12
»Noch vor dem Frühstück glauben, dass sechs unmögliche Dinge wahr sind – weiß der Himmel!«, sagte Tuppence, trank ihre Kaffeetasse aus und betrachtete das letzte Spiegelei, das neben zwei appetitlich aussehenden Nierchen auf einer Platte auf der Anrichte lag. »Zu frühstücken ist viel lohnender als über unglaubwürdige Dinge nachzudenken. Tommy ist derjenige, der hinter Phantomen herjagt. Ich möchte wissen, ob bei seinen Nachforschungen etwas herauskommt!«
Sie lud sich Ei und Nieren auf den Teller.
»Ach, wie schön, endlich mal richtig zu frühstücken!«
Lange Zeit hatte sie sich morgens mit einer Tasse Kaffee und Orangensaft oder einer Grapefruit begnügt. Obwohl das bei der täglichen Gewichtskontrolle sehr positiv zu Buche schlug, hatte es ihr wenig Spaß gemacht. Jetzt fand sie, dass warme Gerichte sehr anregend auf die Magensäfte wirkten. »Wahrscheinlich«, fuhr Tuppence fort, »haben die Parkinsons auch so gefrühstückt. Spiegeleier oder Rührei und Schinken und vielleicht – «, sie verlor sich in der Erinnerung an alte Romane, »ja, vielleicht auch kalte Moorhühner. Hm! Ich weiß noch, wie herrlich sich das allein schon las! Natürlich waren Kinder damals so unwichtig, dass man ihnen nur die Beine gab. Aber Geflügelbeine haben den Vorteil, dass man sie abnagen darf.« Sie hielt inne und schob den letzten Bissen Niere in den Mund.
Da drangen seltsame Geräusche durch die Tür.
»Komisch«, sagte Tuppence, »es hört sich wie ein schief gegangenes Konzert an.«
Mit einem Stück Toast in der Hand lauschte sie abermals und sah Albert fragend entgegen, der gerade eintrat.
»Was ist da los, Albert? Erzählen Sie mir nur nicht, dass die Handwerker plötzlich ein Instrument spielen können. Etwa ein Harmonium?«
»Es ist der Herr, der wegen des Flügels gekommen ist.«
»Was will er denn?«
»Er stimmt ihn. Sie hatten gesagt, ich sollte einen Klavierstimmer bestellen.«
»Donnerwetter!«, sagte Tuppence. »Das haben Sie schon gemacht? Sie sind ja großartig, Albert!«
Albert sah erfreut aus, aber auch sehr überzeugt davon, dass er in der Tat großartig war, wenn man bedachte, mit welchem Tempo er die merkwürdigen Wünsche erfüllte, die seine Herrschaft manchmal an ihn stellte.
»Er sagt, er hätte es sehr nötig«, meinte er.
»Ja, den Eindruck habe ich auch.«
Tuppence trank noch eine halbe Tasse Kaffee und ging dann ins Wohnzimmer. Ein junger Mann arbeitete am Flügel, dessen Inneres sich dem Blick offen darbot.
»Guten Morgen, Madam«, sagte er.
»Guten Morgen. Ich freue mich, dass Sie so schnell kommen konnten.«
»Ah, der hat das Stimmen auch sehr nötig.«
»Ja, ich weiß«, sagte Tuppence. »Wir sind gerade eingezogen und ein Umzug ist nicht ganz das Richtige für einen Flügel. Er ist auch lange nicht mehr gestimmt worden.«
»Das merkt man.« Der junge Mann schlug drei verschiedene Akkorde an, zwei fröhliche in Dur, einen sehr melancholischen in a-Moll. »Ein prachtvolles Stück, Madam, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
»Ja. Ein Erard.«
»Den würden Sie heute nicht mehr so leicht bekommen.«
»Er hat einige Abenteuer hinter sich«, antwortete Tuppence. »Er ist während der Bombenangriffe in London gewesen. Unser Haus wurde getroffen. Glücklicherweise waren wir nicht da. Es wurde auch nur äußerlich beschädigt.«
»Eine solide Arbeit.«
Sie plauderten freundlich weiter, dann spielte der junge Mann die ersten Takte eines Chopin-Präludiums und wechselte zur Blauen Donau über. Bald darauf verkündete er, dass er fertig sei.
»Aber warten Sie nicht zu lange«, sagte er warnend. »Ich würde ihn gern nochmal ausprobieren, ehe zu viel Zeit verstrichen ist, weil er – na, wie soll ich mich ausdrücken –, er könnte ein wenig nachgeben. Verstehen Sie, vielleicht habe ich etwas übersehen.«
Sie trennten sich mit gegenseitigen Beteuerungen über die Freude an der Musik im Allgemeinen, an der Klaviermusik im Besonderen und den höflichen Abschiedsgrüßen von Menschen, die sich über die Rolle, die die Musik in ihrem Leben spielt, völlig einig sind.
»Mit dem Haus haben Sie sicher eine Menge Arbeit«, sagte er nach einem Rundblick.
»O ja. Es stand lange leer.«
»Das stimmt. Es hat häufig den Besitzer gewechselt…«
»… und müsste viel über seine Vergangenheit erzählen können, nicht wahr? Über seine Bewohner und die merkwürdigen Dinge, die passiert sind.«
»Ach, Sie meinen sicher die bewusste Geschichte. Ich weiß nur nicht, ob es im letzten Krieg war oder in dem davor.«
»Es hatte etwas mit der Marine und mit Spionage zu tun«, sagte Tuppence hoffnungsvoll.
»Schon möglich. Es gab viel Gerede, aber ich selber weiß nichts Bestimmtes.«
»Ja, das muss lange vor Ihrer Zeit gewesen sein.« Tuppence sah den jungen Mann abschätzend an.
Als er gegangen war, setzte sie sich an den Flügel.
»Ich werde mal das Regentropfenpräludium spielen«, sagte sie. Die Erinnerung daran hatte der Klavierstimmer mit den wenigen Takten Chopin wachgerufen. Danach griff sie ein paar Akkorde und spielte die Begleitung zu einem Lied, dessen Text sie erst summte und dann leise vor sich hin murmelte.
»›Wahre Liebe, wo bist du geblieben?
Wahre Liebe, so geh doch nicht fort!
Hoch in den Bäumen singen die Vöglein,
wahre Liebe, wann kommst du zurück?‹«
»Ich glaube, ich spiele es in der falschen Tonart, aber der Flügel ist wenigstens richtig gestimmt. Ach, wie herrlich, dass ich jetzt wieder spielen kann. ›Wahre Liebe, wann kommst du zurück?‹«, murmelte sie. »Wahre Liebe«, wiederholte sie nachdenklich. »Ja. Das scheint mir ein Wink zu sein. Vielleicht sollte ich hinausgehen und mich um Wahreliebe kümmern!«
Sie zog feste Schuhe und eine Wolljacke an und ging in den Garten. Wahreliebe war nicht in ihrem früheren Heim, im Ka-Ka abgestellt, sondern im leeren Stall. Sie holte das Gespann heraus, zog es auf den grasbewachsenen Hügel hinauf, wischte es energisch mit dem mitgebrachten Staubtuch ab, um die letzten noch daran haftenden Spinnweben zu entfernen, stieg auf und versuchte Wahreliebe, so gut es ihr Alter und das schäbige Fahrzeug erlaubten, in Gang zu bringen.
»Und nun, du meine wahre Liebe«, sagte sie, »lauf bergab, aber bitte, nicht zu schnell.«
Wahreliebe hatte es nicht sehr eilig. Langsam begann Tuppence bergab zu rollen. Dann wurde der Hang plötzlich steiler, Wahreliebe gewann an Tempo. Tuppence bremste etwas zu scharf und landete am Fuße des Hügels in einem besonders kratzigen Ast der großen Araukarie.
»Au, das tut weh!«, sagte sie, während sie sich herausarbeitete.
Nachdem sie sich ein paar Erdspuren abgeklopft hatte, sah sie sich um. Sie stand vor einem Gewirr dichter Büsche, die die andere Seite des Hügels hinaufwuchsen, Rhododendronbüsche und Hortensien, die im späten Frühjahr sicher sehr schön blühen würden. Im Augenblick hielt sich die Schönheit in Grenzen; es war nur ein Dickicht. Dennoch entdeckte sie, dass früher einmal ein Pfad hindurchgeführt haben musste. Jetzt war alles überwuchert, aber man konnte die Richtung noch erkennen. Sie brach ein paar Zweige ab, zwängte sich durch die Büsche und folgte dem sich hügelaufwärts windenden Pfad. Es war klar, dass er seit Jahren nicht mehr freigeschnitten und benützt worden war.
»Ich bin gespannt, wo er endet«, murmelte Tuppence. »Ein Pfad muss ein Ziel haben.«
Der Weg machte mehrere Kurven, dann stand der Rhododendron nicht mehr so dicht, dafür tauchten Lorbeerbüsche auf – vielleicht waren sie es, die dem Haus den Namen gegeben hatten –, und der Pfad wurde steiler, schmaler und steiniger. Er endete abrupt vor vier moosbewachsenen Stufen zu einer Art Nische, die einmal von einem Eisengitter umgeben gewesen sein musste und jetzt von umgedrehten Flaschen eingefasst wurde. In der Mitte stand ein Steinsockel mit einer verwitterten steinernen Statue. Es war ein Knabe mit einem Korb auf dem Kopf. Ein Gefühl des Wiedererkennens stieg in Tuppence auf.
»Nach solchen Statuen kann man das Alter eines Gartens bestimmen«, sagte sie. »Tante Sarah hatte auch so eine Putte. Und viele Lorbeerbüsche.«
In Gedanken war sie wieder bei Tante Sarah, die sie als Kind manchmal besucht hatte. Sie hatte dort, fiel ihr jetzt ein, ein Spiel gespielt, das sie Pferde am Fluss nannte. Für Pferde am Fluss brauchte man einen Reifen. Damals war sie sechs Jahre alt gewesen. Ihr Reifen spielte die Rolle der Pferde, Schimmel mit wehenden Mähnen und Schwänzen. In Tuppence’ Fantasie war die Jagd über eine grüne Wiese gegangen, dann um ein Beet mit Pampasgras, dessen fedrige Rispen im Wind wehten, dann bergauf einen ähnlichen Pfad entlang bis zu einer solchen Nische, in der der Knabe mit dem Korb auf dem Kopf stand. Jedes Mal, wenn sie auf ihrem Schimmel ritt, hatte sie ein Geschenk mitgebracht, das sie in den Korb legte, und sich etwas gewünscht. Der Wunsch, daran erinnerte sich Tuppence, war fast immer in Erfüllung gegangen.
»Aber nur«, sagte sie jetzt und setzte sich auf die oberste Stufe, »weil ich gemogelt habe. Ich habe mir einfach etwas gewünscht, von dem ich mit ziemlicher Sicherheit wusste, dass es in Erfüllung gehen würde, und konnte mir so einbilden, der Zauber hätte gewirkt. Es war eine richtige Opfergabe für einen echten alten Gott. Dabei war es ja nur ein pausbäckiger kleiner Junge. Ach, war das herrlich, als man sich so viel ausgedacht und an so viel geglaubt hat!«
Sie seufzte, stand auf und kehrte über den Pfad zu dem kleinen Glashaus zurück.
Das Schaukelpferd sah immer noch verloren und mitgenommen aus, aber Tuppence wurde durch zwei andere Gegenstände von ihm abgelenkt – Stühle aus Porzellan, um die sich weiße Schwäne schlangen. Ein Stuhl war dunkelblau, der andere hellblau.
»So was hab ich auch schon mal gesehen!«, rief sie. »Ja, so ähnliche Dinger standen auf der Veranda meiner Tante. Wir nannten sie Oxford und Cambridge, wegen der Farben der Mannschaften bei der Ruderregatta. Sie sahen genauso aus! Oder waren es Enten? Nein, es waren auch Schwäne. Und im Sitz hatten sie ein merkwürdiges Loch, das wie ein S geformt war und in das man etwas hineinstecken konnte. Ich werde Isaac bitten, die Stühle rauszutragen und gründlich abzuwaschen. Dann können wir sie auf die Loggia stellen – obwohl ich sie lieber Veranda nenne. Wir stellen sie auf und werden unsere Freude daran haben, wenn es wärmer ist.«
Sie drehte sich um, um zur Tür zu laufen. Ihr Fuß blieb in Mathildes vorstehendem Schaukelbogen hängen.
»Oje!«, sagte Tuppence, »was habe ich jetzt angestellt?«
Sie war über den dunkelblauen Porzellanstuhl gestolpert, hatte ihn umgerissen, und er war in zwei Teile zerbrochen.
»Ach, jetzt habe ich Oxford erlegt. Wie schade! Nun müssen wir uns mit Cambridge allein begnügen. Ich weiß nicht, ob man ihn wieder kitten kann. Es wird schwierig sein.«
Sie seufzte und überlegte, was Tommy wohl gerade tat.
Tommy saß mit alten Freunden zusammen und tauschte Erinnerungen aus.
»Auf der Welt geht’s komisch zu«, sagte Oberst Atkinson. »Ich habe gehört, dass Sie und Ihre Frau Prudence – nein, Sie hatten einen Spitznamen für sie, Tuppence –, dass sie jetzt auf dem Land wohnen. In der Nähe von Hollowquay. Wie sind Sie auf diese Gegend gekommen? Aus einem bestimmten Grund?«
»Ach, wir haben das Haus ziemlich günstig kaufen können.«
»Aha. Na, das ist schon ein Glück, was? Wie heißt es denn? Sie müssen mir Ihre Adresse geben.«
»Den Namen wissen wir noch nicht. Vielleicht Zedernhaus, weil eine sehr schöne Zeder davor wächst. Eigentlich heißt es Lorbeerhaus, aber das hört sich zu viktorianisch an, finden Sie nicht auch?«
»Das Lorbeerhaus! Das Lorbeerhaus in Hollowquay! Sagen Sie mal, was haben Sie vor? Da steckt doch was dahinter?«
Tommy blickte erstaunt in das faltige Gesicht mit dem buschigen Schnurrbart.
»Was haben Sie vor?«, wiederholte Oberst Atkinson. »Sind Sie etwa wieder im Staatsdienst?«
»Dazu bin ich viel zu alt«, sagte Tommy. »Ich bin längst pensioniert.«
»So, so? Da bin ich mir nicht ganz sicher. Vielleicht behaupten Sie es nur. Vielleicht müssen Sie auch so tun. Wissen Sie, schließlich ist damals bei der Geschichte nie alles geklärt worden.«
»Bei welcher Geschichte?«
»Sie werden darüber gelesen oder davon gehört haben. Es war der Cardington-Skandal. Er passierte nach dem anderen Fall mit den berühmten Briefen – und der Sache mit Emlyn Johnson und dem U-Boot.«
»Hm«, machte Tommy. »Ich habe nur eine vage Erinnerung.«
»Er stand nicht in direktem Zusammenhang mit der U-Boot-Affäre, aber dadurch kam er ins Rollen. Und da waren jene Briefe, die es politisch an die große Glocke gehängt hätten. Ja, die Briefe! Wenn sie sie hätten an sich bringen können, wäre es ganz anders gekommen. Dann wären einige Leute aufgefallen, die damals in der Regierung saßen und größtes Vertrauen genossen. Erstaunlich, wie so etwas passieren kann, nicht wahr? Wer wüsste das besser als Sie! Der Verräter in unserer Mitte; immer genießt er volles Vertrauen, immer ist er ein prima Kerl, immer fällt der Verdacht zu allerletzt auf ihn – und während der ganzen Zeit… Wie ich schon sagte, vieles ist nie geklärt worden.« Er zwinkerte. »Vielleicht hat man Sie hingeschickt, damit Sie sich mal umsehen, na, lieber Freund?«
»Nach was umsehen?«, fragte Tommy.
»Oh, in Ihrem Haus. Sie sagten doch Lorbeerhaus, ja? Es hat eine Menge dummer Scherze darüber gegeben. Natürlich haben sich der Geheimdienst und die anderen Sicherheitsorgane gründlich umgesehen. Sie vermuteten, dass irgendwo im Haus wertvolle Beweisstücke zu finden sein müssten. Es gab auch die Theorie, dass alles noch rechtzeitig ins Ausland geschickt worden wäre – Italien wurde erwähnt. Doch einige Leute vermuteten, dass es dort ein Versteck gab. Sie kennen das ja, es ist ein Haus mit Kellern und jeder Menge Steinfliesen… Ach, Tommy, geben Sie es zu, Sie sind wieder auf der Jagd.«
»So glauben Sie mir doch, dass ich nichts mehr mit solchen Dingen zu tun habe!«
»Oh, das hat man Ihnen schon einmal geglaubt, damals, als Sie in jener Pension wohnten, am Anfang des Zweiten Weltkriegs. Sie schnappten einen Agenten der Deutschen. Und dann ging es noch um die Frau mit dem Buch mit Kinderreimen. Der berühmte Fall N. und M. Das war gute Arbeit! Und jetzt hat Ihre Behörde Sie vielleicht auf eine neue Spur angesetzt.«
»Unsinn«, sagte Tommy. »Was für Einfälle Sie haben. Ich bin ein alter Mann.«
»Ein schlauer alter Fuchs sind Sie. Ich wette, Sie sind besser als die meisten jungen Leute. Sie sitzen da, sehen unschuldig aus – und vermutlich sollte man Ihnen gar keine Fragen stellen. Ich kann Sie ja wohl kaum auffordern, Staatsgeheimnisse zu verraten, was? Aber passen Sie trotzdem auf Ihre Frau gut auf. Sie wissen ja, wie vorwitzig sie ist. Damals, im Fall N. und M. ist sie gerade nochmal davongekommen.«
»Tuppence interessiert sich nur für die Geschichte des Hauses, für die Bewohner und ihre Bilder und dergleichen. Und für das Anlegen des Gartens. Er ist heute unser Hauptinteresse. Der Garten und Kataloge über Blumenzwiebeln und was sonst so dazugehört.«
»Das glaube ich Ihnen erst, wenn ein Jahr ohne besondere Ereignisse vergangen ist. Aber ich kenne Sie, mein Lieber. Und die liebe Mrs Beresford kenne ich ebenfalls. Sie beide zusammen sind eine prächtige Mannschaft und ich wette, Sie fördern etwas zu Tage. Und ich sage Ihnen: Wenn diese Papiere auftauchen, wird sich das politisch sensationell auswirken und es gibt eine Menge Leute, die sich nicht darüber freuen werden. Wahrhaftig nicht! Und die Leute, die sich nicht darüber freuen werden, gelten heute als Säulen der Ehrbarkeit. Denken Sie daran! Sie sind gefährlich und wenn sie selbst nicht gefährlich sind, so stehen sie mit den andern in engem Kontakt. Seien Sie also vorsichtig und sorgen Sie dafür, dass auch Ihre Frau vorsichtig ist.«
»Was für eine blühende Fantasie Sie haben«, sagte Tommy. »Sie bringen es noch dazu, dass ich anfange, mich aufzuregen.«
»Regen Sie sich ruhig auf. Aber passen Sie auf Ihre Frau auf. Ich habe sie sehr gern. Sie ist ein nettes Mädchen – war es immer.«
»Ein Mädchen kann man sie wohl kaum noch nennen.«
»Hören Sie, reden Sie nicht so von Ihrer Frau. Gewöhnen Sie sich das ja nicht an. Sie ist eine von tausend. Trotzdem tut mir derjenige leid, den sie sich aufs Korn genommen hat. Vermutlich ist sie bereits auf der Jagd.«
»Das glaube ich nicht. Es ist viel wahrscheinlicher, dass sie gerade mit einer alten Dame Tee trinkt.«
»Warum nicht? Alte Damen können sehr oft brauchbare Informationen liefern. Alte Damen und Kinder. Gerade die seltsamsten Leute rücken oft mit Dingen heraus, über die man nur staunen kann. Oh, ich könnte Ihnen da viel erzählen…«
»Das glaube ich Ihnen gern, Oberst.«
»Aber leider, Geheimsachen darf man nicht weitergeben.« Oberst Atkinson schüttelte den Kopf.
Auf der Heimfahrt starrte Tommy aus dem Zugfenster auf die rasch vorüberziehende Landschaft. »Ich möchte wissen«, murmelte er, »ich möchte wissen, was da dran ist. Der alte Bursche ist meistens gut unterrichtet. Aber was könnte heute noch so eine Rolle spielen? Das ist Vergangenheit – es gibt heute keine Geheimnisse mehr, die noch mit dem Krieg zu tun haben. Unmöglich!« Trotzdem grübelte er weiter. Es kamen so viele neue Ideen auf, eine neue Generation war herangewachsen, Enkel und Neffen, jüngere Mitglieder von Familien, die immer etwas bedeutet hatten, die etwas darstellten, in einflussreichen Positionen waren oder Macht hatten, weil sie in sie hineingeboren worden waren. Und wenn nun rein zufällig diese jungen Leute nicht loyal waren? Dann konnte man sie beeinflussen; sie konnten einer neuen politischen Richtung anhängen oder einer alten, die neu auflebte, wie immer man so was nennen wollte. England war heute anders als früher. Oder war es immer so gewesen? Es gab unter einer sauberen Oberfläche immer dunklen Morast. Das Wasser war nicht bis zum Grund des Meeres klar. Irgendwo floss ein trüber unterirdischer Wasserlauf, der gefunden und geklärt werden musste. Aber doch nicht – doch nicht in einem Ort wie Hollowquay. Hollowquay war ein verstaubtes kleines Nest, ein ehemaliges Fischerdorf, aus dem man eine englische Riviera hatte machen wollen. Nun war es ein kleiner Badeort und nur im August überfüllt. Die meisten Leute reisten jetzt lieber mit Reisegesellschaften ins Ausland.
»Na?«, fragte Tuppence, als sie am Abend vom Esstisch aufstanden und ins Wohnzimmer gingen, um Kaffee zu trinken. »War es nett bei dir oder nichts? Wie geht es den alten Knaben?«
»Ach, wie soll es ihnen schon gehen. Und wie war deine alte Dame?«
»Zuerst kam der Klavierstimmer und nachmittags hat es geregnet. Ich habe sie gar nicht besucht. Eigentlich schade, vielleicht hätte sie mir etwas Interessantes erzählt.«
»Der alte Monty Atkinson hat das jedenfalls getan«, sagte Tommy. »Ich habe gestaunt. Was hältst du eigentlich wirklich von diesem Ort, Tuppence?«
»Sprichst du vom Dorf oder vom Haus?«
»Nicht vom Haus, ich meine Hollowquay.«
»Ich finde es hier sehr nett.«
»Was heißt – nett?«
»Das ist doch ein sehr treffendes Wort. Es wird immer so verächtlich abgetan, was nicht richtig ist. Ich finde, ein Ort ist nett, an dem nichts Besonderes passiert und wo auch nichts Besonderes passieren soll. Wo man froh ist, dass nichts passiert.«
»Hm. Vermutlich liegt das an unserem Alter.«
»Nein, das glaube ich nicht. Es ist einfach nett zu wissen, dass es Orte gibt, wo nichts passiert. Allerdings muss ich gestehen, dass heute beinahe etwas passiert wäre.«
»Was soll das heißen? Hast du was angestellt, Tuppence?«
»Nein, natürlich nicht! Es geht um die Scheibe im Glashausdach. Sie hat neulich schon ein bisschen gezittert und gewackelt. Heute ist sie mir praktisch auf den Kopf gefallen. Ich könnte völlig zerschnitten sein.«
Tommy sah sie prüfend an. »Du bist völlig ganz.«
»Ich hatte Glück. Trotzdem ist es mir in die Glieder gefahren.«
»Wir müssen den alten Mann, diesen Isaac, kommen lassen, damit er sie repariert. Er soll auch alle anderen Scheiben kontrollieren. Nicht auszudenken, wenn dir was geschieht, Tuppence!«
»Bei einem alten Haus stimmt wahrscheinlich vieles nicht.«
»Meinst du, auch bei dem unseren?«
»Wieso? Was soll an unserem Haus nicht stimmen?«
»Weil ich heute etwas Merkwürdiges darüber erfahren habe.«
»Etwas Merkwürdiges? Das erscheint mir höchst unwahrscheinlich!«
»Warum? Weil es so freundlich und unschuldig aussieht? So sauber angestrichen und ordentlich?«
»Nein. Der Anstrich und die Reparaturen und das unschuldige Aussehen sind unser Verdienst. Als wir es kauften, war es heruntergekommen und schäbig.«
»Darum war es auch so billig.«
»Du machst ein komisches Gesicht, Tommy«, sagte Tuppence. »Was ist los?«
»Daran ist der alte Monty schuld.«
»Ach, der Gute. Hat er dir Grüße für mich aufgetragen?«
»Selbstverständlich. Du sollst schön vorsichtig sein und ich soll auf dich aufpassen.«
»Das sagt er immer. Aber warum ich hier vorsichtig sein soll – das möchte ich mal wissen.«
»Was würdest du sagen, Tuppence, wenn ich dir erzählte, dass er angedeutet hat oder vermutet, wir hätten uns nicht in den Ruhestand zurückgezogen, sondern wären in dienstlichem Auftrag hier. Dass wir wieder mal, genau wie in den Zeiten von N. und M. dienstlich herbeordert worden sind, vom Geheimdienst? Um etwas aufzudecken, um herauszufinden, was hier nicht stimmt.«
»Tommy, du träumst wohl!«
»Monty schien fest zu glauben, dass wir den Auftrag hätten, hier Nachforschungen anzustellen.«
»Ja, nach was denn?«
»Im Haus soll etwas versteckt sein.«
»Hier im Haus? Tommy, bist du verrückt?«
»Ehrlich gestanden, kam er mir ziemlich verrückt vor, aber ich bin jetzt nicht mehr so sicher.«
»Was soll es denn sein? Ein vergrabener Schatz? Die russischen Kronjuwelen im Keller? So etwas?«
»Nein, kein Schatz, sondern etwas, das jemandem gefährlich werden könnte.«
»Na, das ist aber wirklich seltsam«, sagte Tuppence.
»Warum, hast du was gefunden?«
»Nein, natürlich nicht! Aber anscheinend hat es hier vor vielen Jahren mal einen Skandal gegeben. Nicht, dass sich jemand genau daran erinnert, nur eine Geschichte, die die Großmutter erzählt oder worüber das Personal geklatscht hat. Übrigens hat Beatrice eine Freundin, die etwas zu wissen scheint. Unsere Mary Jordan war in die Sache verwickelt. Es muss schrecklich geheim gewesen sein.«
»Ist das ein Produkt deiner Fantasie, Tuppence? Träumst du dich in unsere Jugendzeit zurück, als wir die Sache mit Jane Finn und der Lusitania klärten? Als wir so viele Abenteuer erlebten und die rätselhafte Mrs Brown aufspürten?«
»Du meine Güte, ist das lange her, Tommy! Die Jungen Abenteurer haben wir uns genannt. Das kommt einem gar nicht mehr wirklich vor, nicht wahr?«
»Ja, du hast Recht. Aber es war wirklich, sehr wirklich sogar. Die fragliche Geschichte muss an die sechzig Jahre her sein.«
»Was hat Monty denn genau gesagt?«
»Es handelt sich um Briefe oder Papiere, die einen politischen Skandal erregt hätten oder haben. Es geht um jemand in einflussreicher Stellung, der keine einflussreiche Stellung hätte haben dürfen; und es gab Briefe oder Papiere, die ihn erledigt hätten, wenn sie je ans Licht gekommen wären. Es geht um viele Intrigen, die vor langer Zeit geplant wurden.«
»Als Mary Jordan lebte? Das hört sich so unwahrscheinlich an, Tommy! Du musst auf der Heimfahrt im Zug eingeschlafen sein und alles geträumt haben.«
»Das glaube ich selber bald«, antwortete Tommy. »Es ist wirklich absolut unwahrscheinlich.«
»Trotzdem könnten wir uns umsehen, da wir nun schon mal hier wohnen«, sagte Tuppence.
Ihre Augen suchten das Zimmer ab.
»Hier wird doch bestimmt nichts versteckt sein, oder was meinst du, Tommy?«
»Mir erscheint das Haus für ein derartiges Versteck ganz ungeeignet. Und seit damals haben so viele andere Familien hier gewohnt.«
»Ja, eine Menge, soweit ich das feststellen konnte. Trotzdem, es würde Spaß machen. Weißt du, wenn wir nichts anderes zu tun haben und vom vielen Tulpenpflanzen müde sind, könnten wir uns doch mal umsehen. Ich meine es so: Wir machen uns Gedanken und fangen damit an, dass wir sagen: ›Wenn ich etwas verstecken wollte, wohin würde ich es tun und wo würde es am sichersten unentdeckt bleiben?‹«
»Ich glaube nicht, dass etwas unentdeckt bleiben würde«, stellte Tommy fest. »Nicht bei den vielen Gärtnern und Handwerkern, die sowieso alles auf den Kopf stellen, und dann die verschiedenen Familien und Häusermakler und wer nicht noch alles.«
»Man kann nie wissen. Vielleicht steckt’s in der Teekanne.«
Tuppence stand auf und trat zum Kamin. Sie kletterte auf einen Hocker, holte eine chinesische Teekanne vom Sims, nahm den Deckel ab und spähte hinein.
»Da ist nichts.«
»Das ist auch ein sehr unwahrscheinliches Versteck.«
»Könnte es sein«, fragte Tuppence, und ihre Stimme war eher hoffnungsvoll als zweifelnd, »dass jemand mir nach dem Leben trachtete und die Scheibe gelockert hat, damit sie mir auf den Kopf fällt?«
»Äußerst unglaubwürdig«, sagte Tommy. »Sicherlich wollte man den alten Isaac ärgern.«
»Was für ein enttäuschender Gedanke«, meinte Tuppence. »Ich hätte gern das Gefühl, gerade nochmal davongekommen zu sein.«
»Trotzdem, sei vorsichtig! Ich werde mehr auf dich aufpassen.«
»Du machst immer so ein Getue um mich.«
»Was sehr nett von mir ist«, sagte Tommy. »Du solltest froh sein, dass dein Mann so ein Getue um dich macht.«
»Hat unterwegs keiner auf dich geschossen oder versucht den Zug entgleisen zu lassen?«, fragte Tuppence.
»Nein. Trotzdem werden wir die Bremsen ausprobieren, ehe wir das nächste Mal wegfahren – ach, natürlich ist das alles völlig idiotisch!«
»Natürlich! Völlig idiotisch! Aber…«
»Aber?«
»Es macht mir fast Spaß, an so etwas zu denken.«
»Du meinst, Alexander wurde ermordet, weil er etwas wusste?«, fragte Tommy.
»Er wusste etwas über die Person, die Mary Jordan getötet hat. ›Es war einer von uns…«‹ Tuppence strahlte plötzlich. »Uns«, sagte sie mit Betonung. »Wir müssen alles über ›uns‹ herausbekommen. Es hat ein ›Uns‹ gegeben, in diesem Haus, in früherer Zeit. Wir müssen ein Verbrechen aufklären. Wir müssen in die Vergangenheit reisen, um es aufzuklären, das Wo und Warum suchen. So etwas haben wir nie gemacht.«