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Es war etwa eine Woche später, als mir unter den Todesanzeigen in der Times ein Name auffiel:

 

TUCKERTON. Am 2. Oktober starb im Krankenhaus Fallowfield in Amberley Thomasina Ann Tuckerton im Alter von zwanzig Jahren, einzige Tochter des verstorbenen Thomas Tuckerton, Esq. von Carrington Park, Amberley, Grafschaft Surrey. Stille Beisetzung. Keine Blumenspenden.

 

Nicht einmal Blumen für die arme Tommy Tucker… und keinen »Spaß« mehr am Leben in Chelsea. Ich fühlte plötzlich ein tiefes Mitgefühl für all die Tommy Tuckers unserer Zeit. Doch wie durfte ich mir das Recht anmaßen, ihr Leben als verschwendet anzusehen? Vielleicht war im Gegenteil mein Leben, mein ruhiges, um Bücher kreisendes Gelehrtenleben, verschwendet. Ein Leben aus zweiter Hand. Hatte ich jemals einen Spaß, kannte ich Vergnügen? Ein völlig abwegiger, unfassbarer Gedanke für mich! Natürlich lag mir gar nichts an solchen Späßen – aber war das auch richtig?

Ich schob den Gedanken an Tommy Tucker beiseite und wandte mich meinen Briefen zu.

Das wichtigste Schreiben kam von meiner Kusine Rhoda Despard, die mich um einen Gefallen bat. Ich klammerte mich daran, da ich an diesem Morgen ohnehin keine Lust verspürte, mich an meine Arbeit zu setzen. Und der Brief bot mir eine willkommene Entschuldigung.

Ich setzte also den Hut auf, ging rasch hinaus und winkte ein Taxi herbei, das mich zur Wohnung einer alten Freundin brachte, zu Mrs Ariadne Oliver.

Mrs Oliver ist eine sehr bekannte Verfasserin von Kriminalromanen. Ihr Mädchen Mildred behütete Haus und Herrin wie ein alter Drache vor dem Ansturm der profanen Welt.

Ich hob nur fragend meine Augenbrauen und Mildred nickte.

»Sie gehen am besten gleich hinauf, Mr Mark«, meinte sie. »Mrs Oliver ist scheußlicher Laune; vielleicht gelingt es Ihnen, sie etwas aufzuheitern.«

Ich stieg in den zweiten Stock empor, klopfte leise an eine Tür und trat ein, ohne auf Antwort zu warten. Mrs Olivers Arbeitszimmer ist ziemlich geräumig; die Wände sind tapeziert mit nistenden Vögeln in tropischem Laubwerk. Mrs Oliver selbst lief wie eine Halbirre im Zimmer hin und her und murmelte vor sich hin. Sie warf mir nur einen kurzen, gleichgültigen Blick zu und setzte ihre Wanderung fort. Ihr Blick irrte über die Wände, glitt zum Fenster, und dann schlossen sich ihre Augen wie in verzweifeltem Todeskampf. »Weshalb«, rief sie und richtete ihre Worte an das Weltall, »weshalb sagt denn dieser Idiot nicht sofort, dass er den Kakadu gesehen hat? Er muss ihn ja gesehen haben, es ist gar nicht anders möglich. Aber wenn er das sagt, ist der ganze Effekt futsch. Es muss doch einen Weg geben, es muss einen…«

Sie stöhnte, fuhr mit allen Fingern durch das kurze graue Haar und verkrallte sich darin. Dann sah sie mich plötzlich mit sehenden Augen an und rief: »Hallo, Mark – ich werde noch verrückt«, und fuhr mit ihren Klagen fort.

»Dann ist auch noch Monika da. Je netter und liebenswerter ich sie machen will, umso dümmer wird sie. Und spießig noch dazu. Monika… Monika… ich glaube, der Name passt nicht. Nancy? Wäre das besser? Oder Joan? Nein, jedermann hat eine Joan – langweilig. Mit Anne ist es nicht anders. Susan? Ich habe schon einmal eine Susan gehabt. Lucia? – Lucia? Lucia? Ja, eine Lucia kann ich sehen. Rote Haare. Pullover mit Rollkragen… schwarze enge Hosen? Schwarze Strümpfe auf jeden Fall.«

Diese zeitweilige Lösung des einen Problems wurde durch ein anderes wieder abgelöst: den Kakadu, und erneut nahm Mrs Oliver ihre rastlose Wanderung auf. Ohne zu wissen, was sie tat, hob sie irgendetwas auf und stellte es woandershin. Sorgfältig legte sie ihr Brillenetui in eine chinesische Lackdose, in der sich bereits ein Fächer befand; dann seufzte sie tief auf und erklärte: »Ich bin froh, dass Sie es sind, Mark.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Es hätte ja auch irgendein Mensch sein können, ein Versicherungsagent oder eine dumme Person, die von mir verlangte, einen Basar zu eröffnen, oder ein Klempner oder… ach, was weiß ich! Vielleicht auch jemand, der ein Interview erzwingen wollte. Immer die gleichen Fragen, die mich in Verlegenheit bringen. Was brachte Sie zuerst auf den Gedanken, Schriftstellerin zu werden? Wie viele Bücher haben Sie bereits geschrieben? Wie hoch sind Ihre Einnahmen? Und so weiter und so weiter. Ich weiß nie eine Antwort darauf und dann denken die Leute, ich sei ein Dummkopf. Aber das würde jetzt auch nichts mehr ausmachen, denn ich werde bestimmt noch verrückt über diese Kakadugeschichte.«

»Will sich der logische Zusammenhang nicht einstellen?«, erkundigte ich mich verständnisvoll. »Dann gehe ich wohl besser.«

»Nein, bleiben Sie, Mark. Sie sind immerhin eine Ablenkung.«

Ich akzeptierte das zweifelhafte Kompliment.

»Wollen Sie eine Zigarette?«, fragte Mrs Oliver geistesabwesend. »Irgendwo sind welche. Schauen Sie unter dem Deckel der Schreibmaschine nach.«

»Danke, ich habe meine eigenen – bitte, bedienen Sie sich. Oh, Entschuldigung, Sie rauchen ja nicht.«

»Und trinke nicht«, gab Mrs Oliver zurück. »Leider. Alle diese amerikanischen Detektive haben immer eine Flasche Whisky in ihrem Schreibtisch oder sonst wo. Das scheint ihre sämtlichen Probleme zu lösen. Wissen Sie, Mark, ich kann mir absolut nicht vorstellen, wie ein Mörder im wirklichen Leben ungestraft davonkommen sollte. Mir scheint alles immer so klar auf der Hand zu liegen, sobald das Verbrechen geschehen ist.«

»Ach was, Unsinn! Sie haben doch wahrhaftig genug Bücher geschrieben, in denen zunächst nichts klar ist.«

»Mindestens fünfundfünfzig«, gab Mrs Oliver zu. »Der Mord selbst ist immer ganz einfach und leicht. Aber eben die Verschleierung nachher macht alles so schwierig. Weshalb sollte es denn jemand anders getan haben als…? Man riecht es ja auf eine Meile gegen den Wind.«

»Aber nicht, wenn das Buch fertig ist«, tröstete ich.

»Ha, wissen Sie denn auch, was mich das kostet?«, fragte Mrs Oliver düster. »Sie mögen sagen, was Sie wollen, aber es ist einfach unnatürlich, dass fünf oder sechs Personen anwesend sind, wenn B. ermordet wird, und noch dazu alle ein Motiv hätten, ihn umzubringen – es sei denn, dieser B. sei wirklich der ganzen Welt verhasst. Und in dem Fall würde sich kein Mensch darum kümmern, ob er nun erstochen oder vergiftet wurde.«

»Ich verstehe Ihr Problem vollkommen«, entgegnete ich. »Aber nachdem Sie es nun fünfundfünfzigmal gelöst haben, wird es Ihnen auch ein sechsundfünfzigstes Mal gelingen.«

Sie fuhr sich wieder durchs Haar und zerrte heftig daran.

»Nicht doch!«, rief ich. »Sie werden sich die Haare mitsamt den Wurzeln ausreißen.«

»Blödsinn«, erklärte Mrs Oliver. »Haare sind zäh. Nur als ich mit vierzehn Jahren die Masern mit sehr hohem Fieber hatte, da fielen sie mir aus – rings um die Stirn. Sah schmachvoll aus. Und es dauerte ein halbes Jahr, bis sie wieder richtig nachgewachsen waren. Furchtbar für ein Mädchen – Mädchen sind ja so eitel. Ich dachte gestern daran, als ich Mary Delafontaine im Krankenhaus besuchte. Ihr Haar ist ausgefallen, genauso wie meines damals. Sie erklärte, sie müsse eine Stirnperücke tragen, bis es besser aussehe. Aber mit sechzig wachsen die Haare vielleicht gar nicht wieder nach.«

»Ich habe vor ein paar Tagen gesehen, wie ein Mädchen einem anderen die Haare büschelweise ausriss«, bemerkte ich mit dem Stolz eines Menschen, der endlich einmal etwas vom wirklichen Leben mitbekommen hatte.

»An was für merkwürdigen Orten haben Sie sich denn herumgetrieben?«, wunderte sich Mrs Oliver.

»In einer Coffee Bar in Chelsea.«

»Oh Chelsea?«, rief sie aus. »Dort geschehen die ausgefallensten Dinge. Beatniks und Sputniks und Squares und die ganze Beatgeneration. Ich schreibe selten darüber, weil ich immer Angst habe, dass ich die falschen Worte gebrauche und dann ausgelacht werde. Es ist besser, wenn ich mich an meine guten alten Rezepte halte.«

»Zum Beispiel?«

»Nun, Leute auf Vergnügungsfahrten, in Hotels, in Spitälern, Gemeindeversammlungen, Musikfesten – oder Ladenmädchen und Putzfrauen, auch junge Männer und Mädchen auf Wanderungen oder wissenschaftlichen Forschungsreisen oder…« Sie musste innehalten, weil sie ganz außer Atem war.

»Ja, solche Umgebungen lassen sich leichter schildern«, gab ich zu.

»Immerhin könnten Sie mich einmal in so eine Coffee Bar in Chelsea führen, nur um meine Erfahrungen zu erweitern«, schlug Mrs Oliver nachdenklich vor.

»Wann immer Sie wollen. Heute Abend?«

»Nein, heute nicht. Ich bin viel zu sehr mit meinem neuen Buch beschäftigt… oder vielmehr damit, mich darüber zu ärgern, dass ich nicht vorankomme. Das ist das Schlimmste dabei, wenn man Schriftstellerin ist – obwohl eigentlich alles schlimm und ermüdend ist, außer dem einen Moment, da man glaubt, eine wundervolle Idee zu haben und es kaum erwarten kann, mit dem Schreiben anzufangen. Sagen Sie, Mark: Halten Sie es für möglich, einen Menschen mit Hilfe von Fernwirkung zu töten?«

»Was verstehen Sie unter Fernwirkung? Auf einen Knopf drücken und radioaktive Todesstrahlen aussenden?«

»Nein, nein, keine Science-Fiction. Ich meine…« Sie hielt einen Augenblick inne. »Ja, ich glaube, ich meine wirklich schwarze Magie.«

»Wachsfiguren, denen ein Dolch ins Herz gestochen wird?«

»Ach, solche Dummheiten kommen nicht infrage«, rief Mrs Oliver ärgerlich. »Aber es geschehen doch so eigenartige Dinge – in Afrika oder Westindien. Man hört immer wieder davon. Eingeborene, die einfach umfallen und tot sind. Zauberei oder Fetischglaube… nun, Sie wissen schon, was ich meine.«

Ich erklärte ihr, das meiste dieser alten Aberglauben werde heute auf die Macht der Suggestion zurückgeführt. Dem Opfer wird gesagt, der Medizinmann habe seinen Tod vorausgesehen – und dann erledigt das Unterbewusstsein den Rest.

Mrs Oliver schnaubte verächtlich.

»Wenn mir jemand einreden wollte, ich sei dazu bestimmt, mich hinzulegen und zu sterben, dann sollte der Betreffende sich in seinen Erwartungen aber gründlich getäuscht sehen!«

Ich lachte.

»In Ihren Adern fließt das Blut jahrhundertealter westlicher Skepsis. Sie wären kein gutes Medium für so etwas.«

»Glauben Sie ernstlich, dass solche Dinge geschehen können?«

»Ich weiß zu wenig darüber. Wie kommen Sie denn auf das Thema? Sollte etwa Ihr neues Meisterwerk einen Mord durch Suggestion enthalten?«

»Ganz bestimmt nicht! Altmodisches Rattengift oder Arsenik ist immer noch das Beste für mich. Oder der zuverlässige Dolch. Dabei weiß man doch, woran man ist. Keine Feuerwaffen, wenn es sich vermeiden lässt, Feuerwaffen haben immer ihre Tücken. – Aber Sie sind bestimmt nicht hergekommen, Mark, um mit mir über meine Bücher zu reden.«

»Ehrlich gesagt, nein. Tatsache ist, dass meine Kusine Rhoda Despard demnächst ein Fest geben wird und…«

»Ausgeschlossen! Nie wieder!«, rief Mrs Oliver. »Wissen Sie, was letztes Mal geschah? Ich wollte ein harmloses Mörderspiel inszenieren und das Erste, was uns in die Quere kam, war ein wirklicher Leichnam. Nein, danke! Ich habe das noch immer nicht ganz verwunden.«

»Diesmal gibt es kein Mörderspiel. Und Sie hätten nichts anderes zu tun, als in einem hübschen Zelt zu sitzen und Ihre eigenen Bücher zu signieren – zu fünf Shilling das Stück.«

»N-u-n«, meinte Mrs Oliver zögernd. »Das klingt schon besser. Ich muss das Fest nicht eröffnen? Keine dummen Reden halten? Auch keinen Hut tragen?«

Ich versicherte, dass nichts dergleichen von ihr verlangt würde.

»Und es würde sich nur um ein oder zwei Stunden handeln«, drang ich in sie. »Nachher kommt dann irgendein Spiel – vielleicht ein Kricketmatch – nein, nicht zu dieser Jahreszeit –, aber Kindertänze oder eine Maskenprämierung…«

Ein wilder Schrei unterbrach mich.

»Das ist es!«, rief Mrs Oliver triumphierend. »Ein Kricketball! Natürlich! Er sieht ihn vom Fenster aus – wie er in die Luft fliegt –, das lenkt ihn ab. Deshalb vergisst er den Kakadu. Wie gut, dass Sie gekommen sind, Mark. Sie haben mich gerettet.«

»Ich verstehe allerdings nicht ganz…«

»Macht nichts, macht nichts. Hauptsache, dass ich es verstehe«, versicherte Mrs Oliver. »Es ist alles ziemlich kompliziert und ich habe keine Zeit, Ihnen das Ganze zu erklären. Es war sehr nett, dass Sie mich besucht haben… aber jetzt müssen Sie wirklich gehen, und zwar sofort. Ich muss arbeiten.«

»Gewiss, gewiss. Und wegen dieses Festes…?«

»Ich werde es mir überlegen. Quälen Sie mich jetzt nicht damit. Wo um alles in der Welt mag meine Brille nun wieder hingekommen sein? Es ist nicht zu glauben, wie die Dinge immer verschwinden…«