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Etwa drei Wochen später fuhr ein Wagen die Auffahrt zu Prior’s Court hinauf.

Vier Männer stiegen aus – ich war einer von ihnen. Außerdem waren da Inspektor Lejeune und Sergeant Lee. Der vierte war der kleine Apotheker Mr Osborne, der kaum seine Begeisterung zu verhehlen vermochte über die Ehre, die ihm da zuteilwurde.

»Sie haben nichts anderes zu tun, als zu schweigen«, ermahnte ihn Lejeune noch einmal dringend.

»Sicher, Inspektor; Sie können sich völlig auf mich verlassen. Ich werde nicht ein Wort sagen.«

»Vergessen Sie das bitte auf keinen Fall!«

»Ich weiß das Vorrecht zu schätzen, das Sie mir da eingeräumt haben. Obwohl ich nicht ganz verstehe…«

Doch niemand ließ sich auf nähere Erklärungen ein.

Lejeune klingelte und fragte den Diener nach Mr Venables. Wir machten den Eindruck einer kleinen Deputation, als wir ins Haus geführt wurden.

Wenn Mr Venables angesichts unseres Besuchs überrascht war, so zeigte er es jedenfalls nicht. Sein Benehmen war äußerst korrekt und höflich. Er rollte seinen Stuhl etwas zurück und vergrößerte auf diese Weise den Kreis, der sich um ihn gebildet hatte. Mir fiel erneut auf, welch ausgeprägte Persönlichkeit dieser Mann war. Der Adamsapfel bewegte sich zwischen den zurückgeschlagenen Ecken seines steifen Kragens, das scharfe Profil mit der vorspringenden Hakennase erinnerte an einen Raubvogel. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Easterbrook; Sie tauchen in letzter Zeit häufig in unserer verlassenen Gegend auf.«

Mir schien, als klinge ein leichter Spott in seiner Stimme. Doch er fuhr gelassen fort: »Und dies ist wohl Inspektor Lejeune? Ich muss gestehen, dass Ihr Besuch meine Neugierde erregt. In unserer friedlichen Weltabgeschiedenheit werden Sie wohl kaum Verbrecher anzutreffen hoffen – oder? Was kann ich für Sie tun, Inspektor?«

Lejeune zeigte sich sehr ruhig, sehr verbindlich.

»Es gibt da eine kleine Sache, in der Sie uns vielleicht behilflich sein könnten, Mr Venables.«

»In welcher Beziehung sollte ich Ihnen helfen können?«

»Am 7. Oktober wurde ein Priester namens Pater Gorman in der West Street in Paddington ermordet. Mir wurde berichtet, dass Sie sich zu dieser Zeit in der Nähe befanden, zwischen 7.45 und 8.15 Uhr abends. Haben Sie damals etwas gesehen, das Ihnen auffällig vorkam?«

»Sollte ich wirklich dort gewesen sein? Ich bezweifle das, Inspektor – bezweifle es sehr stark. Soweit ich mich erinnere, war ich überhaupt niemals in dieser Gegend, und ich glaube auch nicht, dass ich mich am 7. Oktober in London aufhielt. Ich fahre wohl gelegentlich hin, wenn eine besonders interessante Versteigerung stattfindet, und ich suche auch jeden Monat meinen Arzt auf.«

»Das ist Sir William Dugdale in der Harley Street?«

Mr Venables blickte ihn kalt lächelnd an.

»Sie sind sehr gut informiert, Inspektor.«

»Leider nicht ganz so gut, wie ich es möchte. Ich gestehe, dass ich recht enttäuscht bin, von Ihnen nicht die erhoffte Unterstützung zu finden. Aber ich halte es dennoch für nötig, Ihnen einige Einzelheiten in Zusammenhang mit Pater Gormans Tod zu unterbreiten.«

»Gewiss, wenn Sie es wünschen. Den Namen habe ich übrigens noch nie gehört.«

»Pater Gorman wurde an jenem nebligen Abend zu einer sterbenden Frau gerufen. Diese Frau stand mit einer Verbrecherorganisation in Verbindung – anfänglich ohne zu wissen, um was es sich handelte, später fielen ihr jedoch verschiedene Dinge auf, und sie wurde misstrauisch. Wir wissen heute, dass es sich um eine ganze Gesellschaft handelt, die sich die Ausrottung missliebiger Personen zum Ziel gesetzt hatte – selbstverständlich gegen enorme Bezahlung.«

»Der Gedanke ist nicht ganz neu«, murmelte Venables. »In Amerika…«

»Gewiss. Aber diese Organisation zeigte wirklich neue Aspekte. Erstens wurden diese… Beseitigungen offensichtlich herbeigeführt durch etwas, das wir als ›psychologisches Mittel‹ bezeichnen können. Man behauptete, einfach die ›Todessehnsucht‹ zu aktivieren, die in jedem Menschen unbewusst vorhanden sei…«

»Sodass die betreffende Person liebenswürdigerweise Selbstmord beging? Mein lieber Inspektor, das scheint zu schön, um wahr zu sein.«

»Kein Selbstmord, Mr Venables. Die Leute starben alle eines vollkommen natürlichen Todes.«

»Aber, aber! Daran glauben Sie tatsächlich? Das sieht unserer abgebrühten Polizeibehörde aber gar nicht ähnlich!«

»Das Hauptquartier dieser Organisation soll sich in einem Haus mit dem Namen ›Das fahle Pferd‹ befinden.«

»Ah, jetzt beginne ich zu verstehen. Das also bringt Sie in unsere ländliche Gegend – meine gute Freundin Thyrza Grey und ihr Unsinn. Ich bin noch nicht dahinter gekommen, ob sie selbst ernstlich daran glaubt oder nicht… aber es ist nun einmal Humbug, da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Sie hat eine ziemlich einfältige Freundin, die das Medium spielt, und eine als Dorfhexe bekannte Frau ist ihre Köchin. Die drei alten Frauen sind zu einer Art Lokalberühmtheit geworden. Sie wollen mir doch sicher nicht weismachen, Inspektor, dass Scotland Yard diesen okkulten Hokuspokus ernst nimmt?«

»Wir nehmen ihn sogar sehr ernst, Mr Venables.«

»Sie glauben tatsächlich, Thyrza brauche nur ihre hochtrabenden Phrasen zu deklamieren, Sybil in Trance zu fallen und Bella etwas schwarze Magie zu betreiben… und dann stirbt irgendwo ein Mensch?«

»O nein, Mr Venables, die Todesursache ist viel einfacher…« Lejeune hielt einen Augenblick inne.

»Die Todesursache ist Thalliumvergiftung.«

Eine Weile herrschte tödliche Stille.

»Was sagen Sie da?«, fragte Venables.

»Vergiftung durch Thalliumsalz. Ganz schlicht und einfach. Nur musste die Sache gut getarnt werden, damit der Gedanke an Gift überhaupt nicht aufkam. Und was gäbe es da Besseres als eine pseudowissenschaftliche Aufmachung voll moderner Schlagwörter, verstärkt durch alten Aberglauben. Tarnung, Mr Venables, nichts anderes… Ablenkung von der nüchternen Tatsache: Gift!«

»Thallium«, meinte Venables nachdenklich. »Ich glaube, darüber habe ich noch nie etwas gehört.«

»Nein? Meistens nimmt man es als Rattengift, gelegentlich auch zur Behandlung einer bestimmten Flechte. Zufällig ist ein Paket davon in einer Ecke Ihrer Vorratskammer versteckt.«

»In meiner Vorratskammer? Das kommt mir sehr unwahrscheinlich vor.«

»Es stimmt aber, Mr Venables. Wir haben ein paar Körner davon sogar zu Versuchszwecken benutzt.«

Venables wurde sichtlich erregt.

»Dann muss es jemand absichtlich dort hingelegt haben. Ich weiß nichts davon, überhaupt nichts!«

»Tatsächlich? Sie sind doch ein reicher Mann, Mr Venables, nicht wahr?«

»Was hat das mit diesem… Thallium zu tun?«

»Das Finanzamt hat Ihnen kürzlich einige recht peinliche Fragen gestellt, stimmt’s? Unter anderem wollte es wissen, woher Ihr großes Vermögen stammt.«

»Das Schlimmste in unserem Land ist das Steuersystem. Ich habe mir bereits ernsthaft überlegt, ob es nicht besser wäre, auf die Bermudas auszuwandern.«

»Ich glaube, das werden Sie vorläufig nicht tun, Mr Venables.«

»Soll das eine Drohung sein? Wenn ja, dann…«

»Keineswegs, Mr Venables. Würde es Sie interessieren zu hören, wie diese Verbrechen ausgeführt wurden?«

Venables zuckte die Achseln. »Tun Sie sich keinen Zwang an, Inspektor.«

»Das Ganze ist ausgezeichnet organisiert. Die finanziellen Abmachungen werden durch einen Winkeladvokaten namens Bradley in Birmingham getätigt. Zu ihm kommen die Kunden zuerst und schließen eine Wette ab, ob eine bestimmte Person innerhalb einer festgelegten Zeitspanne sterben wird. Mr Bradley – als leidenschaftlicher Wetter – ist überzeugt, dass der Tod eintritt. Der Kunde jedoch wettet dagegen. Der Vertrag wird abgeschlossen… allerdings zu etwas eigenartigen Bedingungen, eins zu fünfzehnhundert oder sogar zweitausend. Gewinnt Mr Bradley, ist das Geld sofort zu zahlen, sonst muss der Kunde selbst mit einem leider tödlichen Unfall rechnen. Das ist alles, was Mr Bradley dabei zu tun hat – eine Wette abschließen. Sehr einfach, nicht wahr?

Als Nächstes begibt sich der Kunde nach Much Deeping ins ›Fahle Pferd‹. Miss Thyrza Grey und ihre Freundinnen laden ihn zu einer ihrer Séancen ein, die ihren Eindruck selten verfehlen.

Nun aber zu den einfachen Faktoren hinter den Kulissen.

Gewisse harmlose Frauen, Angestellte eines kleinen Marktforschungsinstituts, haben mit einem Fragebogen die Haushaltungen einer bestimmten Straße aufzusuchen und dort die üblichen Erkundigungen einzuziehen: ›Welche Waschmittel benutzen Sie? Welche Toilettenartikel, welche Pillen und so weiter.‹ Heutzutage sind die Menschen an derartige Fragen gewöhnt.

Nun folgt der letzte Schritt. Er ist einfach, verwegen… und erfolgreich. Aber er muss vom Erfinder des Schemas selbst ausgeführt werden. Einmal spielt er vielleicht den Gasmann, ein andermal einen Elektriker, einen Klempner oder irgendeinen Arbeiter, der etwas im Haus zu reparieren hat. Wen er aber auch verkörpern mag – sein Ziel ist immer das Gleiche: Er tauscht einen der täglichen Gebrauchsgegenstände gegen einen genau gleichen aus. Die Angaben hierfür haben ihm die ausgefüllten Fragebogen ja geliefert. Danach verschwindet er und wird in der Gegend nie mehr gesehen.

Einige Tage mögen vergehen, ehe etwas geschieht. Doch früher oder später zeigen sich bei dem Opfer Krankheitssymptome. Ein Arzt wird gerufen, aber es gibt keinen Grund, unsaubere Machenschaften zu vermuten. Er mag sich sogar nach dem Essen und Trinken des Patienten erkundigen – wie aber sollte er auf den Gedanken kommen, die Seife oder Zahnpasta zu untersuchen, die der Kranke schon seit Jahren benutzt?

Sie erkennen die Vorteile dieses Plans, Mr Venables? Der einzige Mensch, der über die Tätigkeit des Kopfs der Organisation Bescheid weiß – ist dieser Kopf selbst. Niemand kann ihn verraten.«

»Wenn dem so ist – wieso sind Ihnen dann alle diese Tatsachen bekannt, Inspektor?«, erkundigte sich Venables freundlich.

»Oh, wenn wir einmal einen Menschen in Verdacht haben, finden wir auch Mittel und Wege, um Gewissheit zu erlangen.«

»Was Sie nicht sagen! Zum Beispiel?«

»Wir brauchen sie nicht alle aufzuzählen. Aber da gibt es einmal die Kamera. Man kann einen Mann knipsen, ohne dass er eine Ahnung davon hat. Wir besitzen unter anderem ganz ausgezeichnete Bilder eines uniformierten Boten, eines Gasmannes, eines Klempners und anderer Arbeiter dieser Art. Natürlich gibt es falsche Schnurrbarte, Ersatzzähne und so fort, aber unser Mann ist von verschiedenen Personen identifiziert worden – so einmal von Miss Katherine Corrigan, dann auch von einer gewissen Edith Binns. Das Wiedererkennen eines Menschen ist ein recht aufschlussreiches Gebiet, Mr Venables. Zum Beispiel ist dieser Herr hier, Mr Osborne, bereit zu beschwören, dass er Sie am 7. Oktober um 8 Uhr an der Barton Street in London gesehen hat.«

»Ja, ich habe Sie gesehen!« Mr Osborne lehnte sich vor; er bebte vor Erregung. »Und ich habe Sie beschreiben können – ganz genau!«

»Etwas zu genau vielleicht«, meinte Lejeune gelassen. »Denn eigentlich konnten Sie Mr Venables gar nicht sehen… Sie standen nämlich nicht vor Ihrem Geschäft, sondern gingen auf der anderen Straßenseite hinter Pater Gorman her bis zur West Street, und dort überfielen Sie ihn von hinten und schlugen ihn nieder.«

»Was?«, schrie Mr Zacharias Osborne.

Es hätte lächerlich aussehen können… nein, es war lächerlich! Sein Kinn fiel haltlos schlaff herunter, die Augen starrten…

»Mr Venables, gestatten Sie, dass ich Ihnen Mr Osborne vorstelle. Der Herr war Apotheker – in der Barton Street, Paddington. Sie werden ein persönliches Interesse an ihm nehmen, wenn Sie erfahren, dass er es war, der ein Päckchen Thallium in Ihre Vorratskammer praktizierte. Da er von Ihrer Lähmung anfänglich nichts wusste, hatte er sich das Vergnügen gemacht, Sie bei der Polizei als den Schurken des Dramas zu denunzieren. Und da sein Eigensinn noch größer ist als seine Dummheit, wollte er nicht zugeben, dass er einen bösen Schnitzer begangen hatte.«

»Dummheit? Sie wagen es, mich dumm zu nennen? Wenn Sie wüssten… wenn Sie auch nur ahnten, was ich alles getan habe… was ich tun kann, dann…«

Der kleine Osborne platzte fast vor Wut.

Lejeune hob die Hand. »Sie hätten nicht versuchen sollen, gar zu schlau zu sein«, bemerkte er vorwurfsvoll. »Wenn Sie ruhig in Ihrem Laden geblieben wären und nicht versucht hätten, sich in den Vordergrund zu drängen, dann stünde ich jetzt nicht hier und müsste Sie nicht warnen, dass jedes Wort…«

In diesem Moment begann Mr Osborne haltlos zu kreischen.