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Mrs Beresford stellte Die Kuckucksuhr wieder ins Bücherregal; sie wählte einen freien Platz im drittuntersten Fach. Alle Molesworth-Bücher standen dort. Sie zog Das Gobelinzimmer heraus und hielt es nachdenklich in der Hand. Oder sollte sie lieber Die Farm zu den vier Winden lesen? Daran konnte sie sich weniger gut erinnern als an Die Kuckucksuhr und Das Gobelinzimmer. Ihre Finger wanderten die Reihe entlang…

Sie kam voran. Ja, sie kam sogar sehr gut voran. Wenn sie nur nicht immer wieder bei ihren alten Lieblingen hängen bliebe und läse. Das war sehr reizvoll, aber sie vertrödelte so viel Zeit.

Und wenn Tommy abends beim Nachhausekommen fragte, wie es ihr ergangen war, brauchte sie viel Takt und Geschick, ihn daran zu hindern, nach oben zu gehen und nachzusehen, wie die Bücherregale in Wirklichkeit aussahen. Es dauerte eben alles seine Zeit. Der Einzug in ein Haus dauerte immer lange, viel länger, als man glaubte. Und die vielen störenden Leute, wie zum Beispiel die Elektriker, die offenbar nie mit dem zufrieden waren, was sie beim letzten Mal gemacht hatten, die größere Fußbodenflächen aufrissen und mit fröhlichem Gesicht neue Fallgruben für die nichts ahnende Hausfrau legten, wenn sie durchs Zimmer ging, einen Fuß falsch setzte und gerade noch rechtzeitig von dem unsichtbaren Elektriker gerettet wurde, der unter dem Fußboden herumkroch.

»Manchmal«, sagte Tuppence laut, »wünschte ich mir, wir wären nie aus Bartons Acre ausgezogen.«

»Erinnere dich an die Esszimmerdecke«, hatte Tommy gesagt, »und denk an den Dachboden und was mit der Garage los war. Beinahe wäre das Auto draufgegangen, weißt du noch?«

»Ach, die hätten wir sicherlich zusammenflicken lassen können.«

»Nein«, erwiderte Tommy. »Wir hätten das ganze verkommene Haus renovieren oder eben ausziehen müssen. Und eines Tages wird dieses hier sehr schön sein, davon bin ich überzeugt. Auf jeden Fall haben wir genug Platz und können tun, was wir wollen.«

»Du willst also damit sagen, dass wir alles unterbringen und behalten können?«

»Ja, ich weiß«, hatte Tommy geantwortet, »man hebt immer viel zu viel auf. Ich bin ganz deiner Meinung.«

Und nun, im Augenblick, dachte Tuppence darüber nach, ob sie wohl jemals mit diesem Haus viel anfangen könnten, abgesehen von der Tatsache des Einziehens. Anfangs hatte alles so einfach ausgesehen, aber es war immer schwieriger geworden – vor allem wegen der vielen Bücher.

»Wenn ich ein nettes, normales Kind von heute wäre«, sagte Tuppence laut, »hätte ich nicht schon so früh Lesen gelernt. Die Kinder, die jetzt fünf oder sechs sind, scheinen nicht lesen zu können; viele können es nicht mal mit zehn oder elf. Ich weiß gar nicht, warum es uns so leicht fiel. Wir konnten alle lesen. Ich und Martin von nebenan und Jennifer unten an der Straße und Cyril und Winifred. Ich will nicht behaupten, dass wir gut buchstabieren konnten, aber wir konnten lesen, was wir wollten. Ich weiß nicht, wie wir es gelernt haben. Wahrscheinlich haben wir immer gefragt. Was auf den Plakaten stand und auf der Reklame für Carters kleine Leberpillen. Das haben wir immer gelesen, wenn der Zug in London einfuhr. Es war so aufregend. Mein Gott, ich muss weitermachen!«

Sie stellte einige Bücher um. Dann verstrich eine Dreiviertelstunde, während sie sich in Alice hinter den Spiegeln vertiefte und später in Charlotte Yonges Unbekanntes aus der Geschichte. Ihre Hände glitten über den dicken, schäbigen Band Der Gänseblümchenkranz.

»Ach, das sollte ich mal wieder lesen«, sagte sie und seufzte. »Wenn ich an die vielen Jahre denke, die verstrichen sind, seit ich es nicht mehr in der Hand hatte. Was war es spannend, wenn man noch nicht wusste, ob Norman die Erlaubnis bekam, konfirmiert zu werden oder nicht. Und Ethel und – wie hieß der Ort noch? Coxwell oder so ähnlich – und dann Flora, die weltlich war. Ich möchte wissen, warum damals alles (weltlich) war. Was sind wir eigentlich heute? Sind wir weltlich oder nicht?«

»Wie bitte, Madam?«

»Ach, nichts«, sagte Tuppence und sah ihr treues Faktotum Albert an, der gerade unter der Tür aufgetaucht war.

»Ich dachte, Sie wünschten etwas, Madam. Sie haben doch geklingelt, nicht wahr?«

»Eigentlich nicht«, antwortete Tuppence. »Ich hab zufällig die Klingel erwischt, als ich auf den Stuhl kletterte, um ein Buch herauszunehmen.«

»Kann ich etwas für Sie herunterholen?«

»Das wäre nett. Ich falle immer vom Stuhl. Ein paar haben so wackelige Beine.«

»Wünschen Sie ein bestimmtes Buch?«

»Mit dem dritten Fach von oben bin ich noch nicht weit gekommen. Ich weiß nicht, was da für Bücher stehen.«

Albert stieg auf einen Stuhl, klopfte die Bücher gegeneinander, um den Staub zu entfernen, und reichte sie der Reihe nach hinunter. Tuppence nahm sie mit Entzückensrufen in Empfang.

»Nein, so was! Alle sind sie da! Wie viele hatte ich vergessen! Da sind Das Amulett und Der Psamayad und Die neuen Schatzsucher. Großartig! Nein, noch nicht hineinstellen, Albert. Die muss ich erst lesen. Na ja, ein oder zwei wenigstens. Was ist denn das? Lassen Sie sehen. Die rote Kokarde, eine historische Erzählung. Sehr spannend. Und hier ist auch Unter der roten Robe. So viele Bücher von Stanley Weyman. Natürlich habe ich sie erst gelesen, als ich zehn oder elf war. Es würde mich gar nicht wundern, wenn jetzt auch noch Der Gefangene von Zenda auftauchte.« Sie seufzte bei der Erinnerung glücklich auf. »Der Gefangene von Zenda war mein erster Liebesroman. Die Liebesgeschichte der Prinzessin Flavia. Der König von Ruritanien. Und Rudolph Rassendyll. So ein Name! Davon hat man nachts geträumt.«

Albert reichte eine neue Auswahl hinunter.

»Oh!«, rief Tuppence. »Die sind noch besser, noch älter. Ich muss die ältesten Bücher zusammenstellen. Mal sehen, was wir haben: Die Schatzinsel. Die habe ich mehrmals gelesen und zwei Filme darüber gesehen. Obwohl ich Filme über Bücher nicht mag; sie stimmen nicht. Aha, da ist auch Entführt. Ja, das habe ich sehr geliebt.«

Albert reckte sich, kam aus dem Gleichgewicht, und Catriona fiel hinunter und hätte Tuppence beinahe getroffen.

»Oh, entschuldigen Sie, Madam. Es tut mir sehr leid.«

»Macht nichts«, sagte Tuppence. »Es ist nichts passiert. Catriona, ja. Sind noch mehr Geschichten von Stevenson da?«

Albert reichte ihr die Bücher nun sehr viel vorsichtiger zu. Gleich darauf stieß Tuppence einen Freudenschrei aus.

»Der schwarze Pfeil. Großartig! Der schwarze Pfeil! Eins meiner ersten Bücher, die ich besessen und gelesen habe. Sie kennen es vermutlich nicht, Albert. Ich meine, da waren Sie noch nicht geboren. Oder doch? Lassen Sie mich nachdenken. Ja, natürlich, es ging um das Bild an der Wand mit den Augen – echten Augen –, die durch die Augen auf dem Bild blickten. Man bekam solche Angst! Der schwarze Pfeil. Die Katze, die Ratte und Lovell, der Hund, regierten England unter dem Schwein. Das Schwein war natürlich Richard III. Heute werden andauernd Bücher darüber geschrieben, dass er gar kein Schurke gewesen ist. Das glaube ich nicht, ebenso wenig wie Shakespeare. Schließlich lässt er in seinem Stück Richard gleich am Anfang sagen: ›Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden.‹ Ach, ja. Der schwarze Pfeil!«

»Wollen Sie noch mehr Bücher, Madam?«

»Nein, danke, Albert. Ich glaube, jetzt bin ich müde.«

»Ja, natürlich. Übrigens hat der Herr angerufen, er käme eine halbe Stunde später.«

»Macht nichts«, sagte Tuppence.

Sie setzte sich in einen Sessel, griff nach dem Schwarzen Pfeil, schlug ihn auf und versank darin.

»Meine Güte«, sagte sie dann, »wie schön es ist. Ich habe tatsächlich so viel vergessen, dass ich es noch einmal lesen kann.«

Die Stille senkte sich über sie. Albert kehrte in die Küche zurück. Die Zeit verstrich. In dem ziemlich schäbigen Sessel zusammengekauert, versuchte Tuppence, die Freuden ihrer Kindheit wiedererstehen zu lassen.

Auch in der Küche verstrich die Zeit. Albert widmete sich ganz den Tücken des Herdes. Draußen fuhr ein Wagen vor. Albert ging zur Seitentür.

»Soll ich den Wagen in die Garage fahren, Sir?«

»Das mache ich schon«, sagte Tommy. »Sie haben sicher noch mit dem Abendessen zu tun. Bin ich sehr spät dran?«

»Nein, gar nicht, Sir. Sie sind genau zur angekündigten Zeit gekommen, sogar ein bisschen zu früh.«

»Hm.« Tommy brachte den Wagen weg und kam dann, sich die Hände reibend, in die Küche. »Kühl, draußen. Wo ist meine Frau?«

»Madam ist oben bei den Büchern.«

»Was, immer noch?«

»Ja. Sie hat heute wieder eine Menge eingeräumt, aber die meiste Zeit hat sie gelesen.«

»Aha! Was gibt es zu essen?«

»Seezungenfilet mit Zitrone, Sir. Es dauert nicht mehr lange.«

»Fein. Gönnen Sie mir noch eine Viertelstunde, Albert. Ich möchte mich noch etwas waschen.«

Oben im ersten Stock saß Tuppence immer noch in dem etwas schäbigen Sessel, in den Schwarzen Pfeil vertieft. Sie war auf etwas Merkwürdiges gestoßen, etwas Fremdes, das sich in das Buch eingeschlichen zu haben schien. Die Seite, bis zu der sie gekommen war – Seite 46 oder 47? Sie konnte die Zahl nicht genau erkennen – also, auf jeden Fall hatte dort jemand angefangen, Wörter zu unterstreichen. Sie verstand nicht, warum. Sie folgten nicht aufeinander und konnten daher auch kein Zitat sein. Es schienen willkürlich ausgewählte Wörter zu sein, die mit roter Tinte unterstrichen worden waren. Sie murmelte vor sich hin: »›Matcham entfuhr ein schwacher Schreckensruf, auch Richard zuckte zusammen, sodass der Bogenspanner seiner Hand entglitt. Aufspringend, zogen sie ihre Gürtel stramm, prüften ihre Bogensehnen und vergewisserten sich, dass ihre Dolche und Schwerter leicht aus der Scheide glitten. Ellis hob seine Hand, mit flammendem Blick rief er: Harry Shelton, ermordet von Sir Daniel und seinem Geschmeiß. Simon Marmsby, gleichfalls von ihnen umgebracht, und Ellis Duckworth.‹« Sie las noch die nächste Seite und schüttelte den Kopf. Es ergab keinen Sinn.

Sie ging zu dem Tisch, auf dem ihr Schreibzeug lag, und nahm ein paar Probebogen auf, die ihnen kürzlich eine Druckerei zur Auswahl geschickt hatte, weil sie einen neuen Briefkopf machen lassen mussten. Für das Lorbeerhaus.

»Was für ein dummer Name«, sagte Tuppence, »aber wenn man ihn dauernd ändert, kommt die Post nie mehr an.«

Sie schrieb die unterstrichenen Worte ab. Nun fiel ihr etwas auf, das sie vorher nicht bemerkt hatte.

»Na, das ist ganz was andres.«

Sie malte Buchstaben auf das Blatt.

»Ach, hier bist du!«, sagte plötzlich Tommy hinter ihr. »Das Essen steht so gut wie auf dem Tisch. Was machen deine Bücher?«

»Es ist furchtbar spannend«, sagte Tuppence. »Sehr merkwürdig.«

»Was ist spannend und merkwürdig?«

»Es geht um Der schwarze Pfeil von Stevenson, ich wollte es wieder lesen und habe auch angefangen. Plötzlich hatte ich ein ganz seltsames Gefühl, weil so viele Worte mit roter Tinte unterstrichen waren.«

»Ach, das tun doch die Leute manchmal«, meinte Tommy. »Nicht immer mit roter Tinte, aber jeder unterstreicht doch mal was. Etwas, an das man sich erinnern möchte, ein Zitat oder so was.«

»Darum geht es eben nicht. Es sind eigentlich nur einzelne Buchstaben, verstehst du?«

»Nein«, sagte Tommy. »Was heißt, nur Buchstaben?«

»Sieh’s dir an!«

Tommy setzte sich auf die Armlehne und warf einen Blick auf das Blatt. »Verrückt«, sagte er.

»Ja, das habe ich anfangs auch geglaubt. Aber es stimmt nicht, Tommy.«

Unten wurde eine Kuhglocke geläutet.

»Das Essen ist fertig.«

»Es kann warten«, sagte Tuppence. »Erst muss ich es dir erklären. Wir können uns nachher gründlicher damit befassen, es ist wirklich zu merkwürdig. Ich muss es dir einfach erzählen.«

»Na, schön! Fantasierst du dir mal wieder was zusammen?«

»Überhaupt nicht! Ich habe nur die Buchstaben notiert. Pass auf, hier steht das M von ›Matcham‹. Das ist das erste Wort. Das M ist unterstrichen und dann das a, danach kommen noch mehr Worte. Im Buch stehen sie nicht hintereinander. Sie sind einfach herausgepickt worden, wenigstens scheint es so. Man hat sie unterstrichen, vielmehr einzelne Buchstaben, weil jemand bestimmte Buchstaben brauchte. Das nächste ist dann ein r, dann kommt das y aus ›Marmsby‹, und so geht es immer weiter…«

»Um Gottes willen!«, rief Tommy. »Hör auf!«

»Warte! Ich muss es herausbekommen. Siehst du, was ich aufgeschrieben habe? Erkennst du es? Wenn man sie der Reihe nach liest, ergibt es einen Sinn: M-a-r-y. Diese Buchstaben waren unterstrichen.«

»Und was soll das heißen?«

»Einfach: Mary.«

»Na schön, es heißt also Mary. Ein Kind mit Fantasie, vermutlich. Sie wollte zeigen, dass es ihr Buch war. Die Menschen schreiben nun mal ihre Namen in Bücher.«

»Jawohl, Mary«, sagte Tuppence. »Und die nächsten unterstrichenen Buchstaben ergeben J-o-r-d-a-n.«

»Na, bitte: Mary Jordan. Absolut natürlich. Jetzt kennst du ihren Namen. Sie hieß Mary Jordan.«

»Aber das Buch hat ihr gar nicht gehört. Vorn steht in einer krakeligen Kinderschrift: Alexander. Alexander Parkinson, glaube ich.«

»Hm. Spielt das wirklich eine Rolle?«, fragte Tommy.

»Natürlich spielt es eine Rolle.«

»Ach, komm schon! Ich habe Hunger.«

»Beherrsch dich!«, sagte Tuppence. »Ich lese dir nur noch den Rest vor, bis das Unterstrichene aufhört – oder vielmehr nach vier fortlaufenden Seiten aufhört. Die Buchstaben sind wahllos herausgenommen, mit dem Text kann es nichts zu tun haben. Es geht allein um die Buchstaben. Warte mal. Wir hatten M-a-r-y J-o-r-d-a-n. Stimmt. Und jetzt rate, wie es weitergeht? I-s-t k-e-i-n-e-s n-a-t-ü-r-1-i-c-h-e-n T-o-d-e-s g-e-s-t-o-r-b-e-n. Was sagst du nun? ›Mary Jordan ist keines natürlichen Todes gestorben.‹ Aber pass auf, es kommt noch besser: ›Es war einer von uns. Ich glaube, ich weiß, wer.‹ Das ist alles. Mehr kann ich nicht finden. Was sagst du nun? Ist das nicht aufregend?«

»Hör mal, Tuppence«, erwiderte Tommy, »du wirst hoffentlich keine große Sache daraus machen?«

»Was soll das heißen – keine große Sache?«

»Na, dass du ein Geheimnis witterst.«

»Selbstverständlich ist es ein Geheimnis!«, sagte Tuppence.

»›Mary Jordan ist keines natürlichen Todes gestorben. Es war einer von uns. Ich glaube, ich weiß, wer.‹ Ach, Tommy, gib zu, dass es unerhört geheimnisvoll klingt.«