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Tuppence suchte Geburtstagskarten aus. Der Nachmittag war regnerisch, die Poststelle fast leer. Die Leute steckten Briefe in den Kasten vor dem Haus oder kamen nur hastig herein, um Briefmarken zu kaufen. Jeder strebte so schnell wie möglich nachhause. Es war kein Nachmittag, der zum Einkaufen reizte. Tuppence fand, dass sie den Tag nicht besser hätte wählen können.
Gwenda, die sie nach Beatrices Beschreibung sofort erkannt hatte, war gern bereit, ihre Wünsche zu erfüllen. Sie war für den Laden der Poststelle zuständig. Eine ältere Frau mit grauen Haaren leitete den Postbetrieb. Gwenda, ein redefreudiges Mädchen, das sich für alle Neuankömmlinge im Ort interessierte, fühlte sich zwischen den Weihnachts- und Geburtstagskarten, den Glückwunschkarten zu jeder Gelegenheit, dem Briefpapier, einem Sortiment Schokolade und einem kleinen Porzellanvorrat für den Hausgebrauch offensichtlich wohl. Sie und Tuppence hatten sich rasch angefreundet.
»Ich freue mich wirklich, dass das Haus wieder bewohnt ist. Das Prinzenhaus.«
»Ich dachte, es hätte immer Lorbeerhaus geheißen?«
»Nein, ich glaube, so hat man es nie genannt. Hier in der Gegend bekommen die Häuser ständig neue Namen. Es scheint den Leuten Spaß zu machen, wissen Sie.«
»Das kommt mir auch so vor«, sagte Tuppence nachdenklich. »Sogar wir haben uns ein, zwei Namen ausgedacht. Übrigens hat mir Beatrice erzählt, Sie hätten jemand gekannt, der in unserem Haus gewohnt hat, eine gewisse Mary Jordan.«
»Gekannt hab ich sie nicht, aber ich habe von ihr gehört. Das war im Krieg, aber nicht im letzten. Es war der davor, in dem sie mit Zeppelinen kamen.«
»Ja, von den Zeppelinen habe ich auch gehört, daran erinnere ich mich.«
»1915 oder 1916 waren sie über London.«
»Ich weiß, ich war mit einer alten Großtante dort mal einkaufen und da hat es Alarm gegeben.«
»Sie sind manchmal auch nachts gekommen, nicht wahr? Ich kann mir vorstellen, was man da für Angst ausgestanden hat.«
»Ich glaube nicht, dass es nur das war. Die Leute haben sich natürlich sehr aufgeregt, aber so viel Angst wie vor den V-Raketen im Zweiten Weltkrieg haben sie sicher nicht gehabt. Da hatte man immer das Gefühl, als flögen sie hinter einem her, die ganze Straße entlang.«
»Sind Sie jede Nacht in den U-Bahn-Tunnels gesessen? Ich hatte in London eine Freundin. Sie war nachts immer dort, im Bahnhof Warren Street. Jeder hatte seinen bestimmten U-Bahnhof, zu dem er ging.«
»Ich war im letzten Krieg nicht in London«, sagte Tuppence. »Ich hätte nicht gern die Nächte in einem U-Bahn-Tunnel verbracht.«
»Ach, meine Freundin – sie heißt Jenny – fand es großartig. Sie sagte, es wäre so lustig gewesen. Jeder hatte seinen Stammplatz, der für einen frei gehalten wurde. Man schlief da, man nahm sich Brote mit und was zu trinken und es war sehr lustig und unterhaltsam. Das ging die ganze Nacht durch, herrlich! Die Züge fuhren bis zum Morgen. Nach dem Krieg konnte sie sich gar nicht dran gewöhnen, wieder zuhause zu schlafen. Sie fand es langweilig, wissen Sie.«
»Jedenfalls gab es 1914 noch keine Bomben, nur Zeppeline.«
Es war Gwenda anzumerken, dass das Thema Zeppelin erschöpft war.
»Ich hatte nach dieser Mary Jordan gefragt«, fuhr Tuppence fort. »Beatrice meinte, Sie wissen was über sie.«
»Nicht viel. Ihr Name wurde mal erwähnt, aber das ist Ewigkeiten her. Wunderschönes blondes Haar soll sie gehabt haben, hat meine Großmutter erzählt. Sie war eine Deutsche und hat sich um die Kinder gekümmert – eine Art Kinderschwester. Sie war vorher bei einer Marineoffiziersfamilie, ich glaube in Schottland. Danach ist sie hierher in den Süden gekommen. Sie war bei einer Familie Parks oder Perkins. Einmal in der Woche hatte sie ihren freien Tag und fuhr nach London. Dann hat sie auch das Zeug mitgenommen.«
»Was für Zeug?«, fragte Tuppence.
»Das weiß ich nicht. Das hat man mir nie genau erzählt. Wohl Sachen, die sie gestohlen hat.«
»Ist sie beim Stehlen entdeckt worden?«
»Nein, ich glaube nicht. Man fing an sie zu verdächtigen, aber sie ist krank geworden und gestorben.«
»Woran ist sie gestorben? Und hier im Ort? Sie war ja wohl im Krankenhaus?«
»Nein – da wird’s hier noch keines gegeben haben. Damals gab es die staatliche Krankenversicherung noch nicht. Jemand hat mir erzählt, es wäre ein dummes Versehen der Köchin gewesen. Sie hat Fingerhutblätter statt Spinat aus dem Garten geholt oder statt Salat vielleicht. Nein, das muss jemand anders gewesen sein. Jemand hat was von Tollkirschen erzählt, aber das hab ich nie geglaubt. Tollkirschen kennt schließlich jeder, nicht wahr? Es sind doch Beeren. Jedenfalls muss was sehr Giftiges drin gewesen sein – sie haben den Arzt geholt und er hat getan, was er konnte, aber es war zu spät.«
»Wohnten damals viele Leute im Haus?«
»‘ne Menge. Es soll nämlich immer sehr viel Besuch da gewesen sein. Und sie hatten Kinder und Wochenendbesuche und eine Gouvernante und ein Kindermädchen. Natürlich haben sie auch viele Feste gefeiert. Selbstverständlich war ich nicht dabei; meine Großmutter hat es mir erzählt. Und der alte Mr Bodlicott spricht auch manchmal davon, der alte Gärtner, wissen Sie, der hier überall arbeitet. Er war damals dort Gärtner und erst haben sie es ihm anhängen wollen – dass er was Falsches ins Haus geschickt hätte –, aber er war’s bestimmt nicht. Es war jemand aus dem Haus, der in den Garten kam, helfen wollte, die Blätter gepflückt und der Köchin gebracht hat. Spinat und Salat und Grünzeug, wissen Sie. Vermutlich hat derjenige nichts von Gemüse verstanden. Bei der gerichtlichen Untersuchung sollen sie so was auch gesagt haben. Es wäre ein Versehen, das jedem hätte passieren können, weil der Spinat direkt neben dem Fingerhut gewachsen ist. Ich denke mir, sie haben eine Hand voll ausgerissen und eben beide Sorten Blätter erwischt. Aber traurig war es doch, denn meine Großmutter sagte, sie wäre ein hübsches Mädchen mit goldenen Haaren gewesen.«
»Und sie ist jede Woche nach London gefahren? An ihrem freien Tag natürlich.«
»Ja, sie soll behauptet haben, sie hätte dort Freunde. Sie war Ausländerin. Man hat sogar davon geredet, dass sie eine deutsche Spionin war.«
»Und war sie eine?«
»Ich glaube nicht. Bei den Männern muss sie sehr gut angekommen sein. Wissen Sie, bei den Marineoffizieren und denen vom Ausbildungslager in Shelton. Da hat sie auch ein oder zwei Freunde gehabt. Im Lager, meine ich.«
»Dann war sie wohl doch eine Spionin?«
»Kaum. Ich meine, meine Großmutter hat gesagt, die Leute hätten so was geredet. Es war auch nicht im Zweiten Weltkrieg. Es war lange, lange vorher.«
»Komisch«, sagte Tuppence, »wie leicht man die Kriege durcheinander bekommt. Ich habe noch einen sehr alten Mann gekannt, dessen Freund bei Waterloo mitkämpfte.«
»Du meine Güte! Das war doch Jahre vor 1914! Na ja, damals hatten die Leute ausländische Kinderschwestern – Mademoiselles und Fräuleins. Mit den Kindern soll sie sehr nett umgegangen sein. Es wären auch alle mit ihr sehr zufrieden gewesen und hätten sie gern gehabt.«
»Das geschah, als sie hier wohnte, im Lorbeerhaus?«
»Damals hieß es anders, ich glaube wenigstens. Sie war bei den Parkinsons oder Perkins. Heute würde man sie ein Au-pair-Mädchen nennen. Sie stammte aus der Stadt, aus der die Pastete kommt, wissen Sie, die es bei Fortnum & Mason zu kaufen gibt. Furchtbar teure Pastete für Einladungen. Eine halb deutsche, halb französische Stadt, hat mir jemand erzählt.«
»Straßburg?«, fragte Tuppence.
»Ja, genau. Sie hat auch Bilder gemalt, sogar ein Porträt meiner alten Großtante. Sie hätte zu alt drauf ausgesehen, hat Tante Fanny immer gesagt. Einen von den Parkinson-Jungen hat sie auch gemalt. Die alte Mrs Griffin besitzt das Bild noch. Der Junge hatte was über sie herausbekommen, der, von dem sie das Bild malte, ein Patensohn von Mrs Griffin.«
»Hieß er vielleicht Alexander Parkinson?«
»Ja, das stimmt. Er liegt neben der Kirche begraben.«