte er nichts.

»Ich bin gar nicht so, wie ihr glaubt«, gab ich ihnen zurück.

»Umso besser wissen wir, wie wir sein möchten«, warf der Herr Emil begütigend ein.

Nach dem jahrelangen Schweigen überschlugen sich die Wörter, sobald er zu reden begann. Dann stieg eine späte Röte in seine hageren Wangen, er fuhr sich mit hastiger Hand durchs Haar, und plötzlich stockte er und ließ das, was er hatte sagen wollen, nachhallend in der Schwebe. Als hätte er sich plötzlich an etwas erinnert, grinste er hämisch, schwieg und nahm wieder den gewohnten Gesichtsausdruck an, der ihm für einen Moment entglitten war.

»Habt ihr Neuigkeiten von Herrn Branea?« Er sah über die Schulter hinüber zu Mutter und verfiel in einen Flüsterton. Gereizt ließ Onkel Ion die Füße unter dem Tisch baumeln, und eine Weile war nur das Scharren seiner Pantoffeln auf dem abgewetzten Teppich zu hören.

»Vor zwei Monaten war ich mit dem letzten Päckchen dort und habe einen ganzen Tag am Tor gestanden … Meins haben sie nicht angenommen, sie haben mir gesagt, er sei nicht mehr dort, das war aber auch alles … Ich glaube, sie haben ihn wirklich verlegt. Da ist dann noch jemand gekommen, der sagte etwas von Gherla, aber wir wissen nichts Genaues …«

Mutter hielt den Blick gesenkt, aber aus meiner Ecke sah ich sie, ohne hinzusehen. Ich wusste, ihr Blick war erloschen.

»Wir warten ab und sehen, was aus der Eingabe wird, die Biţă im Frühjahr gemacht hat. Er hat uns versprochen, dass er ein paar Bekannte einschaltet, aber wir wissen ja, wie Biţă ist …«

Onkel Ion sah finster drein. Natürlich hätte er lieber geschwiegen, nur fürchtete er die befremdliche Stille, die dann eintreten würde. »Wir, die wir Biţă kennen, können nur warten …«

»Ich glaube, das findet sich«, ließ der Herr Emil seinen Singsang hören und unterdrückte ein Gähnen.

Sich finden, was denn?, hätte ich gerne gefragt, aber Mutter war schon aufgestanden. Geblendet stieß sie gegen die dichtgedrängten Einrichtungsgegenstände, und die Tränen liefen ihr die nunmehr endgültigen Falten entlang über das starre Gesicht.

»Ich gehe die Hühner einsperren«, hauchte sie von der Tür.

Fast erleichtert (was er zu Beginn des Abends befürchtet hatte, war wirklich eingetreten) strich Onkel Ion mit zwei Fingern über die Bartstoppeln an seinem Kinn. »Du hast es wirklich geschafft, Emil … Du bist großartig …«

Der andere stand langsam und umständlich auf und machte Anstalten, Mutter zu folgen. Doch in der Tür wandte er sich unschlüssig zu uns um: »Soll ich gehen und sie um Entschuldigung bitten?!« Die Frage in seiner Stimme war an mich gerichtet. »Meint ihr, das war rücksichtslos von mir, ich hätte nicht …? Dabei weiß ich doch, dass sonst gerade sie immer darauf zu sprechen kommt …«

In seinem verwirrten Blick war keine Spur von Verständnis. Er lavierte schlafwandlerisch zwischen den Verletzungen der anderen hindurch – wie hatte er sich nur so viel Gleichgültigkeit zulegen können, fragte ich mich.

»Ich habe gehört, Sie haben irgendwann geschrieben«, sagte ich mit verhalten böswilliger Herausforderung, »und haben dann alle Ihre Manuskripte verbrannt. Ist an dem Gerücht etwas dran?«

»Ach wo!«, lachte er verlegen und fixierte mich mit seinen tränenblauen Augen. »Alles nur Versuche, die unternimmt jeder in dem Alter. Aber in der Kunst, nicht wahr«, dabei wandte er sich mit gespielter Anteilnahme zum Onkel, »da bleiben nur die Standhaften. Schau mal, auch unser Freund, von dem wir sprachen und der nicht sonderlich begabt war, eignete sich eine gewisse Sicherheit an, die auf Technik und Übung gründete, und jetzt, gerade in diesen Jahren …«

Wie gewöhnlich wich er aus, und nichts von dem, was er sagte, interessierte mich noch. Ich setzte mich mit verschränkten Beinen aufs Bett, bauschte die Bettdecke um mich herum und stellte das Glas in Reichweite auf das Nachtschränkchen. Merkwürdig, wie auch in meinem Inneren, wenn ich trank, etwas Unstetes, Rastloses hochkroch, die Ränder des Körpers dehnten sich unendlich, und die Trauer leckte schmatzend daran wie ein Gewässer. Leise stöhnend bückte sich Onkel Ion und schaltete das Radio ein. TAAANZABEND, verhieß die vertraute Stimme aus dem Gerät von Telefunken mit den dürftig vernieteten Rissen, die es abbekommen hatte, als ich es fallenließ – ich war klein damals und gerade erst mit Mutter hierher gezogen, nachdem sie Vater verhaftet hatten. Mit den ersten Takten traten die Zeichen jenes anderen, unerreichbaren Lebens ins Zimmer, das so war, wie ich mir vorstellte, dass ein Leben sein müsste. Jetzt war mir, als spürte ich den Blick von Mihai, und jede einzelne meiner Bewegungen war darin aufgehoben, bedeutungsvoll und einzigartig wie meine Liebe an diesen öden Familienabenden.

»Eigentlich haben sie sich ja getrennt, soviel ich weiß, oder?«, nahm der Herr Emil den Faden wieder auf. Eine gemeine Neugier flackerte in seinen Augen, die er auf Mutters leeren Stuhl richtete.

»Sie hatten ein paar Meinungsverschiedenheiten, und dann ist Margareta gegangen …«

In der Stimme des Onkels spürte ich, diesen Satz hatte er so oft wiederholt, dass er selbst nicht mehr daran glaubte. »Und bald darauf haben sie ihn verhaftet …«

»Nun, irgendwie ist das ja ganz günstig, oder?« Der Herr Emil gab sich praktisch, versuchte zu denken wie die anderen, schaffte es aber nicht, und wieder spürte ich seine Gleichgültigkeit. Weil der Onkel immer finsterer blickte, legte er nach: »Ich meinte …« Er schaute zu mir herüber. »Da sind doch so viele, oder? Die sich pro forma scheiden lassen, um die Karriere ihrer Kinder nicht zu gefährden, mit den Schulen ist das halt so eine Sache …«

»Um Scheidung geht es nicht, die war durch, als er verhaftet wurde«, antwortete der Onkel verdrießlich. »Victor hat ihr über jemanden, der von dort kam, sagen lassen, dass ihm alles, was geschehen ist, leid tut, und ich glaube, ihr tat es auch leid, wie auch immer, es waren ja keine großen Dramen … Außerdem frage ich mich, wo ist denn das Drama, wenn zwei schwer voneinander loskommen? Vor allem in dieser Situation, wenn man da ein Mensch ist …«

»Ja«, stimmte der Herr Emil zerstreut zu, er wollte offenbar auf etwas anderes hinaus, das ihn mehr interessierte. »Aber mir scheint, mehr als er hat doch seine Familie Politik gemacht, oder? Die hatten sogar ein Gut in der Nähe … Einer seiner Brüder, habe ich gehört, war Minister in der faschistischen Regierung Antonescu. Du hast ihn wahrscheinlich gekannt …«

»Ich habe ihn gekannt«, sagte der Onkel, »ich habe sie alle gekannt.«

War seine Stimme wirklich so zurückhaltend, wie mir schien, oder wollte er nur vor mir nicht offen reden? Für einen Augenblick war ich sicher, dass sein ängstlicher Blick nach dem Bett schweifte.

»Victor hing sehr an seiner Familie und war damals ziemlich jung, überhaupt der Jüngste, alles andere als eigenständig. Darum auch die Trennung von Margareta, die nicht in den Clan passte«, fuhr er fort, wobei sein Tonfall immer sachlicher wurde.

»Was haben die ihm denn zur Last gelegt, als sie ihn verhafteten?«

Wie lange hatte ich das schon fragen wollen, jetzt aber fürchtete ich wirklich, dass Mutters Schritte im Vorzimmer zu hören wären und die Tür aufginge …

»Tja«, antwortete der Onkel und fächelte mit der Hand den Zigarettenrauch zur Seite. »Sie haben sie damals alle geholt …«

»Habt ihr den Wein ausgetrunken?«, fragte Mutter, als sie eintrat. In der Eile hatte sie versäumt, das frisch aufgetragene Puder an den Nasenflügeln zu verteilen. Dort und im Ausschnitt verkrustete es streifig – über den roten Flecken. Wieder tat sie allzu lebhaft und rückte die Stühle hin und her, völlig unsinnig in meinen Augen.

»Es tut mir leid, dass ich vorhin … Entschuldigung …«

»Komm, Emil, lassen wir das, greif lieber zu, damit wir diese Flasche endlich leermachen …« Der Onkel betätigte den Hebel der Sodawasserflasche, die gab allerdings nur noch ein paar Tropfen her. Der Herr Emil zog sich schon an.

»Entschuldige bitte«, sagte er, »es ist spät geworden.« Mit einigem Ungeschick nestelte er an der Gürtelschnalle des Mantels.

»Ich hoffe, Sie kommen uns bald wieder besuchen …« Von der Tür her gluckste Mutters bemühtes Lachen, ihr hagerer Körper wiegte sich in der Erinnerung längst vergessener Bewegungen. Genervt knallte ich zwei Bücher auf das Nachtschränkchen und stand auf, um zum Abschied die Hand zu geben.

»Ich komme wieder, danke«, antwortete er und beugte seinen marionettenhaften Körper. Mit ungebügelten Kleidern, flatternd, als wären sie verwelkt, lenkte er seine alten Schritte in die einsamen Gässchen und schleppte sein steriles Martyrium mit sich, das er vergeblich hinter seinen höflichen Phrasen zu verstecken suchte.

»Nun komm, Gevatter Ion, trink noch ein Schlückchen mit, ganz gelb ist dein Gesicht, als wenn der Tod eintritt, ganz gelb ist dein Gesicht, als wenn der Tod eintritt«, summte fröhlich der Onkel. Schwerfällig erhob er sich, rückte zuerst die Stühle zurecht und zog dann den Vorhang auf, um für die Nacht zu lüften.

»Was ist denn nun eigentlich, haben sie dem Emil eine Stelle gegeben?«, fragte Mutter, während sie die Überdecke langsam abzog.

»Sie haben ihm ein paar Stunden in den unteren Klassen gegeben.«

Der Onkel hatte sich hinter den Wandschirm verzogen, um sich auszuziehen, und von dort hörte ich, wie er schleppend und stockend erzählte: »Es wäre auch schwierig gewesen, ihm eine ganze Lehrerstelle zu geben, wo er doch so viele Jahre nicht im Amt war … Ich jedenfalls habe getan, was in meiner Macht stand, gleich dreimal habe ich mit dem Direktor gesprochen, ich glaube immerhin, dass Emil es trotz seiner mangelnden Arbeitsdisziplin schafft, wenigstens mir zuliebe, der ich mich für ihn eingesetzt habe …«

Vor Kälte erschauerte ich in meinem Kleid, dem ersten, das eigens für mich gekauft worden war und das ich mochte, weil es eben nicht aus einem der von Mutter abgelegten umgenäht worden war. Der rosarote Taft war mit kleinen weißen Karos durchsetzt. Zigarettenrauch schwebte in runden Wölkchen aus dem Zimmer und befleckte die blaue Nachtluft. Die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt, blickte ich in die Dunkelheit dorthin, wo ich die Hügel ahnte, von denen die Stadt umgeben war. Dort glitten ständig, mal weg- und dann wieder auftauchend, die schemenhaften Lichter unsichtbarer Autos auf und ab.