33

 

Am nächsten Morgen rief ich wieder Ginger an und sagte ihr, ich führe jetzt nach Bournemouth. »Ich habe ein nettes, kleines Hotel ausfindig gemacht, das verschiedene Seitenausgänge besitzt. Da kann ich mich leicht mal wegstehlen und Sie in London besuchen, ohne das es auffällt.«

»Eigentlich sollten Sie das nicht, Mark – aber ich gestehe, es wäre einfach himmlisch! Hier ist es tödlich langweilig! Ich sehne mich…«

»Ginger!«, unterbrach ich entsetzt. »Was ist mit Ihrer Stimme? Sie klingt ganz anders.«

»Oh, das ist weiter nichts, machen Sie sich keine Sorgen.«

»Was fehlt Ihnen?«

»Ich habe nur einen etwas rauen Hals, das ist alles.«

»Ginger!«

»Aber Mark, das kann doch jedem Menschen einmal passieren. Wahrscheinlich habe ich mich erkältet – oder einen ganz leichten Grippeanfall.«

»Weichen Sie mir nicht aus… fühlen Sie sich ganz wohl – oder nicht?«

»Kein Grund zur Besorgnis, wirklich. Machen Sie doch keine Geschichten.«

»Sagen Sie mir ganz genau, wie Sie sich fühlen. Ist es so wie beim Beginn einer Grippe?«

»Nun – ich weiß nicht recht. Ich habe überall ein wenig Schmerzen… die Glieder tun mir weh… eben wie das so ist.«

»Fieber?«

»Etwas erhöhte Temperatur…«

Ich saß da und eisige Kälte kroch mir über den Rücken – ich hatte Angst, entsetzliche Angst. Und ich wusste genau, dass auch Ginger sich fürchtete, wenn sie es auch nicht zugeben wollte.

Ihre raue Stimme erklang wieder; sie versuchte mich zu beruhigen.

»Mark, lassen Sie sich doch nicht bange machen. Ich weiß, Sie sind erschrocken… aber es besteht wirklich kein Grund dazu.«

»Mag sein. Aber wir müssen jede Vorsichtsmaßnahme treffen. Rufen Sie sofort Ihren Arzt an – lassen Sie ihn zu sich nachhause kommen. Er muss Sie genau untersuchen. Sofort, Ginger, hören Sie?«

»Schön – aber er wird mich nur auslachen.«

»Soll er! Aber tun Sie, was ich gesagt habe. Sobald er da war, rufen Sie mich wieder an, ja?«

Als ich aufgelegt hatte, blieb ich lange Zeit sitzen und starrte den schwarzen, leblosen Apparat an. Panik – nein, ich durfte dieser grauenhaften Angst nicht nachgeben. Zurzeit kamen überall Grippefälle vor… es war ganz natürlich. Der Arzt würde höchstens eine leichte Erkältung feststellen…

Aber vor mir sah ich Sybil in ihrem pfauenblauen Gewand mit den unheilvollen Symbolen. Ich hörte Thyrzas befehlende Stimme – und auf dem Boden waren Pentagramme gezeichnet, wand und drehte sich Bella, während sie ihre Zaubersprüche murmelte und den weißen Hahn tötete…

Unsinn, lauter Unsinn – lächerlicher Aberglaube…

Doch die Kiste! – Diese Kiste mit ihren Spulen und Dosen ließ sich nicht so leicht aus den Gedanken verbannen. Sie hatte nichts mehr mit altem Aberglauben zu tun… sie war ein Produkt der Technik und Wissenschaft. Aber es konnte nicht möglich sein… konnte, konnte nicht!

Mrs Calthrop fand mich immer noch an der gleichen Stelle. Sofort fragte sie: »Was ist geschehen?«

»Ginger – Ginger fühlt sich nicht wohl…«

Ich hoffte, oh, ich hoffte so inständig, dass sie mich beruhigen werde. Aber sie tat es nicht.

»Das ist schlimm«, meinte sie langsam. »Ja, das ist ganz entschieden schlimm.«

»Es ist nicht möglich!«, schrie ich auf. »Es ist ganz ausgeschlossen, dass die drei Frauen einen solchen Einfluss haben.«

»Mein lieber Mark«, erklärte Mrs Calthrop ruhig, »sowohl Sie wie auch Ginger haben diese Möglichkeit dennoch ins Auge gefasst – sonst hätten Sie den Versuch gar nicht unternommen.«

»Ja – und gerade diese unsere Einstellung macht es doppelt gefährlich.«

»Sie suchten nach einem Beweis – und den haben Sie jetzt durch Gingers Erkrankung bekommen.«

Plötzlich hasste ich diese Frau, die so kühl und sachlich sprechen konnte. Meine Stimme erhob sich zornig.

»Weshalb sind Sie so pessimistisch? Ginger hat eine leichte Erkältung – nichts weiter. Warum glauben Sie gleich an das Schlimmste?«

»Weil es keinen Sinn hat, den Kopf in den Sand zu stecken, bis es zu spät ist. Wir müssen die Augen offen halten.«

»Aber Sie können doch nicht glauben, dieser ganze Humbug sei wirksam? All diese Geschichten mit Trance und Beschwörungen und Opferhähnen?«

»Irgendetwas ist wirksam«, erklärte Mrs Calthrop fest. »Mit dieser Tatsache müssen wir uns abfinden. Das meiste davon ist sicher nur bloße Fassade, um die richtige Atmosphäre zu schaffen. Aber dahinter versteckt sich die eine wichtige Sache – die wirksame.«

Ich ließ den Kopf in die Hände fallen und stöhnte.

»Oh, hätte ich mich doch nie auf die Sache eingelassen!«

»Das dürfen Sie nicht sagen. Ihre Motive waren gut und ehrenhaft. Jedenfalls können Sie jetzt nicht mehr zurück. Sorgen Sie sich noch nicht allzu sehr – wenn Ginger anruft, werden Sie mehr wissen. Sie wird Sie wahrscheinlich bei Rhoda zu erreichen versuchen…«

Ich verstand den Wink und erhob mich.

»Ja, es ist wohl besser, wenn ich gleich gehe.«

»Oh, wie dumm bin ich doch!«, rief Mrs Calthrop plötzlich, als ich bereits in der Tür stand. »Natürlich – die Fassade! Wir haben uns von der Fassade blenden lassen… und haben damit genau das getan, was diese Frauen wollten!«

Vielleicht hatte sie Recht.

Zwei Stunden später rief Ginger mich an.

»Er war hier«, erklärte sie. »Schien etwas verblüfft über die Symptome, meinte aber, es sei wahrscheinlich eine Grippe. Grassiert gegenwärtig ziemlich stark. Er hat mich ins Bett gesteckt und will mir eine Medizin schicken. Ich habe ziemlich hohes Fieber, aber das ist bei einer Grippe meistens so, nicht wahr?«

Ein hilfloses Flehen klang in der rauen Stimme, trotz der vorgeschützten Tapferkeit.

»Es wird bald wieder besser, mein Liebling«, flüsterte ich verzweifelt. »Hörst du – es wird bestimmt wieder besser! Fühlst du dich sehr elend?«

»Nun… das hohe Fieber… und Schmerzen überall… Haut und Glieder. Jede leiseste Berührung tut mir weh. Und mir ist so heiß… so schrecklich heiß…«

»Das ist das Fieber, Liebstes. Hör zu, ich komme sofort zu dir. Ich fahre gleich los, jetzt, in dieser Minute noch… Nein, keine Einwendungen – ich komme!«

»Ach ja. Ich bin so froh, Mark, wirklich. Ich… ich bin doch wohl nicht so tapfer, wie ich dachte.«

Ich rief sofort Lejeune an.

»Miss Corrigan ist krank«, sagte ich kurz.

»Was?«

»Sie haben es gehört. Sie ist krank. Ihr Hausarzt war bei ihr, er meint, es könne sich um Grippe handeln. Mag sein – mag aber auch nicht sein. Ich weiß nicht, was Sie jetzt tun könnten. Vielleicht wäre es gut, einen Spezialisten zu ihr zu schicken.«

»Was für ein Spezialist sollte das sein? Wir wissen ja nicht…«

»Einen Psychiater oder Psychoanalytiker – so etwas. Ein Mann, der über Suggestion und Hypnose und all das Zeug Bescheid weiß. Dafür gibt es doch Leute, nicht wahr?«

»Natürlich. Sie haben vollkommen Recht. Aber vielleicht handelt es sich wirklich bloß um eine Grippe…«

Ich knallte den Hörer auf die Gabel. Mich kümmerte einzig und allein Ginger, meine tapfere, verängstigte kleine Ginger. Das hatten wir beide nicht geglaubt – oder doch? Nein, bisher hatten wir nur mit dem Gedanken gespielt. Aber es war kein Spiel mehr. Das »Fahle Pferd« war bittere Realität.

Ich ließ den Kopf in die Hände sinken und stöhnte.