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Mr Durrance’ Laden lag etwa in der Mitte des Dorfs an einer Straßenecke. Im Schaufenster waren Fotos ausgestellt: mehrere Hochzeiten, ein nacktes Baby auf einem Teppich, zwei bärtige junge Männer mit ihren Freundinnen. Keins der Bilder war besonders gut, einige zeigten erste Spuren des Alters.
Es gab eine große Auswahl an Postkarten, Geburtstagskarten und wohl geordnete Glückwunschkarten für die verschiedensten Gelegenheiten, ein paar Taschenbücher, ziemlich billige Brieftaschen, eine Auswahl von Briefpapier und Umschlägen mit Blumenmustern und Kästen mit Briefkarten und Notizblöcken.
Tuppence schlenderte im Laden umher und nahm den einen oder anderen Gegenstand in die Hand, während sie auf das Ende eines Gesprächs wartete, in dem es um die mangelhaften Leistungen einer bestimmten Kamera ging, über die Rat eingeholt wurde.
Eine ältere Frau mit grauen Haaren und glanzlosen Augen nahm sich der leichter erfüllbaren Käuferwünsche an. Ein ziemlich großer junger Mann mit langem blondem Haar und beginnendem Bart schien der Chefverkäufer zu sein. Er kam hinter der Theke hervor und sah Tuppence fragend an. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ja«, sagte Tuppence. »Eigentlich wollte ich Sie nach Alben fragen, nach Fotoalben.«
»Wir haben welche, aber die Auswahl ist leider nicht so groß. Sie sind nicht mehr so gefragt. Die meisten Leute machen heute Dias.«
»Ja, ich verstehe«, murmelte Tuppence, »aber ich sammle alte Fotoalben. Solche.«
Wie durch Zauberei hielt sie plötzlich das alte Album in der Hand, das Mrs Griffin ihr geschenkt hatte.
»Oh, das muss sehr alt sein«, sagte Mr Durrance. »Ich schätze, mindestens fünfzig Jahre. Damals hatten alle Leute solche Alben.«
»Ja, und auch Geburtstagsbücher.«
»Geburtstagsbücher – daran erinnere ich mich noch. Meine Großmutter hatte eines. Alle ihre Bekannten mussten sich eintragen. Wir führen übrigens Geburtstagskarten, obwohl die gar nicht mehr so viel gekauft werden. Jetzt müssen es Karten zum Valentinstag sein und natürlich in allen Variationen zu Weihnachten.«
»Ich wusste nicht, ob Sie noch alte Fotoalben haben – wie sie heute keiner mehr kauft. Mich interessieren sie, weil ich sie sammle. Ich möchte möglichst viele verschiedene zusammenbekommen.«
»Nun ja, heute sammelt jeder etwas. Es ist kaum zu glauben, was alles gesammelt wird. Ich fürchte nur, dass ich kein so altes Album habe wie das Ihre. Ich will gern nachsehen.«
Mr Durrance trat hinter die Theke und zog eine große Schublade auf.
»Hier liegt eine Menge altes Zeug«, sagte er, »das ich schon immer mal durchsortieren wollte. Ich bin nicht sicher, was sich davon verkaufen lässt. Hochzeitsfotos in Mengen. Doch Hochzeiten sind leider etwas Aktuelles. Später kommt niemand mehr, um sich Fotos von früheren Hochzeiten anzusehen.«
»Erscheint denn nie jemand bei Ihnen und sagt zum Beispiel: ›Meine Großmutter hat hier geheiratet. Kann es sein, dass Sie noch Bilder von der Hochzeit haben?‹«
»Das hat mich, glaube ich, noch nie jemand gefragt«, sagte Durrance. »Aber man kann nie wissen. Die Leute haben die merkwürdigsten Wünsche. Manchmal kommt jemand und erkundigt sich, ob wir ein Negativ von einem Babyfoto aufgehoben haben. Sie wissen ja, wie Mütter sind. Sie fragen nach Babybildern ihrer Kinder. Und was sind das oft für schreckliche Fotos! Manchmal ist sogar die Polizei schon bei uns aufgetaucht. Wissen Sie, um jemand zu identifizieren, der hier als Junge gelebt hat; sie wollen wissen, wie er aussieht – oder vielmehr, wie er ausgesehen hat und ob er dem gleicht, den sie erwischt haben oder nach dem sie wegen Mordes oder Betrugs suchen. Ich muss sagen, dass so was das Geschäft gelegentlich ein bisschen in Schwung bringt.« Mr Durrance lächelte fröhlich.
»Oh, Sie scheinen sich für Verbrechen ja sehr zu interessieren!«
»Ach, wissen Sie, man liest doch jeden Tag davon. Warum etwa ein bestimmter Mann vor sechs Monaten seine Frau getötet hat. Das ist doch interessant. Da gibt es immer Leute, die beschwören, dass sie noch lebt. Andere wieder behaupten, er hätte sie irgendwo vergraben und sie wäre noch nicht gefunden worden. Stellen Sie sich mal vor, wie wichtig ein Foto dieses Mannes wäre!«
»Ja«, sagte Tuppence.
Obwohl sie sich gut mit Mr Durrance verstand, hatte sie das Gefühl, dass sie nicht viel Nützliches erreichen würde.
»Sie haben nicht zufällig noch alte Fotos von einer jungen Frau, die – soviel ich weiß – Mary Jordan hieß? Es ist schon sehr lange her, fast sechzig Jahre, glaube ich. Sie ist hier gestorben.«
»Das ist lange vor meiner Zeit«, antwortete Mr Durrance. »Mein Vater hat sehr viel aufgehoben. Wissen Sie, er war ein richtiger Sammler. Er konnte einfach nichts wegwerfen. Schade, er hätte es bestimmt gewusst oder sich erinnert… Mary Jordan – irgendwie kommt mir der Name bekannt vor. Ging es nicht um die Marine und ein U-Boot? Und dann wurde behauptet, sie wäre eine Spionin, nicht wahr? Sie war eine halbe Ausländerin. Hatte eine russische oder deutsche Mutter – eine japanische wäre auch nicht ausgeschlossen.«
»Ja, das ist sie. Ich dachte nur, dass Sie vielleicht noch Bilder von ihr hätten.«
»Ich glaube kaum. Wenn ich später etwas mehr Zeit habe, werde ich gern nachsehen und Ihnen dann Bescheid geben, ob sich was findet. Sind Sie etwa Schriftstellerin?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Mein Beruf ist es nicht«, sagte Tuppence, »aber ich wollte einen kleinen Band veröffentlichen. Wissen Sie, ein Rückblick auf die Zeit von vor hundert Jahren bis heute. Sie verstehen sicher: seltsame Ereignisse, die sich abgespielt haben, zusammen mit Verbrechen und Abenteuern. Natürlich mit alten Fotografien. Das interessiert die Leute und für so ein Buch wären sie hervorragende Illustrationen.«
»Ich werde mir jede Mühe geben, Ihnen zu helfen. Das muss eine interessante Beschäftigung für Sie sein. Eine interessante Arbeit meine ich.«
»Es gab hier eine Familie Parkinson«, fuhr Tuppence fort. »Sie haben früher einmal in unserem Haus gewohnt.«
»Ach, dann gehört Ihnen das Haus oben auf dem Hügel? Lorbeerhaus oder Katmandu – ich weiß nicht mehr, welches der augenblickliche Name ist. Hat es nicht auch mal Schwalbennest geheißen? Keine Ahnung, wieso.«
»Vermutlich, weil so viele Schwalben unter dem Dach ihr Nest gebaut hatten. Sie sind immer noch da.«
»Schon möglich, aber als Name für ein Haus kommt mir das komisch vor.«
Tuppence, die das Gefühl hatte, mit Mr Durrance sehr zufrieden stellende Beziehungen angeknüpft zu haben – obwohl sie sich keine großen Hoffnungen auf Ergebnisse machte –, kaufte ein paar Postkarten und einen mit Blumen verzierten Notizblock, verabschiedete sich und kehrte nachhause zurück. Sie ging die Auffahrt hinauf und bog auf den Pfad ab, der um das Haus führte, um sich noch einmal Ka-Ka anzusehen. Plötzlich blieb sie abrupt stehen. Es sah aus, als läge ein Bündel Lumpen vor der Glashaustür. Hatte sie sie etwa aus Mathildes Bauch geholt und dann vergessen, fragte sie sich.
Sie beschleunigte ihre Schritte und rannte nun fast. Als sie die Tür erreichte, blieb sie wie versteinert stehen. Es war kein Bündel alter Kleider. Die Kleider waren zwar alt, aber auch der Mann, der sie trug. Tuppence beugte sich zu ihm hinunter, richtete sich wieder auf und hielt sich mit einer Hand an der Tür fest.
»Isaac!«, flüsterte sie. »Isaac. Armer, alter Isaac! Ich glaube – oh, ich glaube, er ist tot!«
Jemand kam vom Haus her den Pfad entlang und Tuppence rief laut: »Albert, Albert! Es ist etwas Schreckliches passiert! Isaac, der alte Isaac… er liegt hier und er ist tot… und ich glaube – ich glaube, jemand hat ihn ermordet.«