12

 

»Welche Erlösung!«, seufzte Mrs Oliver. »Zu denken, dass alles vorbei… und nichts geschehen ist.«

Wir fühlten uns wirklich alle erleichtert. Rhodas Fest war vorübergegangen wie alle derartigen Festlichkeiten: große Angst und Sorge wegen des Wetters, das sich am Vormittag sehr launisch gezeigt hatte – lange Überlegungen, ob man Stühle im Freien aufstellen oder alles in die große Scheune und das Hauptzelt verlegen sollte – leidenschaftliche Diskussionen über den Teeausschank und die einzelnen Vorführungen – periodische Ausbrüche von Rhodas prächtigen, aber ungezogenen Hunden, die eigentlich im Haus eingesperrt bleiben sollten, weil man nicht wusste, wie sie sich den Gästen gegenüber benehmen würden.

Schließlich war es Abend geworden. Die ländlichen Tänze in der Scheune hatten noch kein Ende gefunden. Ein großes Feuerwerk stand auf dem Programm, doch die geplagten Veranstalter hatten sich ins Haus zurückgezogen und erholten sich bei einem kalten Essen in der Küche. Jeder schwatzte drauflos und kümmerte sich wenig darum, was der andere sagte. Es war alles sehr gemütlich und ungezwungen. Die endlich erlösten Hunde zerknackten Knochen unter dem Tisch.

Die Gesellschaft bestand aus meiner Kusine Rhoda und ihrem Mann, Colonel Despard, Miss Macalister, der schottischen Erzieherin der Kinder, ferner einer jungen rothaarigen Dame, die sehr passend als Ginger angeredet wurde, aus Mrs Oliver und Rev. Caleb Dane Calthrop mit Frau. Der Reverend war ein reizender älterer Gelehrter, der zu jeder Bemerkung eine Analogie bei den Griechen und Römern fand. Aber er erwartete nie, dass man darauf einging.

»Wie Horaz sagt…«, bemerkte er und blickte wohlwollend in die Runde.

Die übliche Pause entstand und dann meinte Ginger nachdenklich: »Ich bin überzeugt, Mrs Horsefall hat beim Auslosen des Champagners geschummelt. Ihr Neffe hat ihn gewonnen.«

Mrs Dane Calthrop, eine verwirrende Frau mit klaren Augen, sah Mrs Oliver durchdringend an. Ganz unerwartet fragte sie: »Sie befürchten, dass auf diesem Fest etwas geschehen würde – was?«

»Nun, irgendein Mord oder dergleichen.«

Mrs Calthrop schien sehr interessiert.

»Weshalb gerade ein Mord?«

»Das weiß ich wirklich nicht – aber beim letzten Fest, an dem ich teilnahm, passierte das.«

»Ich verstehe. Und das hat Sie natürlich außer Fassung gebracht?«

»Ganz entschieden.«

Der Reverend ging von Latein zu Griechisch über.

Nach einer Pause äußerte Miss Macalister gewisse Zweifel über die korrekte Durchführung der Verlosung einer lebendigen Gans.

»Es war sehr nett von dem alten Lugg von ›King’s Arms‹, uns zwölf Dutzend Flaschen Bier zu spenden«, erklärte Colonel Despard.

»Kings Arms?«, fragte ich scharf.

»Das bekannteste Lokal hier herum, mein Lieber«, gab Rhoda Auskunft.

»Gibt es nicht noch ein anderes – ›Das fahle Pferd‹, wenn ich mich recht erinnere?«

Hier löste das Wort keine Aufregung aus, wie ich fast erwartet hatte. Die Gesichter wandten sich mir gleichgültig lächelnd zu.

›»Das fahle Pferd‹ ist kein Lokal, Mark«, ließ Rhoda sich wieder vernehmen. »Wenigstens nicht mehr.«

»Es war einmal eine alte Wirtschaft«, mischte Despard sich ein. »Dürfte bereits aus dem 16. Jahrhundert stammen. Aber jetzt ist es ein gewöhnliches Wohnhaus. Nach meinem Empfinden hätte man den Namen ändern sollen.«

»O nein!«, rief Ginger aus. »Es wäre doch langweilig gewesen, es ›Zur schönen Aussicht‹ oder ›Am Wegrand‹ zu taufen. Ich finde ›Das fahle Pferd‹ viel origineller und außerdem gab es doch so ein schönes Schild dafür. Es hängt jetzt eingerahmt in der Halle.«

»Wem gehört das Haus?«, erkundigte ich mich.

»Thyrza Grey«, gab Rhoda Auskunft. »Du hast sie heute beim Fest gesehen – die große Frau mit kurzem, grauem Haar.«

»Glaubt fest an Okkultismus«, lächelte Despard. »Trance, Spiritismus, Magie – nicht direkt schwarze Messe, aber all dieses andere Zeug.«

Ginger brach plötzlich in Lachen aus.

»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Aber ich stelle mir soeben Miss Grey als königliche Mätresse – als Madame de Montespan zum Beispiel – auf einem schwarzen Samtaltar vor.«

»Ginger!«, rief Rhoda. »Solche Dinge dürfen Sie doch nicht vor unserem Reverend sagen.«

»Entschuldigen Sie, Mr Dane Calthrop.«

»Das macht gar nichts«, lächelte der Reverend. »Die alten Sophisten würden sagen…« Und die Fortsetzung folgte auf Griechisch.

Nach einer respektvollen Pause wagte ich erneut einen Vorstoß. »Rhoda, du hast mir immer noch nicht gesagt, wer jetzt in diesem ›Fahlen Pferd‹ wohnt. Doch sicher nicht Miss Grey allein?«

»Oh, nur noch eine Freundin von ihr, Sybil Stamfordis. Sie spielt das Medium, soviel ich weiß. Du hast sie sicher gesehen – trägt immer eine Menge Perlenschnüre und Skarabäen. Manchmal erscheint sie auch im Sari. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, weshalb, denn sie ist nie in Indien gewesen.«

»Und dann ist da auch noch Bella«, fügte Mrs Calthrop hinzu. »Sie ist Köchin – und außerdem eine Hexe. Sie stammt aus dem Dorf Little Dunning. Dort war sie sehr bekannt für ihre Kunststücke; es liegt in ihrer Familie: Auch ihre Mutter war eine Hexe.«

Sie sprach, als ob es sich um selbstverständliche, alltägliche Tatsachen handelte.

»Das klingt ja so, als glaubten Sie selbst an Hexerei, Mrs Dane Calthrop«, meinte ich erstaunt.

»Aber natürlich tue ich das. Darin liegt gar nichts Geheimnisvolles oder Mysteriöses. Das sind einfach Tatsachen. Eine bloße Familieneigentümlichkeit, die weitervererbt wird. Den Kindern im Dorf befiehlt man, ihre Katze nicht zu ärgern, und von Zeit zu Zeit bringt man ihr einen Laib Käse oder selbst gemachte Marmelade.«

Ich sah sie zweifelnd an, doch sie schien es ganz ernst zu meinen.

»Sybil trat heute als Wahrsagerin auf«, erklärte Rhoda. »Sie war im grünen Zelt. Ich glaube, diese Kunst versteht sie.«

»Oh, mir hat sie lauter schöne Dinge geweissagt«, lachte Ginger. »Viel Geld… ein dunkler Fremdling aus Übersee… zwei Gatten und sechs Kinder. Wirklich sehr großzügig – «

»Ich sah das Curtiss-Mädchen kichernd aus dem Zelt kommen«, bemerkte Rhoda. »Und nachher war sie sehr schnippisch zu ihrem Freund. Er brauche sich nicht einzubilden, er sei der Einzige, den sie haben könnte.«

»Armer Tom«, meinte ihr Mann. »Hat er das auf sich sitzen lassen?«

»Keine Spur. ›Ich will dir lieber nicht erzählen, was sie mir versprochen hat‹, gab er zurück. ›Das würde dir vielleicht gar nicht gefallen, meine Liebe.‹«

»Gut. Er weiß sich zu wehren.«

»Die alte Mrs Parker war recht zornig«, lachte Ginger. ›»Das ist alles Unsinn‹, erklärte sie. ›Glaubt doch kein Wort davon, ihr beide.‹ Aber da fuhr Mrs Cripps auf und rief:

›Lizzie, du weißt so gut wie ich, dass Miss Stamfordis Dinge sieht, die anderen verborgen bleiben. Und Miss Grey weiß auf den Tag genau, wenn jemand sterben muss. Nie irrt sie sich. Manchmal bekomme ich direkt Angst.‹ Darauf gab Mrs Parker zurück: ›Oh, Tod ist etwas ganz anderes. Das ist eine Gabe, die jemand besitzen kann‹, und Mrs Cripps schloss das Gespräch: ›Jedenfalls möchte ich um alles in der Welt keine von diesen drei Frauen kränken oder ärgern.‹«

»Das klingt alles sehr aufregend«, meinte Mrs Oliver nachdenklich. »Ich möchte diese Frauen gern kennen lernen.«

»Wir fahren morgen mit Ihnen hinüber«, versprach Colonel Despard. »Das alte Wirtshaus ist wirklich sehenswert. Und sie haben es fertiggebracht, es behaglich einzurichten, ohne seinen Charakter zu verderben.«

»Ich werde Thyrza morgen Früh anrufen«, stimmte Rhoda zu.

Ich muss gestehen, dass ich etwas verwirrt zu Bett ging.

»Das fahle Pferd«, das in meinen Gedanken wie etwas Düsteres, aber Unwirkliches herumgespukt hatte, erwies sich auf einmal als Tatsache.

Immerhin bestand die Möglichkeit, dass es anderswo noch ein zweites »Fahles Pferd« gab…

Ich dachte drüber nach, bis ich einschlief.