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25

Der Hausgeist landete auf Hirads rechter Schulter. Der Barbar zuckte unwillkürlich zusammen und schnitt eine Grimasse.

»Wie haben sie uns gefunden?«, fragte er.

»Jemand hat uns verraten. Ein mächtiger Mann.« Wut und Überraschung waren herauszuhören. »Ihr müsst zum Triverne-See aufbrechen. Evanson wird euch führen.«

»Ich laufe nicht weg«, sagte Hirad bockig.

Der Hausgeist ignorierte die Antwort. »Ich werde sie ablenken, während ihr flieht.«

»Warum bleiben wir nicht einfach hier und schalten sie aus?«

Der Hausgeist starrte ihn an. »Du verstehst nicht. Sie sind zu mächtig für dich. Und für mich auch. Sie werden mich töten.«

Hirad fuhr hoch und runzelte die Stirn.

»Viel Glück, Rabenmann. Gib auf meinen Herrn acht.« Der Hausgeist flog durchs offene Fenster in den Nachthimmel hinaus.

 

Der Unbekannte bäumte sich auf, als seine Seele über die Dämonenkette in seinen Körper raste. Laryon lächelte, doch er war völlig unvorbereitet auf diese heftige Reaktion. Er hatte diese Möglichkeit nicht vorhergesehen. Die rückkehrende Seele zerstörte die Verankerung der Dämonenkette im Wesen des Unbekannten, und das Ergebnis war eine heftige Gegenreaktion.

Mit triumphierendem Heulen riss die Kette vom Körper des Unbekannten ab und schlug nach den beiden Magiern. Laryon wurde an der Schläfe getroffen und prallte gegen die Wand. Er sackte stöhnend zu Boden, aus dem Mund rann ein Blutfaden.

Der jüngere und schnellere Denser duckte sich rasch. Er spürte, wie das Mana über seinen Kopf hinwegsauste, und fühlte einen Zug im Haar, als die Dämonen körperliche Gestalt annahmen.

Er war jetzt auf sich allein gestellt und bemühte sich, das Ende des Mana-Kanals zu schließen, doch als er sah, wie das Ende der Kette das Mana zu zerfetzen drohte, wusste er, dass es vergebens war.

Als die Kette sich dann wie eine Schlange aufbäumte, um noch einmal zuzustoßen, spürte Denser etwas, das er noch nie in dieser Form empfunden hatte. Er hatte Angst. Angst, weil er nicht die Macht gehabt hatte, die Dämonenkette davon abzuhalten, körperliche Gestalt anzunehmen, und Angst, weil er sie nicht davon abhalten konnte, ihn zu töten. Doch vor allem hatte er Angst, weil er nicht wusste, was man in so einem Fall tun musste, und diese Bildungslücke sollte sich nun als tödlich erweisen.

Die Kette wand sich, Densers Mana-Kanal wurde zerfetzt, und die Dämonen brüllten ihm ihren Hass in die Ohren. Sie verhießen ihm den Tod. Sie versprachen ihm ewige Qualen und lachten über seine Schwäche.

Die Kette schlug nach ihm und verfehlte ihn knapp, weil er im letzten Moment zur Seite sprang. Er landete schwer neben dem reglosen Laryon. Der Magier lebte noch. Denser schüttelte ihn heftig.

»Helft mir!«, rief er. Laryon stöhnte. »Helft mir!«, rief Denser. Aus dem Augenwinkel sah er die Kette mit irrwitziger Geschwindigkeit erneut ausholen und geräuschvoll knapp am Kopf des Unbekannten vorbeizischen. Der Krieger lag langsam atmend auf der Platte und wusste nicht, was um ihn geschah.

Laryon sagte etwas, das Denser nicht verstehen konnte.

»Was?«

»Lischp«, sagte Laryon.

»Das verstehe ich nicht.«

Laryon schlug die Augen auf und schaute an Denser vorbei, dann packte er den Kopf des Magiers mit beiden Händen und zog sein Ohr nahe an seinen Mund. »Lichtspiegel«, flüsterte er, bevor er Densers Kopf fest an die Brust presste. Über Denser fuhr die Dämonenkette in Laryons Gesicht, und sein Schmerzensschrei brach abrupt ab. Seine Hände sanken kraftlos zu Boden.

Denser sah hinter sich. Die Dämonenkette zuckte, immer noch mit dem Boden der Kammer verbunden. Das Gelächter hallte von den Wänden wider, der Triumph schien vollkommen.

Denser kam mühsam auf die Beine und hielt noch einmal kurz inne, um nach Laryon zu schauen. Er schauderte. Der Meister schien äußerlich unverletzt und hatte im Tod die Augen geöffnet. Durch sie konnte Denser in seine Seele sehen. Doch die Seele war nicht mehr da.

Er drehte sich wieder zur Dämonenkette um und bildete die Mana-Form für den Lichtspiegel. Es war eine einfache, rechteckige Struktur, die er in wenigen Sekunden aufgebaut hatte. Die Kette spannte sich wieder und drehte sich um sich selbst wie Papier im Wirbelwind. Dann verharrte sie, bereit zum Zuschlagen, und Denser hörte die wilden Wutschreie in seinen Ohren hämmern.

Als sie zuschlagen wollte, wirkte er den Spruch. Ein dünner, horizontaler Lichtstrahl von etwa acht Fuß Breite durchschnitt dicht über dem Fußboden den von Kerzen erhellten Raum. Die Kette peitschte nach vorn, und Denser riss abrupt die Hände hoch. Der Lichtspiegel kippte in die Senkrechte, als wäre eine Jalousie vor einem Fenster hochgezogen worden, um die Sonne einzulassen.

Strahlendes Licht durchflutete den Raum. Der Spruch sammelte das Kerzenlicht und warf es hundertfach verstärkt zurück. Die Dämonenkette kreischte erschrocken und wollte sich zurückziehen, doch ihr blaues Mana-Licht fiel dem Spiegel zum Opfer.

Denser schirmte die Augen ab, als das Licht mit zunehmender Geschwindigkeit aus den heulenden Dämonen gesogen wurde. Immer heftiger und schneller strömte das Licht in den Spiegel, und die Mana-Kreaturen heulten, als ihnen die Lebenskraft entzogen wurde. Dann waren sie verschwunden, und es wurde still. Nur das Echo der Gewalttaten und ein sanfter blauer Schein blieben im Mana-Spektrum zurück.

Denser wechselte zum normalen Licht und sah, dass der Unbekannte sich aufgesetzt hatte.

 

Sie ließen das Licht im Bauernhaus brennen. Hirad gefiel es nicht, aber es war sinnvoll. Der Triverne-See war der einzige Zufluchtsort für den Raben und – vielleicht noch wichtiger – für die beiden Katalysatoren, die er besaß. Da dort am See alle vier Kollegien stark vertreten waren, sollte es keine Bedrohung geben. Dennoch fühlte er sich unbehaglich. Er brauchte Ilkar. Ilkar hätte die rechten Worte gekannt, um ihnen die Reise und die Ankunft zu erleichtern. Ohne ihn und sein Wissen fühlte Hirad sich verloren.

Angeführt von dem verwirrten, aber gehorsamen Evanson spornten sie die Pferde an und ritten nach Norden in die zunehmende Dunkelheit hinein. Hirad suchte den Himmel nach dem Hausgeist ab. Er konnte ihn nicht sehen, wusste genau, dass er ihn nicht zu sehen bekommen würde, und verspürte ein leichtes Bedauern. Der Dämon war kein Wesen, das man irgendwie ins Herz schließen konnte, aber man konnte ihn respektieren. Im Gegensatz zu Ilkar konnte er den Hausgeist nicht als etwas prinzipiell Böses sehen, und die Behauptung des Wesens, es werde sterben, während es für Ablenkung sorgte, beschrieb ein Opfer, für das man Hochachtung empfinden musste.

Wahrscheinlich wusste es auch Denser, und das Wissen, dass der Magier aufrichtig entschlossen war, Dawnthief einzusetzen, um Balaia zu retten, ließ in Hirad Schuldgefühle keimen, weil er überhaupt einmal daran gezweifelt hatte. Er trat seinem Pferd die Hacken in die Flanken und schloss zu Evanson auf. Er fragte sich, wie man sie wohl am See empfangen würde.

 

Sie hatten ihn nicht gespürt, und er grinste. Sie ritten über offenes Gelände, noch eine gute Stunde vom Bauernhaus entfernt und abseits der Wege. Zwölf waren es, die in Dreiergruppen ritten, jeweils ein Magier und zwei Protektoren. Sie hielten die Formation und waren auf Angriffe am Boden gefasst, doch sie waren gegenüber allem, was aus der Luft kam, völlig schutzlos. Er kreiste hoch im dunkelnden Himmel und sandte durchs Mana einen Warnruf zu seinem Herrn, als er ein Ziel auswählte, dessen Vernichtung einen möglichst großen Schaden anrichten sollte.

Da war er, und der Anblick jagte einen heißen Angstschauer durch seinen Körper. Nyer, der Xetesk-Meister. Der Mann, mit dem sein Meister so lange Kommunion gehalten hatte. Ein Verräter, dem Tode geweiht.

Er flog höher; der stumme Tod schwebte über dem nichtsahnenden Opfer.

Er stieß hinab und unterdrückte den Drang, kreischend zu lachen und entzückt zu gurgeln. Er hatte den Blick auf Nyers Kopf gerichtet, legte die Flügel an und schoss durch die Luft. Schließlich spreizte er sie wieder, um den Sturz abzufangen, brachte die Füße mit den Krallen nach vorn und stach sie tief in den ungeschützten Hals des Meisters.

Nyer grunzte und kippte vom Pferd; hilflos rollte er in den Schmutz. Die Protektoren stießen Warnrufe aus, doch es war zu spät. Als sie anhielten, herumfuhren und näher kamen, bog der Hausgeist seinen Rücken durch, hieb Nyer die Fäuste auf den Kopf und zerschmetterte seinen Schädel.

Jetzt lachte er und drehte sich nach seiner nächsten Beute um. Mit einem Flügelschlag war er wieder in der Luft und schoss an einem überraschten Protektor vorbei, der ziellos mit dem Schwert herumfuchtelte.

Vor Erregung schnatternd, hob sich der Hausgeist wieder in die Lüfte und suchte den Boden ab, wo die drei übrigen Magier angehalten hatten und Sprüche vorbereiteten, um ihn vom Himmel zu holen. Doch er wusste, dass er in Sicherheit war. Sein Meister hatte seinen Ruf beantwortet, er war bereit und kam. Eine Wärme breitete sich in seinem Herzen aus, das mit erneuerter Kraft schlug. Er machte vor Freude einen Überschlag in der Luft.

Der Spruch traf sein linkes Bein und versengte seinen Schwanz.

Schmerz.

 

Denser raste durch die Luft; den Schattenschwingen hatte er die Form für hohe Geschwindigkeit gegeben. Er schrie gequält, als die Verletzung seines Hausgeistes wie ein Donnerschlag durch seinen Kopf fuhr. Mühsam behielt er die Konzentration bei und flog weiter, während Tränen über seine Wangen rannen und seinen Blick verschwimmen ließen.

Er sah sich über die linke Schulter um. Der Unbekannte war dicht hinter ihm, und Denser hatte noch genug Kraft, um die Art und Weise zu bewundern, in der er sich mit der Benutzung der Schattenschwingen abgefunden hatte. Jeder Protektor besaß die Fähigkeit, Mana zu halten, das ihm eingegeben wurde, doch dieser Mann war kein Protektor mehr. Die Probleme würden vermutlich beginnen, wenn er innehielt und Zeit zum Nachdenken hatte.

»Was ist denn los?«, rief der Unbekannte.

»Sie haben ihn getroffen, die Hunde. Sie haben ihn verletzt.« Denser holte tief Luft und spannte seine Flügel noch mehr, um die Geschwindigkeit zu erhöhen. Der Unbekannte folgte seinem Beispiel, ohne genau zu verstehen, was er da eigentlich tat.

Der Hausgeist war geschwächt. Die Schmerzen trieben ihm die Tränen in die Augen, und er hielt sich mühsam in der Luft, während das Feuer seinen Schwanz und sein Bein zerfraß. Sein Meister kam, doch er konnte die Richtung nicht feststellen, und die dunkle Wolke, die ihm das Bewusstsein zu stehlen drohte, trieb jeden klaren Gedanken aus seinem Kopf. Er kreiste weiter und bemerkte irgendwie, dass ein Magier unter ihm einen weiteren Spruch vorbereitete. Jetzt weinte er, denn er wusste, dass der Tod nahe war.

»Meister«, keuchte er. »Komm her und räche mich.«

Der Spruch traf ihn an der Kehle. Der Hausgeist verglühte und stürzte zur Erde.

Nichts hätte Denser darauf vorbereiten können. Es war, als würden ihm Nadeln durch die Augen getrieben, als zerquetsche man sein Gehirn mit einem Stein. Das letzte gequälte Flüstern seines Hausgeistes und sein Tod zerstörten seine Mana-Reserven und raubten ihm das Bewusstsein. Die Schattenschwingen verschwanden, und er stürzte vom Himmel.

Der Unbekannte sah es kommen, er sah, wie Denser den Kopf zurückriss und sich die Hände vor das Gesicht schlug, als wollte er sich den Schädel zerfetzen. Er sah die Flügel flattern, ein helles Blitzen vor dem dunklen Himmel, dann waren sie verschwunden. Er war bereits langsamer geworden und tauchte sofort hinunter, als Denser zu stürzen begann, schoss an ihm vorbei, legte sich in die Kurve, drehte um und fing ihn beim zweiten Versuch etwa fünfzehn Fuß über dem Boden ab.

Den bewusstlosen Dunklen Magier in den Armen tragend, schwebte er auf der Stelle und gewann langsam wieder an Höhe. Das Gesicht des Magiers war bleich in der Dämmerung und vor Schmerzen verzerrt. Der Unbekannte musste ihn beschützen. Er runzelte die Stirn, als er sich erinnerte, dass er einmal Hass empfunden hatte. Doch das schien lange her zu sein. Andere Erinnerungen drangen langsam durch den Morast seines kürzlich umgeformten Bewusstseins in den Vordergrund, doch er schob sie zur Seite und konzentrierte sich auf die Schattenschwingen.

Und er war zornig. Er empfand Zorn über diejenigen, die Denser verletzt hatten. Wut auf Xetesk, weil man ihn als Protektor eingefangen und ihm den Tod gestohlen hatte. Doch auch das Bedürfnis, Rache zu üben, musste beiseitegeschoben werden. Er musste jetzt den Raben wieder zusammenbringen. Er flog zum Triverne-See.

 

Selyn dachte über den besten Weg zur Pyramide nach. Die übliche professionelle Gelassenheit wurde von einem kalten Schauder durchbrochen, als sie die letzte halbe Meile abzuschätzen versuchte. Es war nicht so, dass sie sich Sorgen machte, ob sie es überhaupt lebend schaffen konnte. Nein, da war noch etwas anderes. Parve war getränkt mit einer Atmosphäre von Macht, Kraft, Furcht und Erwartung. Es war, als spürten selbst die Steine der wiederaufgebauten Stadt der Wytchlords, dass bald etwas geschehen musste.

Xetesk war schon seit Monaten insgeheim über die Bedrohung durch die Wesmen im Bilde. Die Flucht der Wytchlords hatte Xetesk veranlasst, offene und verdeckte Aktionen einzuleiten. Jetzt war sie hier, um die letzte Frage zu beantworten. Und die Frage lautete nicht mehr »ob«, sondern nur noch »wann«.

Das Gebäude, auf dem sie in der letzten Stunde ausgeruht hatte, war ringsum von Straßen umgeben. An der Längsseite standen Schornsteine. Sie kauerte hinter dem mittleren, verharrte reglos und bewegte vorsichtig den Kopf hin und her, um ihre Position zu bestimmen.

Hinter ihr verlor sich die Torn-Wüste in der nächtlichen Dunkelheit. Vom Lärm der Lager war hier in der Stadt nichts mehr zu hören. Rechts standen niedrige Gebäude, allesamt unbeleuchtet, und etwa hundert Schritt dahinter waren Ruinen zu erkennen. Doch vor allem erregte das, was links vor ihr lag, ihr Interesse.

Eine Querstraße weiter führte eine der vier Hauptstraßen bis zum zentralen Platz von Parve und zur Pyramide, die ihn beherrschte. Die breite Straße verlief etwa eine halbe Meile weit geradeaus, bis sie in den Platz mündete. Wenn Selyns Informationen zutrafen, dann führte ein versiegelter, mit mächtigen Zaubern geschützter Tunnel in die Pyramide. Ringsum präsentierten Skulpturen verschiedene Kriegsszenen. Doch es war lange her, dass ein Xeteskianer das letzte Mal die Ruinen von Parve betreten hatte, und die Götter allein mochten wissen, was sich inzwischen verändert hatte. Sie musste herausfinden, ob der Tunnel offen war. Wenn er es war, dann blieb nicht mehr viel Zeit.

In der Stadt war es ruhig. Sie konnte einige Gestalten sehen, die sich vor ihr in den Straßen bewegten, doch verglichen mit dem Betrieb in Xetesk zur Dämmerung – von Korina oder Gyernath ganz zu schweigen – war dies überhaupt nichts. Es sollte ihr leicht möglich sein, den Tunnel zu erreichen, doch irgendeine innere Stimme mahnte sie zur Vorsicht. So blieb sie, wo sie war, und beobachtete.

Drei Stunden später, als stockdunkle Nacht herrschte, wurde sie dafür belohnt, dass sie auf ihre Instinkte gehört hatte. Am Rande ihres Gesichtsfeldes sah sie eine Bewegung auf dem Platz, wo ihrer Ansicht nach der Tunneleingang sein musste. Dunkle Gestalten bewegten sich vor den Feuern auf der freien Fläche, und auch wenn sie aus dieser Entfernung nicht viel erkennen konnte, kam es ihr vor, als liefen Wellen über den ganzen Platz. Es lag sicher nur am schlechten Licht.

Die dunklen Gestalten teilten sich in vier Gruppen und verließen den Platz in Richtung der Torn-Wüste. Es waren Reiter, und einige von ihnen kamen so nahe an ihrem Versteck vorbei, dass Selyn sie erkennen konnte. Schamanen.

Somit konnte man als bewiesen betrachten, was bisher nur eine Mutmaßung gewesen war. Die Wytchlords kontrollieren die Wesmen unmittelbar über die Schamanen, und sie besaßen gewiss eine starke Magie. Als die Reiter die Stadt verlassen hatten, setzte sie sich in Bewegung.

Sie sprang an der Rückseite hinunter, drückte sich in die Schatten und stieß vorsichtig, aber rasch bis zum Hauptplatz vor. Parve war in einem strikten Schachbrettmuster angelegt, was auch Ortsfremden die Orientierung sehr leichtmachte. Andererseits wurde es dadurch viel schwerer, sich zu verstecken. Selyn sah sich immer wieder nach Öffnungen, Seitengassen und tiefen Schatten um, während sie sich vorarbeitete, und prägte sich alles ein, was ihr bei einer etwaigen Flucht nützlich sein könnte.

Abseits der Hauptstraßen war die Stadt dunkel und verlassen, aber seltsam sicher. Es gab keine Patrouillen, deren Schritte auf dem neuen Pflaster hallten, keine zwielichtigen Gestalten, die umherhuschten und dem unvorsichtigen Reisenden oder dem verirrten Trinker auflauerten. Es war still, und es fehlte etwas … Atmosphäre. Dann fiel es ihr auf, und sie blieb stehen und atmete noch einmal tief ein.

Es war nicht die Stille, die sie hatte innehalten lassen. Da war noch etwas anderes. Eine Aura, die sich über die Stadt gelegt hatte wie eine Decke. Parve ruhte und schlief. Doch die Stadt wartete auf das Erwachen.

Selyn ging schnell weiter und eilte über eine breite, mit großen Steinen gepflasterte Straße, bis sie sich zwei Querstraßen vom Platz und der Pyramide entfernt wieder im Schatten verstecken konnte. Sie zog sich tief in einen Hauseingang zurück und wartete, bis ihr Atem langsamer ging und ihr Herzschlag sich beruhigt hatte. Man hatte sie entdeckt, und sie wurde verfolgt. Sie hatte nichts gehört oder gesehen, doch ihr Instinkt sagte ihr alles, was sie wissen musste.

Der Mann kam langsam und vorsichtig um die Ecke, seine Schritte waren kaum zu hören. Selyn wartete völlig reglos und überlegte, ob sie besser zuschlagen oder weglaufen sollte. Von ihrer Position aus, im Schatten verborgen, konnte sie sehen, wie er an der gegenüberliegenden Mauer entlanglief. Ihr Herz sank. Es war ein Schamane, und wenn er seine Sinne beisammenhatte, dann konnte er sie aufspüren. Ihre Atemzüge wurden kürzer, als sie ihre Handgelenkbolzen mit den Lederriemen aktivierte, die über beide Handflächen liefen und mit Schlaufen an den Mittelfingern befestigt waren. Jetzt reichte es aus, die Hand rasch nach oben abzuknicken, um die Bolzen abzufeuern.

Der Schamane ging weiter an der Mauer entlang, strich mit der Hand leicht über die Ziegelsteine und verschwand aus ihrem Gesichtsfeld. Stille herrschte wieder in der Straße. Selyn wartete gespannt. Fünf Minuten. Zehn. Als ihr Gehör sich umgestellt hatte, nahm sie den Lärm der Menschen vor den Feuern auf dem Platz wahr, das ferne Trappeln von Hufen auf Stein, eine Tür, die geschlossen wurde. Fünfzehn Minuten.

Dann stand er vor ihr, und der Gestank seiner Pelze stach ihr in die Nase. Sein dunkles Gesicht und die kalten Augen waren dicht vor ihr. Er streckte den Arm aus.

»Glaubst du wirklich, ich könnte dich nicht riechen, Xeteskianerin?« Er sprach mit schwerem Akzent, die Worte passierten nur mühsam seine Kehle.

Selyn sagte nichts. Sie schlug mit der rechten Hand seinen Arm weg, knallte ihm den linken Handballen ins Auge und zog die Hand hoch. Der Bolzen traf sein Ziel. Er starb auf der Stelle und ging wie ein nasser Sack zu Boden.

»Verdammt auch«, keuchte sie. Sie rollte ihn auf den Rücken und barg den Bolzen, den sie an seinem Fellumhang abwischte. Sie hatte Mühe mit dem schweren Körper, als sie ihn in die Schatten des Eingangs zerrte. Was hatte er so weit abseits der anderen und zu Fuß getan? Jetzt musste sie sich beeilen. Es würde nicht lange dauern, bis der Schamane vermisst wurde.

Weniger als fünf Minuten später erreichte sie den Platz und hatte Mühe, bei dem Anblick, der sich ihren Augen bot, ruhig zu bleiben. Der Platz war etwas mehr als eine Viertelmeile breit und mit weißem Stein gepflastert. Von Osten her führte ein mit schimmerndem Quarz ausgelegter Weg zur Pyramide. Das Grabmal der Wytchlords ragte mindestens zweihundert Fuß hoch in den Nachthimmel empor. Abgesehen von der Treppe, die zu den sechs Wachfeuern auf der Spitze führten, war das Bauwerk fugenlos glatt. Es war ein atemberaubender Anblick und den ärgsten Feinden, die Balaia je gehabt hatte, durchaus angemessen.

Diese Feinde hatten sich nun erneut erhoben. Selyn betrachtete die erstaunliche Architektur, doch zugleich starrte sie fassungslos über das Heer der Jünger, die reglos und schweigsam vor dem offenen Eingang des Tunnels knieten.

Auf dem Platz vor der Pyramide drängten sich die mit dunklen Kapuzenmänteln bekleideten Jünger und starrten in die von Laternen eingerahmte schwarze Öffnung. Sie warteten, weiter nichts. Selyn spürte die Atmosphäre wie einen körperlichen Druck, der auf ihren Schultern lastete. Die Luft war zum Schneiden dick und knisterte vor Erwartung. Doch am stärksten war das Gefühl des anstürmenden Bösen, das sie beinahe auf der Zunge schmecken konnte. Über der Pyramide brauten sich die Wolken zu einer undurchdringlichen schwarzen Masse zusammen. Selyn schauderte. Das einzige Geräusch, das sie außer ihrem eigenen pochenden Herzen hören konnte, war der Atem der Jünger, langsam und bewusst gesteuert, als gehöre diese Übung zu irgendeiner Zeremonie, die jeden Augenblick beginnen sollte.

Mehr brauchte sie nicht zu sehen. Das Wiedererwachen musste in wenigen Tagen, vielleicht sogar schon in Stunden geschehen. Sie kehrte zu ihrem Dach zurück und begann die Kommunion mit Styliann.

 

»Faszinierend«, sagte Styliann, während er den Unbekannten umkreiste. »Ein Protektor ohne Maske.«

Der Unbekannte und Denser standen im Zelt, aus dem die Utensilien der Konferenz bereits entfernt worden waren. Die Tische und Stühle waren fort, zum Transport verpackt, und die Delegationen planten bereits den Aufbruch in die relative Sicherheit ihrer eigenen Städte. Es würde keine weiteren Konferenzen am See mehr geben, bevor nicht der Krieg beendet war. An Stelle der Möbel hatte man einen groben Tisch und Bänke ohne Lehnen aufgestellt. Auf einem Feuer kochte ein Topf Wasser.

Hinter ihnen am Tisch saßen Ilkar und Erienne, die gerade erst eingetroffen waren. Der Julatsaner hatte aus seiner Freude, den Unbekannten zu sehen, und aus seiner Bewunderung für Denser keinen Hehl gemacht. Barras hatte ihn beruhigt, doch Ilkar lächelte immer noch breit, und die Brote auf dem Tisch blieben unbeachtet. Erienne war sofort zu Denser geeilt, um ihn zu trösten und seine Schmerzen ein wenig zu lindern, doch er hatte ihre Gegenwart kaum wahrgenommen. Die Ältesten der Kollegs standen in der Nähe und waren wider Willen beeindruckt über die Leistung, die Laryon mit seinem Leben bezahlt hatte.

Der Unbekannte starrte auf Styliann hinab. Vor seinem mächtigen Körper wirkte sogar der xeteskianische Herr vom Berg eher unbeeindruckend. Der große Krieger hatte die Axt abgelegt, die Sol benutzt hatte, und wieder das Zweihandschwert genommen, das sein Markenzeichen war.

»Ich bin kein Protektor«, sagte er. »Ich bin auch kein Ergebnis eines Experiments, das von Euch oder irgendeinem Magier erforscht werden könnte. Wenn Ihr mit mir reden wollt, dann stellt Euch vor mich und seht mich an.«

Styliann beendete seine Wanderung. »Entschuldigt, Unbekannter.« Er lächelte. »Aber Ihr seid ein Meilenstein der magischen Forschung und ein wichtiger Schritt vorwärts für Xetesk.«

»Ich bin ein Toter, der wieder lebt«, konterte der Unbekannte. »Ich hätte den Tod vorgezogen, doch Xetesk hat sich anders entschieden. Dies war das letzte Mal, dass Ihr über mein Schicksal entschieden habt.«

»Das klingt ein wenig undankbar. Immerhin haben wir Euch Euer Leben zurückgegeben.«

Die Hände des Unbekannten schossen vor, packten Stylianns Kehle und drehten seinen Kopf, bis ihre Blicke sich begegneten.

»Nein. Ihr habt mir meinen Tod gestohlen.« Stylianns Hände bewegten sich. »Lasst das bleiben. Ihr seid nicht schnell genug. Aber versucht es nur, wenn Ihr meint.« Die Hände des Unbekannten spannten sich, Styliann würgte und machte eine beschwichtigende Geste. »Ich hatte den Zeitpunkt meines Todes gewählt. Nicht viele Männer bekommen diese Chance. Ihr habt mir dieses Privileg genommen.«

»Ihr lebt aber«, keuchte Styliann.

»Ich könnte jederzeit meine eigene Leiche besichtigen.«

»Denser, bitte.« Styliann umklammerte einen Arm des Unbekannten.

Denser schien erst jetzt zu bemerken, was da vor sich ging. Er betrachtete die anderen Delegierten und die xeteskianischen Schwertkämpfer, die sich bereithielten. Auch Ilkar beobachtete Styliann wie gebannt.

»Unbekannter, bitte lass ihn los.«

Der Unbekannte ließ los und wandte sich an Denser. »Entschuldige«, sagte er.

Denser zuckte mit den Achseln. Styliann winkte seinen Männern, sich zurückzuhalten, doch er starrte den Unbekannten böse an.

»Ich werde nicht Euer Ausstellungsstück sein«, sagte der Unbekannte. »Ich gehöre zum Raben.«

»Denser, lasst uns reden. Draußen.« Styliann verließ steifbeinig das Zelt.

Denser seufzte, folgte ihm und drückte den Arm des Unbekannten, als er ging. Draußen bemerkte er, dass Vuldaroq breit lächelte.

Styliann entfernte sich nur einige Schritte vom Zelt, ehe er seine Assistenten fortscheuchte.

»Erzählt mir über Euren Zustand.«

Denser rieb sich die tiefliegenden, roten und von dunklen Ringen umgebenen Augen.

»Ich kann meine Mana-Reserven nicht richtig aufbauen, meine Konzentration ist zu schwach für komplizierte Sprüche, und ich kann meinen Blick nicht aufs Mana-Spektrum richten.« Es war das, was Styliann hören wollte, doch es verriet nichts über Densers wahre Verfassung.

Das Gefühl von Verlust durchdrang ihn bis ins Knochenmark; sein ganzer Körper war eiskalt. Sein Bewusstsein war zugleich voller Bilder und völlig emotionslos. Der Teil seines Bewusstseins, der mit dem Hausgeist so lange verbunden gewesen war, fehlte auf einmal, und Denser stellte sich vor, er habe über dem rechten Auge ein schmerzendes Loch. Nur wenn er die Hand darauf legte, fühlte er, dass der Schmerz im Innern war und sich nicht lindern ließ.

Der Verlust der Stimme und des Pulsierens schmerzte mehr als die Qualen, die er beim Tod des Hausgeistes empfunden hatte. Seine Stimme hatte ihm Ruhe und Trost geschenkt, doch das Pulsieren hatte er als selbstverständlich betrachtet. Als etwas, das zu ihm selbst gehörte. Jetzt war das Pulsieren fort, weil ein Teil von ihm gestorben war.

»Ihr werdet bald wieder über Eure Fähigkeiten verfügen können. Ihr braucht nur etwas Ruhe. Und was den Kummer angeht, so wird dieser bleiben, fürchte ich.« Styliann sah ihn nicht unfreundlich an. »Es tut mir leid, dass es geschehen ist, aber ich begreife nicht ganz, warum er Nyers Gruppe angegriffen hat. Was aber nicht heißen soll, dass ich über den Tod des Verräters unglücklich bin.«

»Er war der Ansicht, er müsse Nyer ablenken. Er dachte, sie seien schon zu nahe.« Denser zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hätten sie sonst den Raben geschnappt, bevor er hier eingetroffen wäre.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass es unbedingt nötig war. Möglicherweise dachte er, er müsse seinen Wert unter Beweis stellen.«

»Seinen Wert?« Styliann runzelte die Stirn. »Er war ein Hausgeist. Er hatte keine Vorstellung vom Wert eines Gefährten.«

»Hattet Ihr schon einmal einen Hausgeist?«, fragte Denser. Styliann schüttelte den Kopf. »Dann könnt Ihr auch nicht wissen, welche Vorstellungen sie haben. Ich habe es gefühlt, ich weiß es.«

Styliann nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. Er blickte zum Morgenhimmel hinauf und betrachtete die leichte Wolkendecke. »Zeigt mir die Katalysatoren«, sagte er schließlich.

»Ich habe sie nicht.«

»Wo sind dann …«

»Der Rabe hat sie. Ich konnte sie ja nicht nach Xetesk mitnehmen.«

Styliann schnaufte schwer. »Nein, es war wohl besser so.«

Eine kurze Unruhe in einem anderen Teil des Lagers unterbrach ihr Gespräch. Zuerst war sich näherndes Hufgetrappel zu hören, dann bogen der Rabe und Evanson um ein Gebüsch. Sie zügelten dicht vor dem Zelt ihre Pferde und stiegen ab. Hirad schritt sofort erwartungsvoll zu Denser. Doch die Frage, die er stellen wollte, blieb ihm im Hals stecken, als er Densers Augen sah. Er neigte respektvoll den Kopf und fasste dicht unter der Schulter den rechten Arm des Magiers.

»Ich verstehe deinen Kummer«, sagte er.

»Und ich verstehe deinen Zorn«, erwiderte Denser. Er hielt inne und brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Er ist drinnen.«

Der Unbekannte saß an einem primitiven Tisch auf der Bank und redete mit Ilkar und Erienne, als Hirad den Vorhang zur Seite zog und hereinkam. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als er den großen Mann einen Moment lang beobachtete, bis er sicher war, dass seine Stimme ihm wieder gehorchen wollte.

Die Mimik, die energischen Bewegungen, wenn er die Hände gebrauchte, die Art und Weise, wie er sich über den Schädel und den Hinterkopf bis zum Nacken strich, als wollte er eine Falte glätten. Alles war da. Wo vorher Sol gewesen war, saß jetzt der Unbekannte. Keine Maske, keine emotionslosen Augen, keine doppelschneidige Axt.

»Bei allen Göttern, du bist es wirklich.« Seine Stimme brach, und eine Träne schimmerte in seinem Auge. Er wischte sie fort, als er ganz ins Zelt trat. Der Unbekannte kam um den Tisch herum, und die beiden Männer umarmten sich. Hirad klopfte dem großen Krieger auf den Rücken. »Wie fühlst du dich?«

Der Unbekannte wich einen Schritt zurück. »Das weiß ich nicht«, sagte er. »Ich weiß aber, dass ich es bin.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich wusste es ja schon vorher … du hast mich erkannt. Als ich noch Sol war. Aber ich konnte nicht mit dir sprechen. Irgendetwas hat mir verboten, dich ebenfalls zu erkennen, auch wenn meine Augen mich verraten haben. Hirad, ich sollte tot sein.«

»Aber du bist nicht tot, und es ist mir egal, wie es dazu gekommen ist. Du bist es. Bei den Göttern, du bist es wirklich.«

»Würdest du das auch noch sagen, wenn du zu Septerns Scheune zurückkehrtest?«

»Ich …« Hirad hielt verwirrt inne. »Ja, warum eigentlich nicht?«

»Weil ich immer noch dort unter der Erde liege. Wo ist Denser?« Der Unbekannte schaute an Hirad vorbei.

»Draußen«, sagte der Barbar unbestimmt. »Was willst du denn von ihm?«

»Ich muss mich um ihn kümmern.« Er entfernte sich von Hirad, der Anstalten machte, ihm zu folgen.

»Lass ihn«, sagte Ilkar. »Komm her und trink und iss etwas. Du musst doch am Verhungern sein.«

Hirad beobachtete den Unbekannten, bis dieser das Zelt verlassen hatte. »Ja, ich bin völlig erledigt«, gab er zu. »Was ist hier eigentlich los?« Er ging zum Tisch. Ilkar schenkte ihm einen Becher Wein ein und schob ihm die Teller mit Fleisch und Brot hinüber.

»Setz dich«, sagte Ilkar. »Du musst verstehen, wie schwierig es für ihn ist, dies alles zu akzeptieren.«

Hirad starrte ihn an, er verstand überhaupt nichts mehr.

»Schau her, Hirad, für uns ist er der Unbekannte, den wir von früher kennen. Er sieht so aus, er bewegt sich so, er redet so, alles passt. Die Narben auf seinem Rücken und seinem Schenkel sind da, auch der Knoten an seinem Knie, und seine kleine Zehe fehlt. Er ist es, genau wie wir ihn kennen. Seine Seele ist da, sein Bewusstsein, seine Erinnerungen, alles. Aber er weiß etwas, das keiner von uns wirklich begreifen kann. Er weiß, dass er losgehen und seine eigene Leiche ausgraben könnte. Denk doch mal darüber nach.«

Hirad überlegte einen Moment. »Was hat das denn alles zu bedeuten, und warum macht er sich solche Sorgen um Denser?«

»Ich glaube, er ist im Augenblick ziemlich verwirrt. Erienne wird sicher bestätigen, dass nicht alles, was er sagt, völlig verständlich ist.« Erienne nickte. »Er verdrängt im Augenblick, was er nicht bewältigen kann, und so tut er das Naheliegende und will Denser beschützen. Vergiss nicht, dass es erst gestern geschehen ist, Hirad. Er selbst hat es ganz gewiss nicht vergessen. Vielleicht vergisst er es nie mehr. Tatsache ist, dass wir es einfach nicht genau wissen.«

»Also ist er es?«, fragte Hirad.

»Ja, bei den Göttern, ja.« Ilkar beugte sich vor. »Aber er hat ein paar einzigartige Probleme, die nur er ganz allein lösen kann. Du musst ihm Zeit lassen.«

»Ich wusste doch, dass es zu schön war, um wahr zu sein.«

»Hirad, beruhige dich. Er dachte, er sei tot, er ist als Protektor wieder erwacht, und dann noch einmal als er selbst. Lass ihm Zeit.« Ilkar hielt Hirads aufgebrachtem Blick stand. Er sah die Enttäuschung in den Augen des Barbaren. »Alles klar?« Hirads Kopf zuckte, und Ilkar beschloss, es als knappes Nicken zu nehmen. »Gut. Und jetzt iss etwas. Wir haben viel zu besprechen, wenn du dich ausgeruht hast.«

 

Selyn erwachte, als sie ringsum Rufe hörte. Sie erschrak, blieb flach ausgestreckt liegen und lauschte. Die Dämmerung war vor etwa einer Stunde angebrochen. Die Zeit hatte nicht ausgereicht, um ihre Mana-Reserven völlig zu erneuern, aber sie hatte wieder etwas Kraft.

Eine Suche war im Gange, und sie begriff, dass die Wesmen die Straßen von Parve durchkämmten. Wahrscheinlich hatten sie den toten Schamanen gefunden. Selyn runzelte die Stirn und nahm die Blende von den Augen, die im unverhofften Licht ein wenig wässrig wurden.

Sie sagte sich, sie habe wohl etwas Pech gehabt, dass der Tote so bald schon gefunden worden war. Nach der organisierten Art und Weise zu schließen, in der man unten vorging, war der tote Schamane sicher schon vor der Dämmerung entdeckt worden.

Auf dem Bauch liegend kroch sie bis zur Dachkante vor und spitzte die Ohren, um herauszufinden, wie weit die Suche bereits gediehen war. Sie wusste, dass direkt unter ihr niemand war. Hinter ihr, in Richtung des Platzes, waren laute und regelmäßige Rufe zu hören. Türen knallten, Holz splitterte, Gebäude wurden erkundet. Sie gingen sehr, sehr methodisch vor, wenn man berücksichtigte, dass sie Wesmen waren. Doch sie waren eben nicht nur Wesmen, sondern auch Anhänger der Wytchlords. Sie waren äußerst gründlich.

Sie formte die Mana-Gestalt für den Tarnzauber, sprach das Befehlswort und sprang auf den Boden, um sich in die Torn-Wüste zurückzuziehen. Sie ging schnell, aber vorsichtig am letzten Gebäude vorbei. Kein Verfolger ließ sich blicken. Hinter einem großen Schutthaufen setzte ihr Herz aus, und sie blieb abrupt stehen. Der Ostrand Parves war von einem Sperrgürtel von Wesmen umgeben, die Schulter an Schulter standen. Sie drehte sich um und rannte in die Stadt zurück.

Als sie sich wieder zwischen den Gebäuden bewegte, sah sie die Sperrkette auch dort. Wesmen und Schamanen riegelten systematsich alle Straßen ab. Sie rückten vor, schauten, suchten. Im Innern und außerhalb der Gebäude, in allen Kellern und auf den Dächern. Sie saß in einem Netz mit feinen Maschen fest, das gerade zugezogen wurde.

Sie trabte nach links zur Hauptstraße und behielt die rechte Seite im Auge, wo die Wesmen vorrückten. Sie waren nur noch zwei Querstraßen entfernt und kamen stetig näher. Auch die Hauptstraße war von Wesmen abgesperrt, in der Mitte ging ein Schamane. Die Verfolger wussten, dass sie hier war, sie wussten, dass Selyn sich unsichtbar gemacht hatte, und sie konnten ihre Mana-Emanationen spüren.

Furcht beschlich sie, und die Tentakel des Zweifels zerrten an ihrem Selbstverstrauen. Am Abend zuvor war Styliann noch so stolz auf sie gewesen und hatte über ihre triumphale Rückkehr nach Xetesk gesprochen. Von der Rolle, die sie nach dem sicheren Sieg für ihn spielen sollte, von dem Platz, den sie fortan für immer an seiner Seite einnehmen sollte. Ihr Herz raste. Sie drehte sich auf der Stelle um, ohne lange zu warten, und ging rasch zurück. Sie war in einem drei mal zwei Häuserblocks kleinen Bereich eingesperrt, der stetig weiter schrumpfte. Es schien, als hätten die Wesmen alle Fluchtwege versperrt.

Alle bis auf einen. Sie blickte zum Himmel. Tausend Fuß höher konnte sie in den Wolken verschwinden. Nicht ideal, aber der einzige Ausweg, der ihr noch blieb. Selyn bewegte sich jetzt schneller und suchte die Dächer nach einem guten Startpunkt ab. Auf einem Gebäude nahe am Stadtrand fand sie ihn.

Sie stieg die Mauer des flachen Gebäudes hoch und rannte zum Schornstein an der dem Zentrum zugewandten Seite. Die Wesmen waren jetzt weniger als hundert Schritt entfernt. Auf der anderen Straßenseite stieg gerade ein Dutzend Wesmen aufs Dach und schwärmte mit ausgebreiteten Armen aus. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie vielleicht durch die schmalen Lücken zwischen ihnen schlüpfen konnte, wenn sie ihr Dach erreichten, doch dann sah sie den Schamanen nach oben kommen. Sie musste jetzt sofort handeln.

Sie zog sich in den Schatten hinter dem Schornstein zurück, ließ den Tarnzauber fallen und bereitete die Mana-Form für die Schattenschwingen vor. Fast sofort ertönte ein Ruf, und sie öffnete die Augen. Man hatte sie vom Stadtrand aus gesehen, Männer rannten los und deuteten auf sie. Sie konzentrierte sich wieder und baute die Mana-Gestalt neu auf. Nach einigen Sekunden war sie fertig.

»Aktivieren«, sagte sie. Auf ihrem Rücken entstanden Flügel, die sich im Tageslicht, für das bloße Auge kaum sichtbar, leicht bewegten. Sie machte einen Schritt nach vorn und startete, bewegte sich rasch nach oben und hinaus in Richtung Wüste. Unter ihr wurden Befehle gebrüllt, Geschosse pfiffen durch die Luft. Keines kam ihr nahe. Sie lächelte. Das war nicht die Art und Weise, auf die sie hatte verschwinden wollen, doch es sollte ihr recht sein. Sie konnte fast schon das Kaminfeuer in Stylianns Turm riechen.

Etwas knallte ihr in den Rücken und nahm ihr den Atem. Sie taumelte, konnte kaum die Flügel halten, während sie sich abmühte, sich wieder auszurichten und die verlorene Höhe wettzumachen. Sie fühlte sich, als wäre sie mit Bleigewichten beschwert. Sie sah sich über die Schulter um. Ein dünner weißer Lichtstrahl lief vom Schamanen bis zu ihr herauf. Unter ihr johlten und brüllten die Wesmen und bleckten die Zähne.

Sie verdoppelte ihre Anstrengungen und entfernte sich ein Stückchen. Ein zweiter Schlag, der ihren Halsansatz traf, schleuderte sie seitlich gegen ein Gebäude. Sie prallte auf den Boden und blieb benommen liegen. Die Schattenschwingen waren verschwunden.

»Verdammt.« Sie schüttelte den Kopf und hörte begeisterte Rufe und trampelnde Füße. Sie wollte sich aufrappeln und stützte sich an der Wand ab; es pochte in ihrem Kopf, aber ihr Blickfeld klärte sich wieder. Sie kamen von links und rechts, es mussten Hunderte sein. Sie zog das Schwert aus der auf den Rücken geschnallten Scheide und machte sich bereit. Einer lachte und zückte eine Axt. Auf sein Zeichen wichen die anderen einen Schritt zurück und ließen ihm Raum, allein zu kämpfen.

Er war ein großer Mann, schwer gebaut, mit ungepflegtem schwarzem Bart und eng stehenden Augen. Er rannte los und schwang die Axt in Brusthöhe. Selyn duckte sich einfach unter dem Schlag durch und richtete sich sofort wieder auf, um ihm das Schwert mitten durch den Bauch zu stoßen. Er grunzte und kippte zurück, die Hände auf die Wunde gepresst. Das Blut spritzte durch seine Finger.

Einen Augenblick herrschte erschrockenes Schweigen, dann stürmte die Meute los. Sie riss einen Dolch aus dem Stiefel. Sie waren rasch über ihr, ein Durcheinander aus Pelzen, Stahl und Fäusten entstand.

Der erste Wesmen starb mit dem Dolch im Herzen. Ein zweiter bekam einen Schnitt in den Schenkel, doch dann hatten sie ihre Hände gepackt. Das Schwert wurde ihr aus der Hand geschlagen als sie sich losreißen wollte. Sie wurde gegen die Mauer gedrückt, Schwerter und Dolche wurden gezogen. Einer riss ihr die Kapuze vom Kopf und vom Gesicht.

Wieder gab es eine Pause, als sie sahen, wer vor ihnen stand. Die anerkennenden Pfiffe drangen ihr bis ins Mark, doch als die Hände, die ihre Arme hielten, locker ließen, reagierte sie sofort, drehte ihre Handgelenke herum und ließ die Bolzen fliegen. Ein Mann wurde unter dem Kinn getroffen, der zweite Bolzen prallte von einem Kopf ab und flog davon. Beide Männer stürzten, doch es waren zu viele andere da.

Sie zerrten sie zu Boden, und animalische Freudenschreie wurden laut, als ihr die Kleider zerfetzt und vom Leib gerissen wurden. Hände betatschten sie, kratzten und packten sie, das Blut quoll aus einem Dutzend Schnitten. Sie wand sich und wehrte sich und schwieg eisern, als sie auf den Boden gepresst wurde, alle Glieder gespreizt, nackt und voller Angst.

Irgendjemand rief einen Befehl. Die Meute beruhigte sich sofort und machte Platz. Ein Schamane näherte sich ihr. Er war in mittleren Jahren und trug schweres Tuch. Das ergraute Haar war auf dem Rücken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Selyns Angst ließ nach und wich einer tödlichen Ruhe. Sie sammelte sich und erwiderte seinen Blick.

»Nun denn, meine Hübsche«, sagte der Schamane, während er seinen Gürtel löste und sich zwischen ihre Beine kniete. »Vielleicht holt dich der Tod doch noch nicht ganz so schnell.«

Die Vergewaltigung war brutal. Er stieß hart in sie hinein und packte ihre Flanken und ihre Brüste. Sie zuckte zusammen, als er noch einmal zustieß, und die zuschauende Menge johlte. Sie schloss die Augen vor der Demütigung und vor Schmerzen und hob den Kopf, um ein zweites Mal seinen Blick zu erwidern.

»Sie müssen mich in der Mitte durchschneiden, um dich zu befreien«, sagte sie. Sie biss fest auf ihren Backenzahn und verkrampfte sich. »Lebewohl, mein Lieber«, flüsterte sie. Das Nervengift aus dem zerbrochenen Zahn wirkte sofort. Alle Muskeln ihres Körpers verkrampften sich auf einen Schlag. Die letzten Geräusche, die sie hörte, als der Mana-Impuls nach Osten flog, waren die Schreie des Schamanen.