32

 

Ich trat in den späten Nachmittag hinaus. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen und da der Himmel stark bewölkt war, ging ich etwas tastend die lange Auffahrt hinunter. Einmal wandte ich den Kopf, um nach den erleuchteten Fenstern des Hauses zu blicken, und geriet dabei vom Wege ab auf den Rasen. Fast gleichzeitig stieß ich mit einem Menschen zusammen, der mir entgegenkam.

Es war ein kleiner, stämmiger Mann. Wir tauschten unsere Entschuldigungen aus, wobei mir auffiel, dass seine Stimme voll und tief, aber etwas pedantisch klang.

»Ich bin noch nie hier gewesen«, erklärte ich. »Daher finde ich den Weg nicht so leicht. Leider habe ich keine Taschenlampe mitgenommen.«

»Gestatten Sie…«

Der Fremde zog eine Stablampe hervor, knipste sie an und reichte sie mir. Bei ihrem Licht sah ich, dass er ein Mann mittleren Alters war, mit einem rundlichen Cherubsgesicht, schwarzem Schnurrbart und Hornbrille. Er trug einen dunklen Regenmantel und sah aus wie ein Muster an Korrektheit. Immerhin wunderte ich mich, weshalb er denn seine Lampe nicht selbst benützt hatte.

»Ah«, bemerkte ich überflüssigerweise. »Ich sehe, ich bin vom Weg abgekommen.«

Ich trat einen Schritt seitwärts und wollte ihm die Lampe wiedergeben. »Danke, jetzt finde ich mich schon zurecht.«

»Aber bitte, behalten Sie sie doch, wenigstens bis zum Tor.«

»Sie… Sie waren doch auf dem Weg zum Haus?«

»Nein, nein – ich kehre ebenfalls zurück… eh… die Auffahrt hinunter und dann zur Haltestelle des Autobusses. Ich fahre nach Bournemouth.«

Mein Begleiter schien sich nicht ganz wohl zu fühlen und seine Verlegenheit wuchs, während wir nebeneinander hergingen. Er war jedenfalls nicht der Mann, der eine unklare Situation gelassen hinnehmen konnte.

»Sie haben wohl Mr Venables besucht?«, fragte er und räusperte sich.

Ich bestätigte das und fügte hinzu: »Irre ich mich oder waren Sie nicht auf dem Weg zu seinem Haus?«

»Nein«, gab er zurück, »nein, ich… tatsächlich wohne ich in Bournemouth oder zumindest in der Nähe davon. Ich habe dort vor Kurzem ein kleines Häuschen gekauft.«

Die Bemerkung erinnerte mich an etwas, das ich unlängst gehört hatte. Was war es doch gleich? Während ich mich vergeblich zu erinnern versuchte, fühlte sich mein Begleiter zu einer näheren Erklärung verpflichtet.

»Sie finden es natürlich sehr merkwürdig, dass jemand in einem Park herumwandert, ohne den Besitzer zu kennen. Ich gestehe, es ist nicht ganz… hm… leicht zu erklären, obwohl ich bestimmte Gründe dafür habe. Übrigens bin ich sowohl in Bournemouth wie auch hier ziemlich bekannt und könnte Ihnen genügend Leute nennen, die Ihnen meine Rechtschaffenheit bestätigen würden. Ich war bisher Apotheker in London; aber ich habe mein Geschäft verkauft, um mich in dieser Gegend niederzulassen, die ich immer besonders reizvoll fand.«

Jetzt kam mir die Erleuchtung und ich wusste, wer der Kleine war.

Aber er fuhr bereits eilig fort: »Mein Name ist Osborne Zacharias Osborne, und wie gesagt, ich besaß ein sehr gutes Geschäft in London, an der Barton Street. Zu meines Vaters Zeiten war das noch eine angenehme Gegend, doch inzwischen hat sich das – leider – geändert… sehr heruntergekommen.«

Er seufzte und schüttelte den Kopf. Dann erkundigte er sich neugierig: »Das ist doch das Haus von Mr Venables, nicht wahr? Ich nehme an, er ist ein… hm… Freund von Ihnen?«

»Nein, nicht gerade ein Freund«, gab ich mit Entschiedenheit zurück. »Ich war nur ein einziges Mal mit Freunden bei ihm zum Essen eingeladen – und heute Nachmittag habe ich ihn zum zweiten Mal besucht.«

»Ah… ich verstehe.«

Inzwischen waren wir am Tor angelangt. Ich gab ihm seine Lampe und wollte mich verabschieden. Doch Mr Osborne zögerte unentschlossen.

»Ich… eh… ich…« Plötzlich überstürzten sich seine Worte. »Ich gebe natürlich zu, dass ich widerrechtlich in den Park eingedrungen bin. Aber ich versichere Ihnen, es geschah nicht aus vulgärer Neugier. Meine Lage könnte leicht zu Irrtümern führen. Es wäre mir wirklich viel daran gelegen, Ihnen alles erklären zu dürfen.«

Ich wartete, was da kommen würde. Meine Neugier – vulgär oder nicht – war geweckt und ich wollte sie befriedigen.

Mr Osborne schwieg eine Weile, dann entschloss er sich.

»Wie gesagt, ich möchte Ihnen mein seltsames Benehmen begreiflich machen, Mr…«

»Easterbrook.«

»Mr Easterbrook. Hätten Sie ein paar Minuten Zeit? Es ist nicht weit bis zur Hauptstraße und bei der Haltestelle befindet sich ein kleiner, ganz respektabler Kaffeeausschank. Würden Sie mir gestatten, Sie zu einer Tasse einzuladen? Mein Autobus ist erst in zwanzig Minuten fällig.«

Ich nahm die Einladung an und wir gingen zusammen weiter. Mr Osborne, der seine Achtbarkeit wiederhergestellt fühlte, plauderte leichthin über die Vorzüge von Bournemouth, sein angenehmes Klima und die netten Leute, die dort wohnten.

Die Haltestelle befand sich gleich an der Einmündung zur Hauptstraße und in dem kleinen Lokal saß nur ein junges Pärchen. Mr Osborne bestellte Kaffee und Biskuits.

Dann lehnte er sich vor und entlastete sein Gemüt.

»Das Ganze hat sich aus einem Fall ergeben, von dem Sie vielleicht gehört haben… obschon es keine große Angelegenheit mit Schlagzeilen in den Zeitungen war. Es betraf den katholischen Priester des Distrikts, in dem meine Apotheke liegt… besser gesagt, lag. Er wurde eines Abends verfolgt und getötet. Sehr traurige Sache! Ein polizeilicher Aufruf ersuchte alle, die diesen Pater Gorman an dem betreffenden Abend gesehen hatten, sich zu melden. Nun, ich hatte zufällig eine Weile vor meiner Tür gestanden und den Priester auf der anderen Straßenseite bemerkt. Gleich nach ihm kam ein anderer Mann, der so auffällig aussah, dass er meine Aufmerksamkeit erregte. Damals natürlich dachte ich nicht weiter darüber nach, aber ich bin ein Mann mit einer scharfen Beobachtungsgabe, Mr Easterbrook, und ich vergesse nicht so leicht ein Gesicht, das ich einmal gesehen habe. Nun, ich erzählte also meine Geschichte der Polizei – man dankte mir –, und das war alles.

Ein paar Tage nach diesem Vorfall besuchte ich ein Fest hier in Much Deeping und was soll ich Ihnen sagen: Der gleiche Mensch begegnet mir wieder! Zuerst hielt ich es für unmöglich, denn er saß in einem Rollstuhl. Ich erkundigte mich nach ihm und erfuhr, dass er ein reicher Hausbesitzer aus dieser Gegend ist und Venables heißt. Nachdem ich mir die Sache zwei oder drei Tage überlegt hatte, schrieb ich dem Polizeibeamten, dem ich bereits meine erste Beobachtung erzählt hatte. Er kam persönlich zu mir nach Bournemouth – Inspektor Lejeune ist sein Name. Aber er erklärte, ich müsse mich zweifellos geirrt haben, denn Mr Venables sei seit Jahren invalide und könne sich ohne Rollstuhl nicht bewegen.«

Mr Osborne hielt abrupt inne. Ich rührte in meiner Tasse und nippte vorsichtig an der hellen Brühe, die sich Kaffee nannte. Mein Begleiter tat vorsichtig drei Stück Zucker in seinen Kaffee.

»Nun, damit scheint die Sache ja ihr Ende gefunden zu haben«, meinte ich bedächtig.

»J-a«, gab er zögernd zu. Dann lehnte er sich wieder vor und seine Augen glitzerten fanatisch hinter den Brillengläsern.

»Aber ich konnte mich nicht damit zufriedengeben, Mr Easterbrook. Ich bin ein eigensinniger Mensch und was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Nach einigen Tagen des Nachdenkens kam ich zu der festen Überzeugung, dass ich dennoch Recht haben musste! Der Mann, den ich gesehen hatte, war Venables und kein anderer.« Er hob die Hand, wie um einen Einwand von mir abzuwehren.

»Oh, ich weiß, was Sie sagen wollen. Es war etwas neblig an jenem Abend und der Mann befand sich auf der anderen Straßenseite. Aber einen Punkt hat die Polizei nicht in Betracht gezogen – einen absolut ausschlaggebenden, nämlich den, dass ich ein wirkliches Studium daraus gemacht habe, jeden Menschen ganz genau zu betrachten – und wiederzuerkennen. Es handelt sich dabei nicht nur um das allgemeine Aussehen, um die große Hakennase und den auffallenden Adamsapfel. Nein, es war die ganze Haltung des Kopfes, das leichte Neigen des Nackens, die Form der Schultern. Ich wusste einfach, dass ich mich nicht geirrt haben konnte. Gut, die Polizei erklärte es als ausgeschlossen… doch war dem wirklich so? Das begann ich mich zu fragen.«

»Aber Mr Venables kann nicht einmal stehen, geschweige denn gehen«, wandte ich ein.

Er unterbrach mich, indem er seinen Zeigefinger eifrig schwenkte.

»Ja, ja, das weiß ich alles. Aber ich habe meine Erfahrungen mit Ärzten gemacht. Ich will nicht behaupten, sie seien alle Schwindler – einen Fall von Simulation würden sie bestimmt erkennen. Aber es gibt gewisse Dinge… Dinge, die ein Apotheker leichter zu durchschauen vermag als ein Arzt. Gewisse Drogen zum Beispiel, oder ganz harmlos scheinende Mittelchen. Damit kann Fieber herbeigeführt werden, Hautausschläge oder Juckreiz – eine trockene Kehle – erhöhte Absonderungen…«

»Aber sicherlich kein Muskelschwund«, gab ich zu bedenken.

»Richtig, richtig! Doch wer sagt uns denn, dass Mr Venables wirklich an Muskelschwund leidet?«

»Nun – sein Arzt doch, sollte ich meinen.«

»Auch wieder richtig. Aber ich habe über diesen Punkt einige Informationen eingeholt. Sein Arzt praktiziert in London, in der Harley Street. Bei dem hiesigen Arzt war er nur einmal, gleich nach seiner Ankunft. Dieser Arzt hat sich inzwischen zurückgezogen und lebt im Ausland. Der neue Arzt aber hat Mr Venables nie behandelt. Dieser sucht nur einmal im Monat den Spezialisten in der Harley Street auf.«

»Das scheint mir noch immer kein Grund…«

»Nur Geduld! Sie wissen ja nicht, was ich weiß. Ein einfaches Beispiel wird es Ihnen erklären. Mrs H. bezieht ein Jahr lang Krankengeld. Aber sie bezieht es in drei verschiedenen Ortschaften – nur nennt sie sich das eine Mal Mrs C. das andere Mal Mrs T. Die Damen C. und T haben ihr für die Untersuchung ihre Ausweise zur Verfügung gestellt und auf diese Weise bezieht sie das dreifache Geld.«

»Ich verstehe den Zusammenhang nicht.«

»Nehmen wir einmal an…«, der Zeigefinger bewegte sich jetzt in höchster Erregung, »nehmen wir also an, unser Mr Venables habe ein Abkommen getroffen mit einem armen Teufel, der wirklich an Kinderlähmung leidet. Dieser Mann mag vielleicht sogar eine gewisse Ähnlichkeit ganz allgemeiner Art mit ihm aufweisen. Gut. Dieser tatsächlich Gelähmte begibt sich als Mr V. zum Spezialisten und wird von diesem untersucht… und registriert. Dann kauft Mr V. ein Haus auf dem Lande. Der dortige Arzt ist im Begriff, sich vom Beruf zurückzuziehen. Wieder wird das gleiche Manöver durchgeführt: Der wirklich Kranke wird untersucht und erhält sein Attest. Mr Venables besitzt nun alles, was er braucht: Er leidet an Kinderlähmung, an Muskelschwund. Man sieht ihn nur noch in einem Rollstuhl… und so weiter und so weiter.«

»Aber seine Dienstboten müssten doch darüber Bescheid wissen, sein Kammerdiener in erster Linie.«

»Vielleicht handelt es sich um eine ganze Bande und der Kammerdiener gehört ebenfalls dazu. Was könnte einfacher sein?«

»Aber weshalb? Welchen Zweck sollte das Ganze haben?«

»Ah – das ist eine andere Frage!«, rief Mr Osborne. »Ich will Ihnen meine Theorie nicht darlegen – Sie würden wahrscheinlich darüber lachen. Doch eines ist sicher: Mr Venables besitzt ein wundervolles, unerschütterliches Alibi, wann immer er es braucht. Er kann überall auftauchen, wo auch immer es ihm beliebt. An jenem Abend zum Beispiel in Paddington? Ausgeschlossen, der Ärmste ist ja ein Krüppel.« Mr Osborne warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich muss mich beeilen, mein Bus kommt gleich. Um nun auf mein Eindringen in seinen Park zurückzukommen – ich wollte dort ein wenig herumspionieren, sehen, ob sich ein Verdachtsmoment zeigt. Nicht sehr anständig, werden Sie sagen und Sie haben Recht damit. Aber wenn es sich darum handelt, der Wahrheit auf die Spur zu kommen… einen Verbrecher zu entlarven – nun, das ändert wohl die Sache. Wenn ich zum Beispiel Mr Venables bei einem gemütlichen Spaziergang erwischt hätte oder auch nur beim Herumgehen in seinem Zimmer – ah, das hätte vollauf genügt! Sicher wahrt er im Haus nicht immer seine gewohnte Vorsicht… er nimmt ja nicht an, dass jemand hinter ihm her ist.«

»Weshalb sind Sie so fest davon überzeugt, dass der Mann, den Sie an jenem Abend sahen, wirklich Mr Venables war?«

»Ich weiß es!«

Er schoss in die Höhe.

»Ich höre meinen Bus. Es war mir eine große Freude, Sie kennen zu lernen, Mr Easterbrook, und mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, dass ich Ihnen erzählen durfte, was mich in den Park von Mr Venables trieb. Zwar wird Ihnen das alles unsinnig vorkommen…«

»Das möchte ich nun nicht gerade behaupten«, gab ich zurück. »Aber Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was Sie eigentlich hinter diesem Mann vermuten?«

Mr Osborne sah etwas dumm und verwirrt aus.

»Sie werden mich auslachen. Jedermann spricht vom Reichtum dieses Mr Venables… aber niemand scheint zu wissen, woher dieser stammt. Ich will Ihnen sagen, was ich davon halte. Ich glaube, er ist ein ganz großer Verbrecher – einer von denen, über die man immer wieder liest. Er plant die Sachen und hat seine Leute, die sie ausführen. Das mag Ihnen unglaublich vorkommen, aber ich…«

Der Autobus hielt und Mr Osborne rannte darauf zu.

Sehr nachdenklich machte ich mich auf den Heimweg. Mr Osbornes Theorie mochte unglaublich erscheinen – aber vielleicht steckte doch etwas dahinter!