3

 

»Tuppence!«, rief Tommy, als er ins Haus kam.

Keine Antwort. Ein wenig ärgerlich rannte er die Treppe hinauf und durch den Flur im ersten Stock. Um ein Haar wäre er dabei in ein Loch im Fußboden getreten. Er begann prompt zu fluchen.

»Schon wieder einer dieser verdammten leichtsinnigen Elektriker!«

Vor ein paar Tagen war es ihm schon einmal passiert. Die Elektriker, guter Dinge und voll Zuversicht, hatten mit der Arbeit begonnen. »Jetzt klappt es großartig, wir sind bald fertig«, hatten sie behauptet. »Wir kommen heute Nachmittag wieder.« Aber sie waren am Nachmittag nicht wiedergekommen. Tommy war nicht gerade erstaunt darüber. Er hatte sich inzwischen an die Art, wie die Maurer, Elektriker, die Männer vom Gaswerk und andere Handwerker arbeiteten, gewöhnt. Sie kamen, sie wirkten tüchtig, sie stellten optimistische Prognosen, sie gingen weg, um etwas zu holen – und kehrten nicht zurück. Man telefonierte, schien aber immer die falsche Nummer zu haben. Wenn die Nummer stimmte, war der betreffende Mann nicht bei der Firma beschäftigt. Es gab nur eins: Man musste aufpassen, sich nicht den Knöchel zu brechen, nicht in ein Loch zu fallen oder sich in irgendeiner Weise zu verletzen. Er hatte auch viel mehr Angst um Tuppence als um sich selbst. Er passte besser auf. Wo war sie eigentlich? Er rief wieder. »Tuppence! Tuppence!«

Er machte sich Sorgen. Tuppence gehörte zu den Menschen, um die man sich immer Sorgen machen musste. Ehe man das Haus verließ, sprach man letzte weise Worte zu ihr, und sie beteuerte, sich so zu verhalten, wie man es ihr geraten hatte. Nein, sie würde nicht weggehen, höchstens, um ein halbes Pfund Butter zu kaufen, und das war schließlich nicht gefährlich.

»Es könnte gefährlich werden, wenn du es bist, die ein halbes Pfund Butter kaufen will«, hatte Tommy gesagt.

»Ach, sei nicht blöd!«

»Ich bin nicht blöd. Ich bin nur ein liebevoller Ehemann, der sich um eins seiner kostbarsten Besitztümer sorgt. Ich weiß zwar nicht, warum…«

»Weil ich«, hatte Tuppence geantwortet, »so charmant bin, so hübsch, eine gute Ehefrau und mich so rührend um dich kümmere.«

»Ja, das vielleicht auch, aber ich könnte dir noch eine ganz andere Liste zusammenstellen.«

»Die würde ich sicher nicht gern hören. Ich vermute, es hat sich zu viel Ärger in dir angestaut. Beruhige dich. Es wird schon nichts passieren. Du brauchst nur zu rufen, wenn du zur Haustür reinkommst.«

So, und wo war Tuppence nun?

»Diese kleine Hexe«, sagte Tommy. »Sie ist irgendwohin gegangen.«

Er trat in das Zimmer, in dem er sie schon öfter angetroffen hatte. Sicher sieht sie sich ein Kinderbuch an, dachte er, und wird sich wieder über ein paar dumme Worte aufregen, die ein blödes Kind mit roter Tinte unterstrichen hat. Auf der Spur von Mary Jordan, wer immer sie gewesen war. Mary Jordan, die keines natürlichen Todes gestorben war. Trotzdem: Er machte sich allmählich Gedanken darüber. Vermutlich war es schon sehr lange her, denn die Leute, die ihnen das Haus verkauft hatten, hießen Jones. Sie hatten es nicht sehr lange bewohnt, nur drei oder vier Jahre. Nein, das Kind mit dem Buch von Stevenson gehörte in eine weiter zurückliegende Zeit. Na ja, Tuppence war zumindest nicht hier in diesem Zimmer. Und es lagen auch keine aufgeschlagenen Bücher herum, in denen sie möglicherweise gelesen hatte.

»Wo zum Teufel steckt sie?«, rief Tommy.

Er lief wieder nach unten und rief ein paar Mal ihren Namen. Keine Antwort. Prüfend betrachtete er einen Garderobenhaken in der Diele. Keine Spur von Tuppence’ Regenmantel. Dann war sie also ausgegangen. Wohin? Und wo war Hannibal? Er rief laut nach Hannibal.

»Hannibal – Hannibal! Komm schon, Hannibal!«

Auch kein Hannibal.

Na, wenigstens ist Hannibal dabei, dachte er.

Allerdings wusste er nicht, ob es gut oder schlecht war, wenn. Tuppence Hannibal mitnahm. Hannibal würde auf jeden Fall dafür sorgen, dass ihr nichts geschah. Die Frage war nur: Würde Hannibal anderen Leuten etwas tun? Er war sehr freundlich, wenn er zu Besuch mitgenommen wurde, aber jemand, der das Haus betreten wollte, in dem er der Herr war, erweckte immer seinen größten Argwohn. Er war, ungeachtet jeder Gefahr, immer auf dem Sprung, nicht nur zu bellen, sondern auch zu beißen, wenn er es für nötig hielt. Also, wo waren die beiden?

Er ging ein Stück die Straße entlang, entdeckte keine Spur eines kleinen schwarzen Hundes und einer mittelgroßen Frau in einem leuchtend roten Regenmantel, die irgendwo in Sichtweite spazieren gingen. Schließlich kehrte er ziemlich verärgert ins Haus zurück.

Dort duftete es sehr verlockend. Er lief in die Küche, wo Tuppence am Herd stand. Sie drehte sich um und lächelte.

»Du bist spät dran«, sagte sie. »Das ist ein Braten. Riecht es nicht gut? Ich habe alle möglichen Gewürze dran getan und Kräuter aus dem Garten. Wenigstens hoffe ich, dass es welche waren.«

»Wenn es keine sind, handelt es sich vermutlich um Belladonna und Digitalisblätter, was sich fein anhört, in Wirklichkeit aber Tollkirsche und Fingerhut sind. Wo um alles in der Welt hast du gesteckt?«

»Ich bin mit Hannibal spazieren gegangen.«

Hannibal hatte in diesem Augenblick seinen großen Auftritt. Er stürzte sich auf sein Herrchen und begrüßte ihn so überaus stürmisch, dass Tommy fast umfiel. Hannibal war ein kleiner schwarzer Hund, mit glänzendem Fell und interessanten braunen Flecken auf dem Hinterteil und an der Schnauze. Er war ein Manchester-Terrier edelster Rasse und fühlte sich jedem anderen Hund seiner Bekanntschaft an Klugheit und Vornehmheit weit überlegen.

»Ich habe dich gesucht«, sagte Tommy. »Wo bist du gewesen? Das Wetter war nicht sehr einladend.«

»Ja, es war etwas neblig und feucht. Puh, ich bin ziemlich müde.«

»Wohin bist du gegangen? Nur bis zu den Geschäften?«

»Nein, heute schließen die Läden früher. Ich war auf dem Friedhof.«

»Das hört sich seltsam an. Was wolltest du denn dort?«

»Ich habe nach bestimmten Gräbern gesucht.«

»Du klingst immer düsterer«, stellte Tommy fest. »Hat es Hannibal wenigstens Spaß gemacht?«

»Nein, den musste ich draußen anhängen. Ein Mann, der wie der Küster aussah, kam immer wieder aus der Kirche. Und ich dachte, er hätte es sicher nicht gern, wenn Hannibal… na, du weißt schon, falls Hannibal ihn nicht leiden konnte. Ich wollte die Leute nicht gleich gegen uns aufbringen, kaum dass wir eingezogen sind.«

»Und was hast du auf dem Friedhof tatsächlich gesucht?«

»Ich wollte nur wissen, wer da alles beerdigt ist. Viele Leute übrigens; er ist ziemlich voll, viele alte Gräber, auch aus dem vorigen Jahrhundert. Manche Steine waren so verwittert, dass sich die genaue Jahreszahl nicht feststellen ließ.«

»Ich begreife immer noch nicht, was du dort wolltest.«

»Ich habe Ermittlungen angestellt.«

»Ermittlungen?«

»Ich wollte nachsehen, ob die Jordans dort beerdigt sind.«

»Du meine Güte! Hast du diese Geschichte immer noch im Kopf?«

»Immerhin, Mary Jordan ist gestorben. Das wissen wir genau. In dem Buch steht, dass es kein natürlicher Tod war. Und deswegen muss sie irgendwo begraben sein, oder etwa nicht?«

»Zweifellos«, meinte Tommy, »es sei denn, sie liegt hier im Garten.«

»Das halte ich für nicht sehr wahrscheinlich, weil ich glaube, dass nur der Junge, dieser Alexander, Bescheid wusste. Er muss sich für sehr schlau gehalten haben. Aber wenn er der Einzige war, der sich das überlegt hatte – also, ich meine, niemand sonst ist vermutlich darauf gekommen. Sie ist demnach einfach gestorben, normal beerdigt worden und kein Mensch hat ein Wort darüber…«

»Keiner hat behauptet, es wäre nicht mit rechten Dingen zugegangen?«, schlug Tommy vor.

»Ja, irgend so etwas – vergiftet, oder ein Schlag auf den Kopf, ein Sturz über eine Klippe, vielleicht ein Autozusammenstoß. Da gibt es viele Möglichkeiten.«

»Die dir alle sofort einfallen«, sagte Tommy. »Ein Glück, dass du ein weiches Herz hast, Tuppence, und nicht zum Spaß diese Möglichkeiten durchprobierst.«

»Auf dem Friedhof liegt keine Mary Jordan. Es waren überhaupt keine Jordans da.«

»Wie bedauerlich. Sag mal, ist dein Braten bald fertig? Ich habe schrecklichen Hunger und es riecht köstlich.«

»Du brauchst dir nur noch die Hände zu waschen, dann können wir essen.«