Mit dem Zufall zurechtkommen
Das zeigt jedoch ein falsches Verständnis des Zufalls. Als menschliche Wesen sind wir heillos überfordert, mit Wahrscheinlichkeiten und dem Zufall umzugehen. Wir sind einfach nicht dafür geschaffen. Nehmen wir ein simples Beispiel, um zu sehen, wie schlecht wir dabei abschneiden. Zur Feier des neuen Jahres hat die Lottozentrale beschlossen, eine Doppelziehung am selben Tag zu organisieren. Zwei Chancen, Millionär zu werden. Wie üblich sind Unmengen von Scheinen verkauft worden. Millionen Menschen klammern sich an die Hoffnung, dass sich ihr Leben verändern wird. Denn es gibt ja eine minimale Chance für sie, bald den Lebensstil der Reichen und Schönen nachahmen zu können. Und deshalb lohnt es sich auch, das Geld für die Lottoscheine auszugeben.
Die erste Ziehung läuft genauso ab wie in jeder Woche zuvor. Die Zahlen werden gezogen, eine nach der anderen, eine Zufallskette der Möglichkeiten und Hoffnungen. Sechs Zahlen aus neunundvierzig. Es gibt auch eine Zusatzzahl, aber die ist nur für die Verlierer. Schauen wir uns die sechs Gewinnzahlen an: 24–39–6–41–17–29. Für alle außer den wenigen Glücklichen ist alles vorbei. Nichts Außergewöhnliches ist passiert. Obwohl die Ansagerin versucht, ihre Stimme künstlich mit Begeisterung aufzuladen, ist dies schon viele tausend Mal zuvor so abgelaufen. Es ist nichts Neues.
Dann beginnt die zweite Ziehung. Lauschen wir dem Kommentar:
Für die Ziehung heute Abend kommt die Maschine zum Einsatz, die man Delilah nennt, angeworfen von einem Ex-Mitglied von Blondie. Und hier kommt die erste Zahl … wie wahrscheinlich ist das denn? Die erste Zahl ist die Eins. Okay, die nächste. Kaum zu fassen. Die Zwei. Das ist unglaublich. Jetzt wird die dritte Zahl gezogen. Hey, soll das ein Witz sein? Die dritte Zahl ist die Drei …
Und so geht es weiter, bis die Ziehung vollständig ist: 1–2–3–4–5–6. Alle wunderschön aufgereiht. Ein Tumult bricht los: Die Ausschüttung wird gestoppt, während die Ziehungsmaschine repariert und überprüft wird. Schadensersatzforderungen, zuerst nur ein Rinnsal, schwellen zu einem reißenden Strom an. Fragen werden gestellt bis hinauf zur Regierungsebene. Dennoch lässt sich nichts Unrechtes entdecken. Wie konnte das passieren? Wie konnte solch ein unglaubliches Ergebnis zustande kommen?
Diese einfache Lottoziehung legt eine seltsame verstörende Realität bloß. Unsere Welt enthält viele zufällige Elemente, sodass die Wahrscheinlichkeit zur einzigen Richtlinie wird. Die Wahrscheinlichkeit leistet einen wesentlichen Beitrag zu den Ereignissen in unserer Welt. Dennoch reagieren die Menschen hilflos, wenn sie mit den Ergebnissen des Zufalls umgehen sollen. Wir kapieren einfach nicht, worum es bei der Wahrscheinlichkeit geht. Sie scheint etwas Unnatürliches zu sein und führt uns ständig an der Nase herum. Eigentlich gab es überhaupt keinen Grund, von der Lottoziehung überrascht zu sein. Das Ergebnis 1–2–3–4–5–6 ist genauso wahrscheinlich wie 24–29–6–41–17–29. Es hat genau dieselbe Chance. Für unsere Gehirne jedoch, die blind gegenüber Wahrscheinlichkeiten sind, gibt es einen gewaltigen Unterschied zwischen den beiden Resultaten.
Es mag merkwürdig erscheinen, dass wir mit Wahrscheinlichkeiten nicht zurechtkommen, wenn es so wichtig ist, aber die Evolution läuft häufig auf einen Kompromiss hinaus, wobei eine Fähigkeit geopfert wird, um eine andere zu stärken. Die Fähigkeit, die es uns unmöglich macht, mit Wahrscheinlichkeiten besser umzugehen, ist die Mustererkennung. Wir sind von Mustern abhängig. Sie sind unsere Schnittstelle zur Wirklichkeit. Unser Bedürfnis nach Mustern ist so stark, dass wir sie uns häufig dort einbilden, wo sie gar nicht existieren: Wo es keine Muster gibt, wo die Wahrscheinlichkeit ein Meer des Zufalls regiert, fühlen wir uns verloren.
Deshalb fühlen wir uns von den Lottozahlen überrumpelt. Und das ist auch der Grund, weshalb überhaupt so viele Leute Lottoscheine kaufen. Wenn wir eine Ziehung wie 24–39–6–41–17–29 sehen, verschleiert unsere Wahrscheinlichkeitsblindheit, wie unwahrscheinlich es ist, dass eine bestimmte Zahlenkombination gezogen wird. Erst wenn ein Muster auftaucht und wir die 1–2–3–4–5–6 sehen, erkennen wir, wie unwahrscheinlich das Ganze überhaupt ist. Wie wir oben gesehen haben, sind Muster unerlässlich. Sie helfen uns, mit der Welt zurechtzukommen, aber unsere Begeisterung für Muster macht uns blind für die Auswirkungen der Wahrscheinlichkeit.
Und so werden wir von unserer Unfähigkeit, die Wahrscheinlichkeit zu erfassen, getäuscht und veranlasst zu glauben, eine Lottoziehung von 1–2–3–4–5–6 sei etwas Besonderes. Dasselbe trifft auf das Universum zu. All diese Konstanten, die Positionierung der Erde und dergleichen müssen irgendwelche Werte haben. Okay, die Chance, dass eine spezielle Reihe von Werten dabei herauskommt, ist gering, aber nicht geringer als jede beliebige andere Kombination. Die besondere Kombination bedeutet hier, dass alle anderen potenziellen Lebensformen nicht in Erscheinung traten. Es könnte tatsächlich reiner Zufall sein, dass es «unser Universum» war, das sich ergab.