Eddingtons Richtungswechsel
Zunächst war die Möglichkeit eines Anfangs an einem bestimmten Ort nicht gerade beliebt. Lemaîtres Vorstellung eines Uratoms war gründlich ruiniert gewesen, als Einstein ihn ablehnte. Obwohl es uns heute offensichtlich erscheint, dass die Expansion des Universums irgendeine Art von Anfang voraussetzt, war dies vorerst keine geläufige Interpretation der Hubble’schen Befunde.
Vorläufig gab sich die astronomische Gemeinde damit zufrieden, die Ergebnisse als ein Rätsel zu betrachten – so wie man sich auch bei Sliphers ursprünglicher Entdeckung der galaktischen Rotverschiebungen verhalten hatte. Für Lemaître jedoch war dies eine Rechtfertigung seiner Theorie, und so bemühte er sich um Unterstützung für die Wiederbelebung seiner bevorzugten Vorstellung. Das Universums sollte mit einer Explosion, ausgehend von einem einzigen Punkt, angefangen haben. Zu Beginn seiner Karriere war es der große britische Astronom Arthur Eddington gewesen, der seine Ideen eines expandierenden Universums unterstützt hatte. Und so wandte er sich jetzt mit Hubbles Daten, die seine Theorie vom Uratom bestätigten, erneut an Eddington.
Ein großer Wissenschaftler benötigt viele Fähigkeiten, doch eine der wichtigsten ist das Geschick, von heute auf morgen die Richtung zu wechseln. Das mag übrigens auch der Grund sein, warum die meisten Politiker daran scheitern, die Wissenschaft zu verstehen und zu fördern. In der Politik wird ein Richtungswandel als ein Zeichen für Schwäche erachtet. Wenn Politiker sich vom Gedankengut des Mainstreams entfernen, werden sie angegriffen, weil sie angeblich nicht mehr wüssten, was sie einmal gesagt hätten. In der Wissenschaft verhält es sich umgekehrt. Dort wird die Unfähigkeit, die Richtung zu ändern, wenn die Beweise es erfordern, als Schwäche betrachtet. Den besten Wissenschaftlern fällt es leicht, zu akzeptieren, dass sie unrecht hatten, und dann weiterzumachen. Eine Theorie (im Grunde jede Theorie, egal wie viel man schon in sie investiert hat) ist nur so gut wie die Daten, die sie aufrechterhalten.
Eddington zeigte mit seiner Reaktion auf Lemaîtres Verknüpfung der Uratom-Theorie mit Hubbles Expansionsbeweis genau den Charakter des guten Wissenschaftlers. Damit war Eddingtons ursprüngliche Ablehnung der Theorie überholt. Er war großmütig genug, um zuzugeben, er habe nicht nur Lemaîtres Theorie damals verworfen, sondern sie auch ganz und gar vergessen und deshalb auch die Bedeutung von Hubbles neuen Daten nicht erkannt, bis Lemaître ihm erneut geschrieben habe.
Nun aber zeigte Eddington nicht nur die Fähigkeit des großen Wissenschaftlers, die Richtung zu ändern, sondern setzte auch seine Reputation und seinen Enthusiasmus für die neue Theorie ein. Er schrieb an Nature, das führende Wissenschaftsjournal, und stellte die Bedeutung dieser neuen Information heraus. Er machte auf die Tragweite aufmerksam, die sie Lemaîtres Theorie verlieh, übersetzte dessen Artikel aus dem Französischen und veröffentlichte ihn in einer britischen Astronomiezeitschrift.
Blicken wir heute auf Eddington zurück, erscheint er uns wie ein spießiger, archetypischer Engländer alten Stils, doch seine große Popularität zu dieser Zeit hatte er zum größten Teil seiner für einen Wissenschaftler ungewöhnlichen Fähigkeit zu verdanken, wissenschaftliche Angelegenheiten so zu erklären, dass der Laie sie verstehen konnte. Er hatte die Gabe, stets die richtige Redewendung zu finden. Die Legende will, dass Eddington einmal einem Journalisten eine Kostprobe seiner Kommunikationsfähigkeit zeigte. Der fragte ihn nämlich, ob es stimme, dass er einer von nur drei Menschen sei, die Einsteins allgemeine Relativitätstheorie verstünden. Da Eddington nicht antwortete, wies der Interviewer ihn darauf hin, es gebe keinen Grund, bescheiden zu sein. Eddington widersprach umgehend. Sein Schweigen habe gar nichts mit Bescheidenheit zu tun, er überlege nur gerade, wer dieser Dritte sein könnte.
Ob authentisch oder nicht, diese Geschichte zeigte die hohe Meinung, die die Öffentlichkeit über Eddingtons Wissen hatte, wenngleich manch einer zu bezweifeln schien, ob selbst ein Eddington die Relativität tatsächlich begreifen könne. Als er nämlich im Dezember 1919 vor der Royal Astronomical Society einen Vortrag über die allgemeine Relativitätstheorie hielt, soll sich, dem Korrespondenten von The Times zufolge, der Physiker Oliver Lodge «gewundert haben, dass Professor Eddington glaubte, sie verstanden zu haben». Die Zeitung merkt an, es habe an dieser Stelle Gelächter im Publikum gegeben.
Eddingtons Ironie scheint auch in seiner unmöglich genauen Bemerkung zum Ausdruck zu kommen, die er Jahre später bei einem Vortrag zum Besten gab: «Ich glaube, es gibt 15747727136275002 577605653961181555458044717914527116709366231025 076185631031296 Protonen im Universum und die gleiche Anzahl von Elektronen.» Gegen Ende seiner Karriere jedoch konzentrierte sich Eddington nachdrücklich auf Beweise, die ihn auf mathematischem Weg zu dieser bemerkenswert präzisen Zahl führten, sodass er seine Behauptung womöglich gar nicht ironisch gemeint haben muss.
Als es um den Urknall und die Expansion des Universums ging, war es Eddington, der als Erster ein Bild anbot, das diese Ausdehnung dem interessierten Laien verständlich machte, nämlich die Vorstellung von Punkten auf der Oberfläche eines sich aufblähenden Ballons statt meiner Pailletten auf einer Gummiplatte.
Wie wir bereits gesehen haben, liegt der Nachteil von Eddingtons Bild darin, dass unser Universum kein zweidimensionales Objekt ist, das im dreidimensionalen Raum verzerrt wird, wie es beim Ballon der Fall ist. Die Oberfläche des Ballons hat keine Tiefe, sie dehnt sich nur in zwei Dimensionen aus, aber wir haben ihn in einer dritten Dimension verzerrt, damit er eine Kugel enthält, und wir blasen ihn in drei Dimensionen auf. Im Gegensatz zum Ballon beginnt das Universum mit drei Dimensionen, sodass es schwieriger wird, sich die stattfindende Expansion vorzustellen. Aber wir müssen bedenken, dass es der Raum ist, der sich ausdehnt, nicht etwa die Galaxien, die sich innerhalb des Raums bewegen (mit Ausnahme der Orte, wo die Gravitationsanziehung die Resultate verfälscht, wie es etwa zwischen der Milchstraße und der Galaxie im Andromeda-Sternbild geschieht).