35

 

Am nächsten Vormittag versuchte ich Lejeune zu erreichen, aber er war nicht im Büro. Dagegen gelang es mir nach einigen Schwierigkeiten, Jim Corrigan an den Apparat zu bekommen. Er versuchte mich zu beruhigen.

»Vergessen Sie nicht, Mark, dass Entzündungen der Bronchien zu dieser Jahreszeit eine völlig normale Sache sind; es braucht gar nichts…«

»Ich weiß«, unterbrach ich ihn scharf. »Und es gibt auch verschiedene Leute auf einer gewissen Liste, die an einer solchen ›normalen‹ Entzündung starben. Reden Sie mir doch nichts ein, Jim!«

»Ich verstehe Ihre Gefühle – ja, aber was können wir tun?«

»Es geht ihr schlechter, nicht wahr?«

»Nun… ja…«

»Also muss etwas unternommen werden!«

»Was denn zum Beispiel?«

»Ich habe da zwei verschiedene Ideen. Entweder fahre ich zu Thyrza Grey und nehme sie so lange in die Mangel, bis sie die Verzauberung – oder was es nun sein mag – aufhebt und rückgängig macht…«

»Ja, das wäre vielleicht eine Möglichkeit«, meinte Corrigan zögernd.

»… oder ich begebe mich direkt zu Venables.«

»Venables lassen Sie aus dem Spiel. Was sollte denn der Mann damit zu tun haben? Er ist doch ein Krüppel.«

»Sind Sie dessen so sicher? Ich traf zufällig in Much Deeping diesen kleinen Apotheker Osborne und der sah die Sache von einem ganz anderen Standpunkt aus.«

Ich gab ihm eine kurze Schilderung von Osbornes Ansicht.

»Der Bursche hat einen Rappel«, erklärte Corrigan kurzerhand. »Er gehört zu der Kategorie von Menschen, die immer Recht behalten wollen.«

»Zugegeben. Aber Corrigan, seien Sie ehrlich: Es könnte doch so sein, wie er sagt, oder?«

Nach längerem Überlegen meinte er zögernd: »Ja, ich muss zugeben, dass es nicht ganz ausgeschlossen wäre. Aber dann müssten mehrere Personen mit im Bunde sein… und schwer für ihr Schweigen bezahlt werden.«

»Nun, was weiter? Der Kerl kann sich im Geld wälzen. Hat Lejeune herausgefunden, wie er zu seinem Reichtum gekommen ist?«

»Nein, nicht genau. Irgendetwas stimmt wirklich nicht mit diesem Menschen – seine Vergangenheit scheint nicht ganz einwandfrei zu sein, aber bis wir das aufgeklärt haben… Soviel ich weiß, schnüffelt auch das Finanzamt bei ihm herum. Aber er ist schlau. Was sollte er denn Ihrer Ansicht nach sein? Der leitende Kopf?«

»Genau das. Ich halte ihn für den Mann, der das Ganze plant.«

»Hm – am nötigen Verstand würde es ihm jedenfalls nicht fehlen. Aber er hätte sich bestimmt nicht dazu hergegeben, den armen Pater Gorman selbst um die Ecke zu bringen.«

»Weshalb nicht, wenn es sich um einen Notfall handelte? Der Pater musste wahrscheinlich zum Schweigen gebracht werden, ehe er weitererzählen konnte, was diese Frau ihm auf dem Sterbebett anvertraut hatte.«

»Mark, Sie verrennen sich da in eine Sache…«

»Lassen wir es vorläufig dabei bewenden, Jim. Ich habe keine Zeit mehr – muss zu einer Verabredung in eine Espressobar.«

»Nanu, was…«

Ich legte den Hörer auf und warf einen Blick auf die Uhr. Ich war bereits an der Tür, als mein Telefon wieder klingelte.

Zögernd blieb ich stehen. Sollte ich mich von einem unwichtigen Anruf abhalten lassen? Nein!, beschloss ich, und wandte mich wieder zum Gehen.

Aber das Klingeln war so durchdringend, das es mir keine Ruhe ließ. Vielleicht war es ein Anruf aus dem Krankenhaus… Ginger…

Schon war ich am Apparat.

»Hallo?«

»Sind Sie das, Mark?«

»Ja, hier Easterbrook. Wer ist da?«

»Ich, natürlich«, erklang die Stimme vorwurfsvoll. »Hören Sie zu, Mark, ich muss Ihnen etwas Wichtiges erzählen.«

»Oh – Mrs Oliver! Es tut mir leid, ich bin in großer Eile… werde Sie später wieder anrufen.«

»Das werden Sie nicht tun, sondern mir jetzt zuhören«, erklärte die alte Dame höchst energisch. »Es ist wirklich wichtig.«

»Dann muss ich Sie bitten, sich zu beeilen. Ich habe eine Verabredung.«

»Pah… Verabredung. Da kommen Sie eben etwas verspätet, das kann jedem Menschen passieren.«

»Nein, wirklich, ich…«

»Machen Sie keine Faxen – es ist wichtig, ich weiß es ganz bestimmt… kann gar nicht anders sein.«

Ich versuchte meine Ungeduld zu dämpfen. »Nun, so reden Sie schon.«

»Meine Milly hat eine schwere Mandelentzündung; ich musste sie aufs Land schicken zu ihrer Schwester und…«

Ich knirschte mit den Zähnen.

»Das tut mir sehr leid, aber ich…«

»Hören Sie zu. Ich habe ja noch gar nicht begonnen. Wo war ich denn stehen geblieben? Ah ja. Also Milly musste aufs Land und ich rief die Vermittlungsstelle an, die mir immer Aushilfsmädchen beschafft – Regency heißt sie, so ein dummer Name, klingt wie im Kino…«

»Mrs Oliver, ich muss…«

»Und wissen Sie, wen man mir schickte?«

»Keine Ahnung. Es interessiert mich…«

»Eine Frau namens Edith Binns – komisch, nicht wahr? Sie kennen Sie nämlich.«

»Nein, ich habe den Namen noch nie gehört. Aber ich…«

»Sie kennen sie und haben sie sogar erst vor kurzem gesehen, denn sie war jahrelang bei Ihrer Patin angestellt – bei Lady Hesketh-Dubois.«

»Oh – bei Tante Min!«

»Ja. Diese Edith Binns erzählte mir, Sie hätten vor Kurzem dort ein paar Bilder abgeholt, die…«

»Nun, das ist sehr nett, und ich nehme an, Sie sind froh, eine solche Perle gefunden zu haben. Ich weiß, dass meine Patin äußerst zufrieden mit ihrer Haushälterin war. Nun muss ich aber wirklich…«

»So warten Sie doch! Ich bin ja noch gar nicht bei der Hauptsache. Also diese Edith Binns saß da und erzählte mir eine Menge über ihre frühere Herrin, über ihre letzte Krankheit und all das, weil solche Frauen doch immer gern über Krankheiten sprechen – und da sagte sie es!«

»Was sagte sie?« Ich konnte meine Ungeduld kaum mehr beherrschen.

»Eben das, was mich aufhorchen ließ. Sie schwatzte lauter Zeug wie, ›ach, die gute arme Dame, dass sie so leiden musste. Dieses Geschwür in ihrem Kopf, wie man sagte – und dabei war sie vorher immer ganz gesund. Sie tat einem so leid, dort im Krankenhaus. Und zu sehen, wie ihr die schönen grauen Haare in ganzen Büscheln ausfielen!‹ – Und da, Mark, da dachte ich an meine Freundin Mary Delafontaine. Auch ihr Haar fiel aus. Gleichzeitig kam mir in den Sinn, was Sie mir von einem jungen Mädchen in Chelsea erzählt hatten… das Mädchen, das mit einem anderen in Streit geriet, und wie dieses ihm ganze Büschel von Haaren ausriss. Mark! Haare fallen nicht so leicht aus. Versuchen Sie es nur einmal selbst – zupfen Sie sich ein paar Haare mit den Wurzeln aus und Sie werden es sehen! Mark, es ist unnatürlich, dass all diesen Leuten das Gleiche geschah… Haarausfall… büschelweise! Da muss es sich um eine ganz besondere, neue Krankheit handeln – und es muss etwas zu bedeuten haben!«

Meine Hand krampfte sich um den Hörer, mein Kopf wirbelte. Halb vergessene Brocken von Gesprächen tauchten in meiner Erinnerung auf und verbanden sich miteinander. Rhoda mit ihrem Hund auf dem Rasen – ein Artikel, den ich in einer medizinischen Zeitschrift gelesen hatte… o ja, natürlich, so musste es sein!

Auf einmal wurde mir bewusst, dass Mrs Oliver immer noch weiterschwatzte.

»Mrs Oliver – Sie sind meine Rettung! Ich kann Ihnen nicht genug danken!«

Hastig legte ich den Hörer auf – nur um ihn gleich darauf wieder hochzunehmen. Ich wählte eine Nummer und hatte das Glück, diesmal direkt mit Inspektor Lejeune verbunden zu werden.

»Hören Sie zu, Inspektor«, fragte ich drängend, »fallen bei Ginger die Haare büschelweise aus?«

Er schien ziemlich erstaunt zu sein. »Ja, es ist tatsächlich so; wahrscheinlich eine Folge des Fiebers.«

»Quatsch – Fieber! Wissen Sie, worin Gingers Krankheit besteht? Thalliumvergiftung! Alle diese Leute starben an Thalliumvergiftung. Gebe Gott, dass wir noch rechtzeitig was unternehmen können!«