Kapitel XXII
Heute war einer jener Sommertage, die spät im Oktober ohne jeden Grund wiederkehren. Die Sonne erkaltete mit herbstlichem Strahlen, und meine Einsamkeit verlief sich in den stillen Straßen. Doch der viel zu blaue Himmel, der durch die Fenster drang, würde so bleiben bis in den Nachmittag, keine trügerische Mittagshitze würde ihm die Farbe entziehen. Das Licht strömte, die rostigen Blättersäume und die langen, strähnigen Gräser funkelten darin. Auf dem Gehsteig zeichneten sich die Schatten der Menschen schwarz und scharf ab. Über Zäunen und Mauern hing der reife Efeu im selben grellen Rot wie die eingelegten Tomatenpaprika, die in Einweckgläsern hinter den Fenstern gärten. Durch das sich rötende starre Blattwerk lugten wild wachsende Trauben mit wie von Reif grau schimmernden Beeren.
»Du weißt doch, dass heute auch Enes Fall diskutiert wird, als erster Punkt der Tagesordnung …«, sagte Domnica.
Sie hatte mich am Arm gepackt, und wir setzten uns ein bisschen von den anderen ab. Allerdings hütete ich mich, ihr zu viel von mir zu erzählen, schließlich war sie Bucurs Stellvertreterin.
»Was denn für ein Fall? … Ach ja, er hat viele Sitzungen geschwänzt … Meinst du, deshalb?«, fragte ich erstaunt.
»Er kommt bestimmt nicht ohne Strafe davon«, sagte sie mit ihrer energischen Stimme im Brustton der Überzeugung. »Ich weiß nicht, ob du gemerkt hast, aber da waren ganze Nachmittage, an denen er gar nicht erschienen ist, auch nicht zum Seminar. Er scheint irgendwo gearbeitet zu haben, wo er auch vor der Zulassung zum Studium gewesen ist, denn er muss selbst für seinen Unterhalt sorgen. Bucur will das allerdings nicht gelten lassen …«
»Dieser Bucur sollte sich lieber in Acht nehmen, der bedrängt die Mädels beim Verband, sobald er ein Auge auf eine geworfen hat, bestellt er sie zum Bereitschaftsdienst, ich jedenfalls werde nie mehr hingehen, komme was wolle«, schimpfte Didi.
*
Alle, die wir da waren, scharten uns um Ene, der seine abgewetzte Windjacke überzog.
»Ich habe verstanden, ich soll einen ausgeben«, rief er und warf das glänzende Haar zurück, das ihm über die Augen fiel. »Gleich, wenn ich irgendwie zu Geld komm …«
»Ich habe nicht gewusst, dass er, wie soll ich sagen, dass er in einer so unangenehmen Situation ist«, flüsterte Nana.
»Gewusst hat es ja niemand. Und ich glaube auch nicht, dass es ihm passt, wie es in der Sitzung zur Sprache gekommen ist, jetzt kann er nur noch tun, als ginge ihn das alles nichts an«, erläuterte Sergiu Stănescu leise.
Ungelenk stieß er die Eingangstür auf und schob uns beide sanft an den Schultern nach draußen. Zum ersten Mal sah ich ihn seine gewohnte Zurückhaltung aufgeben, aber an diesem Abend waren wir alle etwas aufgewühlt.
»Wieso hilft ihm aber auch gar keiner, nicht einmal seine Mutter?« Nana ließ nicht locker.
»Das ist schwer zu verstehen, wenn man es aus einer gewöhnlichen, normalen Situation heraus betrachtet … Aber wahrscheinlich hat ihr neuer Mann gewisse Bedingungen gestellt …«
Sergius bedächtige Sätze standen in gewohntem Gegensatz zu seinen verhuschten Bewegungen. Mir fiel ein, dass Ene sich oft über seine gestärkten weißen Hemden und die Krawatten, die er jeden Tag trug, und auch über seine Redeweise lustig gemacht hatte. Dennoch war Sergiu einer der Ersten gewesen, die dagegen gestimmt hatten, als Bucur vorgeschlagen hatte, man sollte Ene auch das Mitgliedsheft des Kommunistischen Jugendverbandes entziehen.
»Hör mal, wenn Nana nicht gewesen wäre, die gesagt hat, was sie zu sagen hatte, wäre die Sitzung ganz anders ausgegangen«, fuhr er fort.
Sein Tonfall war so leidenschaftlich und bekümmert, wie ich es bei ihm noch nie gehört hatte. Er war mir immer als ein von Haus aus allzu behüteter Junge erschienen, der sich nicht gern mit anderen gemein machte.
»Über dich habe ich mich aber auch gewundert, von dir hätte ich so etwas nie erwartet – ich hoffe, du bist mir deshalb nicht böse«, sagte er und nahm gleich die Hand von meiner Schulter.
Ich war mir sicher, dass er rot geworden war, nur sah man es auf der dunklen Straße nicht.
»Nein«, antwortete ich, »wieso sollte ich dir böse sein?«
Ich fühlte mich geschmeichelt, ich hatte es mir ja selbst nicht zugetraut. Meine Wangen glühten immer noch, und meine Beine fühlten sich an, als wäre ich stundenlang stramm gewandert. Nur – aber es hatte keinen Sinn, ihm oder irgendwem sonst so etwas zu gestehen –, nur war es mir irgendwann nicht um Ene gegangen. Obwohl ich mich, wie alle anderen, immer wieder umgewandt hatte nach ihm, der in der letzten Reihe saß, gebeugt und die fettigen Haare noch tiefer über der Stirn als sonst, mit einem Lächeln, das verächtlich sein sollte, obwohl er in sich zusammengesunken war unter den vielen Blicken, die starr auf ihn gerichtet waren. Abwechselnd sah ich auf ihn und auf Nana. Mit neidvoller Unruhe hörte ich ihr zu, wie sie das alles hinkriegte, alles, was sie sagte, war genau das, was man in einer Sitzung so sagte. Sie legte eine besondere Betonung auf bestimmte Wörter und richtete Fragen an den Saal, auf die sie mit Sicherheit keine Antwort bekommen würde, allerdings verstärkte die Erregung ihre Stimme und ließ ihr die Röte in die dunklen Wangen steigen. Mit ihren Worten entwarf sie ein anderes, irgendwie retuschiertes Bild von Ene. Das eines großzügigen und diskreten Menschen, eines selbstlosen guten Genossen, als hätte Nana ihm festliche Sonntagskleider übergezogen; man hätte ihn nicht ohne weiteres wiedererkannt als den Kerl mit dem ewig über der Hose hängenden Hemd und der qualmenden Kippe im Mundwinkel. Als Nana sich wieder setzte, wuchs die Unruhe in mir, das emporkochende Blut rauschte in meinen Ohren.
»Ich bitte euch, sagt eure Meinung«, wiederholte der Abgeordnete.
Alle schwiegen wir, sahen zum Fenster hinaus oder an der Wand hinauf, ab und zu, wenn eine Bank knarrte, erschraken wir, aber da war nichts, es hatte sich nur jemand gebückt, um seinen Schnürsenkel zu binden. Wenn sich lange niemand meldete, würde man zur Abstimmung schreiten, und das wär’s dann gewesen. Den Ausschluss aus dem Jugendverband würde Ene ein Leben lang mit sich herumtragen wie ein Kainsmal auf der Stirn.
Da wurde mir bewusst, dass es mir gar nicht mehr um Ene ging, obwohl wir unterwegs zur Sitzung so viel über ihn geredet hatten. »Es müssen ihn gleich mehrere verteidigen«, hatte ich da gesagt, »vielleicht hängen ganze Jahre seines Lebens von diesen Stunden ab, von uns.« Weshalb freuten wir uns bloß geradezu überschwänglich, dass er uns brauchte? Als wir selbstbewusst den Saal betreten und eine ganze Reihe für die Leute aus unserer Gruppe freigehalten hatten, da hatten wir uns anders gefühlt als gewöhnlich. Doch jetzt saß ich stocksteif da, um ja nicht Nanas vorwurfsvollem Blick zu begegnen. Nein, ich würde nicht aufstehen und über ihn sprechen, dazu war ich nicht imstande. Ich kenne den Genossen Ene seit mehr als einem Jahr, müsste ich sagen, von Seminaren, Prüfungen, vom patriotischen Arbeitseinsatz, ich kann mich für seine Gewissenhaftigkeit und seine Loyalität verbürgen … Er ist ein arbeitsames Element und geht auf im Dienst der Sache, rief ich in Gedanken, wobei ich meine schweißnassen Finger knetete, trotz aller unangebracht erscheinenden Äußerlichkeiten, die er korrigieren sollte … muss … Das alles sagte ich mir immer wieder und schwieg weiter mit gesenktem Gesicht, meine Ohren glühten unterm Haar; zwar tat ich den Mund nicht auf, aber ich wusste, wie dieser Saal aussehen würde, wenn alle Augen auf mich gerichtet wären. All diese Augen, die jetzt zu Boden starrten oder nach vorn zu dem langen Tisch des Präsidiums mit dem roten Tischtuch, einer Wasserkaraffe mit drei Gläsern auf einem Plastiktablett in der Mitte, all diese Augen würden sich plötzlich auf mich richten. Ich habe solche Angst davor, dass ich mich empört frage, wieso eigentlich ich aufstehen sollte. Sollen doch die Jungs aufstehen, sollen doch Didi oder Marilena aufstehen, irgendjemand, wer auch immer … Nein, ich werde nicht aufstehen, nicht ausgerechnet ich, denn ich habe nicht nur Angst vor diesem Saal, es ist nicht nur das, das auch, aber da ist noch etwas anderes, das ich gar nicht richtig zu denken wage. Ich kann nicht aufstehen, ausgerechnet ich, die seit so langer Zeit eine alte ungeklärte Schuld mit sich herumschleppt, die ungewisse Schuld meines Onkels Ion, die unbestimmte Schuld meines Vaters, der für Vergehen seiner Familie gebüßt hat, die zwanzig oder dreißig Jahre zurückliegen, aber was zählt das jetzt schon … Gar nichts zählt es, nur ist mir so viel ungekannte Schuldenlast aufgebürdet worden, und ich habe sie vor langer Zeit auf mich genommen, ehe ich mich versah. Und dieser Hohlraum der Angst, den ich spüre, sooft ich mir vorstelle, dass ich aufstehen und reden und der ganze Saal sich nach mir umdrehen könnte, dieser Hohlraum rührt daher. Nie habe ich gewagt, in einer Sitzung das Wort zu ergreifen, immer habe ich Abstand gehalten, um meine Schuld nicht herauszufordern. Vielleicht würde es nämlich schon reichen, dass ich aufstand und die Worte sagte, die ich vorbereitet, die ich unablässig geübt hatte, und schon würde der Abgeordnete der Universitätszentrale seinen schwerfälligen Leib im maßgeschneiderten Anzug aus feinem Zwirn ruckartig aufrichten: »Und Sie, die Sie da gerade reden, was sind denn Sie für ein Element? Sehen wir uns die Sache doch mal an …«, könnte er sagen und mich mit diesen vorwurfsvollen Augen anschauen, deren Blick ich schon lange erwartete.
Was ich für ein Element war, darüber hatte ich eigentlich nie richtig nachgedacht, und doch sah man mir alles, was ich über die Jahre gelesen und im Kino gesehen hatte, an. Auch jetzt konnte ich gar nicht anders, als meinen verschleierten Blick von meinem bebenden, angsterfüllten inneren Wesen abzuwenden: Ich kannte gar keinen anderen Zustand als den der Angst.
Ich wusste nicht einmal mehr, ob ich etwas zu sagen wüsste, ich wusste nur, dass ich den Mut dazu nicht hatte, so, wie ich jetzt dasaß, hatte auch Onkel Ion in vielen Sitzungen dagesessen. Jetzt erst hatte ich das Gefühl, ich hätte sie alle erlebt, ich hielt den Kopf genau so gesenkt wie er, mit demselben ungewissen Schuldgefühl und derselben Angst. Plötzlich war mir, als hätte ich Angst gehabt, so weit ich zurückdenken konnte, immer schon. In meinen dunklen Gehirngängen, in die mein Denken sich immer weiter zurückzog, begegnete es nichts anderem als der Angst und der Scham. Als würde ich dauernd zurückweichen, Schritt für Schritt. Jede Sekunde, die verstrich, ohne dass ich aufstand, war nichts weiter als ein Schritt, den ich zurückwich, noch ein Schritt und noch einer. Bis hinter mir nur noch die Wand war. Nur noch die raue, kalte Wand des Saales, an die mein weicher Körper zu stoßen schien, während ich mich mit den Händen an den Lehnen der Vordersitze festkrallte. Den anderen mochte es so vorkommen, als stünde ich aufrecht, doch ich wusste, dass ich vor Angst genauso schlotterte wie bisher, dass ich mich an der Wand hinter mir nur abstützte und dass mein verkniffener Mund trocken war und wortleer. Dann stand ich schließlich aufrecht vor ihnen, vorerst ohne ein Wort hervorzubringen, für den Augenblick überzeugt, dass ich dazu nicht imstande sein würde. Noch war ich gelähmt von der weißen Explosion des Entsetzens, das weit heftiger ausbrach, als ich erwartet hatte, noch vernichtender, als mein Name, ausgesprochen vom Sitzungsleiter, die staunende Stille des Saales erfüllte. Die Sitze knarrten, und alle Augen in den bunt gemischten Gesichtern musterten mich dermaßen gierig, als sähen sie mich zum ersten Mal. Selbst die Augen meiner Freunde, die sich dann aber scheu abwandten, um mich nicht in Verlegenheit zu bringen, denn sie begriffen meine Angst. Diese Angst, die ich endlich einmal herausfordern musste, um mich von meiner Schuld loszukaufen und sie dann jedes Mal, wenn ich irgendwo wieder aufstand, immer kleiner vorzufinden.
Das Aufstehen hatte mich dieselbe Anstrengung gekostet wie die so lange durchgehaltene Weigerung, Petru anzurufen. Ich musste es wenigstens versuchen, eine andere zu sein, ich musste etwas tun. In dem Moment, als ich die Hand hob, geriet alles dermaßen durcheinander, dass ich weder reden noch schweigen wollte, mir war alles egal. Allerdings war mir klar, wenn ich mich jetzt nicht erhob, würde ich noch ewig Angst haben. So fürchtete ich mich immer weiter, bis ich mit erstickter Stimme die ersten Worte hervorbrachte. Über wen redete ich denn? Das war nicht wichtig … Wichtig war, dass ich reden konnte mit dieser Stimme, die immer wieder brach und Lücken riss zwischen Worten, die mir bekannt vorkamen. Sogar die Intonation kannte ich im Voraus, auch die Satzanfänge, alles wusste ich, und nach einer Zeit legte ich absichtlich Pausen ein, damit meine Worte lange genug dort unter ihnen blieben, damit sie ihnen glaubten, wenngleich ich selbst, obwohl ich sie aussprach und mich immer mehr an meinem Mut und meiner Großzügigkeit berauschte, überhaupt nicht mehr daran glaubte.
*
Nach der Hitze des Tages war der Abend unerwartet kühl, deshalb gingen wir schnell, redeten und lachten laut, stießen uns mit den Ellbogen an und versuchten, ohne uns eigentlich dessen bewusst zu sein, den neidischen Ärger der Passanten zu erregen. Auch ich lachte, ebenso grundlos und schallend wie die anderen, noch nie war ich wie jetzt aufgegangen in all ihren Bewegungen, all ihren Gesten. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Sergiu, obwohl unsere Gruppe immer wieder auseinanderfiel und sich anders wieder zusammenfand, unentwegt an meiner Seite blieb.
»Ach ja, etwas wollte ich dir noch sagen …«, rief er mir nach, als er uns alle bis vor die Kantinentür begleitet hatte. »Ich war dieser Tage im Institut, ich habe dort irgendwelche Angaben für eine Arbeit gesucht, die ich … Egal, es hat keinen Sinn, in Einzelheiten zu gehen«, sagte er, plötzlich verlegen, mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Was ich sagen wollte: Ich habe dort Petru Arcan getroffen, bei dem wir letztes Jahr Prüfung hatten … Er war sehr nett, er ist mit mir gegangen und hat mir beim Suchen geholfen, unter anderem hat er nach dir gefragt, ob wir Kommilitonen sind … Er hat gesagt, du hast auch etwas in Arbeit und er wundert sich, dass du gar nicht mehr da gewesen bist … Ich habe versäumt, es dir früher zu sagen …«
»Danke«, wisperte ich und reichte ihm die Hand.
Freudige Unruhe überkam mich, ich wusste, das war’s, ich wusste, wie ich ihm nachsehen würde, um sicherzugehen, dass er den Hof des Wohnheims verlassen hatte, wie ich auf die Uhr schauen würde, um einzuschätzen, ob Petru schon zu Hause war, wie ich zum Telefon gehen würde und es mir dort, die Münze in der Hand, anders überlegen würde, lieber erst in einer halben Stunde, würde ich mir sagen und in die um diese Zeit fast leere Kantine hetzen, mich an den Tisch setzen, wo die Mädels schon beim zweiten Gang waren, lustlos ein paar Bissen hinunterwürgen und gleich wieder aufstehen. »Ich hole mir was aus der Konditorei …«, werde ich sagen, genervt von ihrer Fragerei. Ohne eine weitere Antwort werde ich genauso gehetzt gehen, wie ich gekommen bin, nichts mehr hören außer meinem wummernden Herzschlag, werde über die Allee eilen bis zum entferntesten Telefon, mit vor Angst wie in der Sitzung zitternden Händen die Tür der Zelle öffnen und in allen Taschen nach der Münze suchen, die ich gerade dann nicht finden werde, und mich fragen, ob er nicht vielleicht Besuch hat oder jemand bei ihm ist und seine Stimme nicht allzu hastig oder zu höflich klingen wird.