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11

Styliann wärmte sich die Füße am Kamin seines Arbeitszimmers und trank Tee aus dem Becher, der rechts auf dem Arbeitstisch stand. Es klopfte.

»Herein.«

Nyer und Dystran traten ein. Er bedeutete ihnen, sich auf die anderen Stühle zu setzen, und schenkte jedem einen Becher Tee ein.

Nyer ließ sich mit der Gelassenheit eines Mannes, der an hochrangige Gesellschaft gewöhnt ist, auf seinem Stuhl nieder. Dystran, ein Mann von gerade mal vierzig Jahren, war sichtlich nervös; er saß angespannt und hielt sich an seinem Becher fest.

»Ist Laryon schon unterwegs?«

»Leider nicht«, erklärte Nyer. »Er hatte ein Problem mit einigen Mitarbeitern.«

»Ich verstehe.« Styliann kniff die Augen zusammen. Normalerweise schlug man eine Einladung von ihm nicht aus. Er nahm sich vor, umgehend mit dem Meister zu reden. »Nun, Dystran, ich hoffe doch, die Forschung über die Dimensionsverbindungen macht gute Fortschritte?«

Dystran sah Nyer fragend an, und der Ältere bedeutete ihm mit einer Geste zu sprechen.

»Ja, mein Lord. Wir überprüfen es gerade in den Katakomben.« Unwillkürlich lächelte er.

»Ihr seid amüsiert?«

»Entschuldigt, mein Lord.« Dystrans Gesicht unter dem kurzen braunen Haar färbte sich rot. »Es ist nur so, dass wir nach dem ersten, sehr erfolgreichen Testlauf umgehend die Drainage verbessern mussten.«

Styliann zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Haltet Euch an den Bericht«, ermahnte Nyer ihn.

Dystran nickte. »Wir haben den Spruch zur Dimensionsverbindung dreimal erfolgreich getestet und unsere Dimension mit einer anderen verbunden. Nachdem wir die Berechnungen richtig durchgeführt hatten, konnten wir einen Wasserlauf zwischen beiden Dimensionen steuern, wobei aber leider eine Zauberkammer überflutet wurde.«

»Ausgezeichnet«, sagte Styliann. »Wie lange dauert es noch, bis wir einen Test unter realen Bedingungen durchführen können?«

»Das ist jederzeit möglich«, erklärte Dystran. »Die einzige offene Frage betrifft den Einsatz der Magier. Wir nehmen an, dass der Kanal umso größer wird, je mehr Magier den Spruch wirken. Allerdings ist dies auch mit Gefahren verbunden.« Er hielt inne und überlegte. »Im Übrigen sind die Dimensionen auch nicht immer präzise aufeinander ausgerichtet. So können wir zwar berechnen, wann sie es sein werden, doch wir haben keinerlei Einfluss darauf, zu welchem Zeitpunkt es möglich sein wird, den Spruch zu wirken.«

Styliann runzelte die Stirn. »Wie groß sind die Fenster, in denen die Ausrichtung stimmt?«

»Die Größe schwankt zwischen einigen Stunden und mehreren Tagen. Der genaue Zeitplan steht noch nicht fest.«

Der Herr vom Berge nickte. »Das wird reichen. Dystran, Ihr müsst Eure Magier möglichst schnell auf einen großen Probelauf unter realen Bedingungen vorbereiten. Wie viele habt Ihr?«

»Dreißig«, sagte der Magier.

»Wie ist Eure Meinung, mein alter Freund?«

»Es ist die ideale Offensivwaffe für den Pass«, erklärte Nyer.

»Natürlich.« Styliann nickte. Die Tür zum Sieg war wieder geöffnet.

Später hielt Styliann eine Kommunion mit Laryon, und was er dabei hörte, wischte das Lächeln aus seinem Gesicht. Es war traurig, wenn alte Freunde Machtspiele mit ihm spielten. Es machte ihn zornig.

 

Das Fleisch zuckte auf seinen Knochen. Blut strömte in die Gesichtshaut. Der Blutstrom hielt an, bis seine Wangen vor Schmerzen brannten, und dann schwoll sein Gesicht noch weiter an. Hirad ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten, und seine rechte Hand machte Anstalten, den Schwertgriff zu zerquetschen. Die Augen waren geöffnet, er konnte sie nicht schließen, doch er sah nichts außer Schwärze, gesprenkelt mit grauen Punkten. Hätte er den Kopf gedreht, dann hätte er die anderen nicht erkennen können. Waren sie überhaupt noch da?

Er konnte kein Geräusch hören außer dem Rauschen des Bluts in seinen Adern, während sein Gehirn verzweifelt bemüht war, die Eindrücke zu verarbeiten. Lief er? Er glaubte es nicht, doch er war sicher, dass er sich bewegte. Wohin, spielte keine Rolle. Er wollte nur, dass es aufhörte, bevor ihm das ganze Fleisch vom Körper gerissen wurde und sein Blut ins Leere sprudelte. Selbst dann, so dachte er, würde er sich immer noch bewegen. Er spürte ein Pulsieren, das sich in seinem Bauch ausbreitete. Es begann in der Magengrube und umfasste bald darauf seinen ganzen Körper. Ihm wurde heiß. Sehr heiß. Das Blut fühlte sich an, als koche es in seinen Adern und bringe sein Fleisch zum Schmelzen.

Licht.

Das Ende der Ewigkeit.

Ein Sturz. Harter Boden. Das Licht wurde trüb.

Hirad saß in einem offenen Bereich, und es fühlte sich an, als befinde er sich in großer Höhe. Einen besonderen Grund gab es nicht dafür, es kam ihm einfach nur so vor. Er sah sich nach links und rechts um und zählte im Kopf die anderen Mitglieder des Raben ab. Sie waren alle da, alle saßen auf dem Boden und schauten einander an. Hinter ihnen schwebte der Riss ein paar Fuß über dem Boden in der Luft. Das Ende des Seils, an das die Kiste gebunden war, hing in einem leichten Bogen herunter. Hirad verfolgte es bis zur Kiste, die neben Ilkar auf der Seite lag. Hinter dem Riss befand sich eine senkrecht abfallende Klippe.

Er stand mit wackligen Beinen auf, doch er beruhigte sich rasch und versuchte, sich in der neuen Dimension zurechtzufinden. Als das Blut wieder halbwegs normal durch seine Adern strömte und sein Atem sich normalisierte, spürte er, wie sich die Haare auf seinem ganzen Körper sträubten. Er hatte nicht gewusst, was er erwartet hatte, aber es war gewiss nicht dies gewesen. Die Luft schmeckte anders, trocken und dünn, und die ganze Atmosphäre hatte etwas Fremdes und Klebriges und schien die Haut und die Augen zu reizen.

Der Himmel über ihnen war dunkel, die Wolken brodelten am Himmel, obwohl er nur einen leichten Windhauch im Gesicht spüren konnte. Es war keine Unterbrechung in der Wolkendecke auszumachen, und doch breitete sich vom Horizont her, wo die schwarzen Wolken auf das schwarze Land trafen, ein Zwielicht aus.

In der Tat, sie standen in großer Höhe. Was vorher nur eine Ahnung gewesen war, ließ sich leicht bestätigen, wenn man ein paar Schritt weit nach rechts hinten schaute. Der Riss befand sich ganz am Rand des Plateaus, auf dem sie gelandet waren. Zu beiden Seiten fiel der Fels steil ab. Grellrote Blitze zuckten und flackerten über dem Land. Sie beleuchteten nichts, sondern verstärkten nur die undurchdringliche Finsternis. Unwillkürlich wichen alle von der Kante zurück, denn alle hatten bemerkt, wie leicht sie abstürzen konnten, wenn sie in ihre eigene Dimension zurückkehren wollten.

Dann wurde Hirad klar, was er vermisste. Geräusche. Abgesehen vom Seufzen des Windes in den Ohren konnte er überhaupt nichts hören. Keine Stimmen, keine Tiere, keine Vögel. Kein Laut von irgendeinem Lebewesen. Selbst die Blitze hinter ihnen zuckten geräuschlos. Es war ihm nicht geheuer. Als stehe er im Reich der Toten.

Hirad musterte den Bereich zu seiner Linken, bis sein Blick auf Erhebungen fiel, die Gebäude sein konnten. Er schaute direkt nach vorn über offenes Gelände – es war anscheinend fester Grund, denn man sah Erde und Pflanzen, die sich im leichten Wind wiegten – und konnte tatsächlich eine Ansammlung von baufälligen Häusern ausmachen. Gesplitterte Balken, zerkrümelte Steine und gebrochene Dachziegel lagen überall herum. Die Bauten erstreckten sich gut fünfhundert oder sechshundert Schritt weit, dann hörte die Bebauung abrupt auf, vermutlich am gegenüberliegenden Ende des Plateaus.

Dahinter schwebte ein weiterer Riss im Raum. Als seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, konnte er ringsum in der Ferne ungleichmäßige Felssäulen sehen, die sich oben erweiterten und ovale und runde Plattformen wie die ihre trugen. Offensichtlich befanden sie sich auf einer ähnlichen Erhebung. Diese Einsicht verunsicherte ihn einen Augenblick lang. Er glaubte, auf den anderen Plattformen weitere Gebäude zu erkennen, von denen einige beeindruckend waren wie Paläste. Doch es gab kein künstliches Licht, und nichts rührte sich in der leichten Brise.

»Ein netter Ort«, murmelte Talan. Seine Stimme klang unnatürlich laut in der Stille.

Hirad zuckte zusammen. »Bei den Göttern der Erde, was ist dies hier nur für ein Land?« Der Barbar wünschte inbrünstig, der Unbekannte wäre noch bei ihnen. Dessen Gegenwart hätte ihn gewiss ein wenig beruhigt.

»Ich verstehe das nicht«, erklärte Denser. »Wie sind sie hier heraufgekommen? Und wie kommen sie von dieser Plattform zu den anderen, und wie konnten sie die Häuser hier oben bauen …« Er ließ den Satz unvollendet und deutete auf das verfallene Dorf auf ihrer Plattform, falls es überhaupt ein Dorf war.

»Und wer waren sie eigentlich?«

»Das unterstellt, dass sie alle fort sind«, sagte Talan.

»Auf diese Idee seid ihr doch auch gekommen oder?«, fragte Hirad. »Ich persönlich würde meinen, dass wir möglichst schnell zurückspringen sollten. Ich bekomme hier eine Gänsehaut.« Sein Herz schlug wieder schneller.

»Aber ist es nicht faszinierend?«, wandte Denser ein. »Dies ist eine andere Dimension. Stellt euch nur vor, was das bedeutet.«

»Oh, ja«, sagte Hirad. »Sie ist völlig anders als unsere, ich fühle mich hier nicht gut, und ich bekomme den Eindruck, dass wir nicht hier sein sollten.«

»Es ist anders, aber in vieler Hinsicht ist es doch ganz ähnlich wie bei uns«, sagte Ilkar. Er bückte sich und hob eine Handvoll Erde auf. »Seht nur. Erde, Gras, Gebäude … Luft.«

»Aber keine Geräusche. Glaubt ihr, sie sind alle tot, wer auch immer sie waren?« Denser bewegte sich in Richtung der Siedlung, und Hirad folgte widerstrebend mit den anderen Mitgliedern des Raben. Er nagte an der Unterlippe. Nicht einmal das Schwert, das er kampfbereit in der Hand hielt, konnte ihn beruhigen. Die düstere Atmosphäre war beinahe als körperlicher Druck zu spüren, obwohl die Luft so dünn war, und das Fehlen von Geräuschen veranlasste ihn mehrmals, mit dem Zeigefinger der linken Hand in den Ohren zu bohren und nach dem Grund zu forschen, aus dem er, abgesehen vom Tappen ihrer Füße und ihrem Atem, nichts hören konnte.

»Wonach suchen wir hier eigentlich, Denser?«, wollte Richmond vom Dunklen Magier wissen, als sie über die trockene Erde liefen, die unter den Füßen knirschte und zerkrümelte.

»Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung. Wir brauchen Informationen, nicht ein Stückchen hiervon und ein Stückchen davon, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Etwas wie ein Pergament vielleicht?«, hakte Richmond nach.

Denser zuckte mit den Achseln. »Kann sein. Oder ein weiteres Amulett. Vielleicht eine Art geschnitztes Schmuckstück. Was es auch ist, es sollte in diesem Müll hier ziemlich auffallen. Und ich bin sicher, dass es als Objekt aus Balaia zu erkennen ist.« Er deutete auf die Gebäude. Obwohl weitgehend zusammengebrochen, konnte man deutlich sehen, dass ihre Bauart nicht viel mit dem gemein hatte, was irgendein Volk in Balaia bauen mochte. Viele hatten Öffnungen, bei denen es sich vermutlich um Türen handelte, doch sie waren oval und schlossen nicht ebenerdig mit dem Boden ab. Die Gebäude, die teilweise noch überdacht waren, hatten im höchsten Punkt der kuppelförmigen Dächer ähnliche ovale Öffnungen.

In gewisser Weise fühlte Hirad sich an Brennöfen erinnert, auch wenn diese Gebäude hier aus Holz und Stein bestanden und nicht ausschließlich aus behauenem Stein wie die Bauten der Wesmen. Sie waren einst sicher recht hoch gewesen, zwanzig oder mehr Fuß. Für einstöckige Gebäude schien das eine enorme Höhe zu sein, auch wenn das Fehlen von Fenstern bedeutete, dass er sich irren konnte. Drinnen gab es womöglich noch weitere Etagen.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Hirad. Er schauderte.

»Das hast du schon einmal gesagt, und ich muss dir zustimmen«, sagte Ilkar. »Ich fühle mich, als könnte ich jeden Augenblick stürzen.«

»Je weniger Zeit ich hier verbringe, desto besser.« Hirad schüttelte sich, um die Spannung aus den Schultern zu vertreiben. »Was, zum Teufel, mag Septern hier nur gesucht haben?«

Unter der Plattform durchbrach ein Lichtbalken die Nacht und tauchte alles, was er erfasste, vorübergehend in einen malvenfarbenen Glanz. Die Schatten wurden noch tiefer, und das Nachbild brannte sich ein paar Sekunden lang förmlich in Hirads Augen ein. In diesem Augenblick sah er auch die Bewegung. Der Rabe reagierte, als wäre er ein einziges Wesen, und schlagartig waren alle Schwerter gezückt.

Aus den Gebäuden und um die Ecken der Gebäude kamen die Bewohner des Dorfs, stolpernd und halb rennend. In wenigen Sekunden hatten sie den Raum vor den Gebäuden ausgefüllt und näherten sich schwerfällig dem Raben. Hirad versuchte, sie zu zählen, doch als er bei fünfzig war, kam er durcheinander, weil sie ständig in Bewegung waren. Gewiss lag ihre Zahl erheblich höher.

Aus der Entfernung wirkten sie schmal und bleich, und ihre Gliedmaßen verwirrten das Auge, doch nach wenigen Schritten wurde offenkundig, was sie waren.

»Bei den Göttern der Erde, ich kann das nicht glauben«, flüsterte Hirad. Erneut mit einer Bewegung, als wäre er ein einziges Wesen, blieb der Rabe stehen.

»Und wenn der Tod den Atem aus ihren Leibern treibt und das Fleisch aus den Gesichtern reißt«, zitierte Denser murmelnd.

Auch die Art und Weise, wie sie das Gleichgewicht hielten, oder vielmehr, wie sie es nicht hielten, war höchst eigenartig. Nicht, dass es für ein totes Geschöpf irgendeine angemessene Art und Weise gegeben hätte, das Gleichgewicht zu halten, dachte Hirad. Er schauderte und konnte es nicht genau begreifen, doch während die Dorfbewohner sich weiter schwerfällig und langsam näherten, glaubte er sehen zu können, wie bei jedem Schritt ihr Rücken zuckte.

Einer der Anführer stolperte über einen Stein und entfaltete unwillkürlich die Schwingen, um sich wieder zu fangen. Doch die Flügel waren kaum mehr als nackte Knochen, an denen nur noch einige Hautfetzen klebten, und so stürzte er. Die anderen bewegten sich weiter, inzwischen höchstens noch siebzig Schritt entfernt.

Es war unmöglich, bei diesem Anblick gelassen zu bleiben. Eine Streitmacht von toten flugfähigen Wesen, verrottete Haut auf den Knochen, ovale Köpfe mit riesigen leeren Augenschlitzen, und alle bewegten sich im gleichen, schleppenden Schritt. Sie verteilten sich und füllten den ganzen Raum bis zum Rand der Hochfläche aus. Und sie kamen erbarmungslos näher.

»Hat jemand einen Vorschlag?«, fragte der Barbar. Panik griff mit kalter Hand nach seinem Herzen. In wenigen Sekunden würde der Tod über sie kommen.

»Sie haben keine Waffen. Was wollen sie tun?«, fragte Talan.

»Einfach weitergehen, würde ich meinen«, erwiderte Denser. »Schließlich haben wir keinen anderen Ausweg, als zurück durch den Riss zu springen. Wir können nicht hoffen, uns gegen eine so große Zahl wehren zu können. Sie müssen einfach nur weitergehen, und irgendwann habt ihr keinen Platz mehr, um die Schwerter zu benutzen. Und wenn ihr nicht vorsichtig seid, dann drücken sie euch einfach über die Kante.«

»Aber wie können sie sich bewegen?«, wollte Hirad wissen. »Sie bestehen doch nur aus Knochen, sie sind tot.«

»Ist es eine Art Zauberspruch?«, fragte Richmond.

»Vielleicht gibt es irgendetwas, das sie im Leben und im Tod an das Versprechen bindet, das sie Septern gegeben haben«, meinte Ilkar.

»Darüber können wir uns später noch Gedanken machen«, warnte Hirad. »Wir müssen irgendwie hinter sie kommen. Was es auch ist, das wir suchen und das sie verteidigen, es muss irgendwo in diesem Dorf sein.«

»Ich habe eine Idee«, sagte Denser. »Wollt ihr sie hören?« Hirad nickte. »Ilkar wirkt einen Kraftkegel gegen sie und schlägt ein Loch in ihre Reihen. Du und ich, wir rennen durch und suchen im Dorf. Alle andere beschäftigen sie so lange wie möglich und kehren dann durch den Riss zurück, bevor sie vom Rand der Plattform gestoßen werden.«

»Warum brechen wir nicht alle durch?«, fragte Richmond.

»Weil sie dann einfach umkehren würden. Ich denke jedenfalls, dass sie es tun würden«, erklärte Denser. »Wenn ein paar von uns vor ihnen bleiben, dann werden sie hoffentlich weitergehen, und ihr könnt sie beschäftigen und uns damit die Zeit verschaffen, die wir brauchen, um im Dorf zu suchen. Es ist einen Versuch wert, oder?«

Es gab ein kurzes Schweigen, das nur vom rhythmischen Scharren unterbrochen wurde, das die sich nähernden Toten machten. Sie waren jetzt nur noch eine Minute entfernt, und ihre Reihen wurden wieder dichter, weil das Plateau zum Ende hin schmaler wurde, so dass sie näher beieinander laufen mussten.

»Ich mache es«, willigte Ilkar ein.

»Möge es ein guter Spruch sein«, flüsterte Denser.

»Ganz sicher«, erwiderte Ilkar kalt.

Hirad trat links neben Ilkar, bis er direkt neben Denser stand. »Talan, Richmond, wenn Ilkar den Spruch gewirkt hat, dann solltet ihr direkt vor dem Riss stehen. So habt ihr wenigstens die Chance, in den Riss zu fallen, wenn ihr zurückgedrückt werdet, statt von der Klippe hinunterzustürzen, was auch immer da unten sein mag …«

Talan nickte. »Und was ist mit dir?«

Hirad zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Wir müssen uns einfach gegenseitig die Daumen drücken, was?«

»Alles klar.«

»Noch etwas«, sagte Ilkar. Hirad drehte sich wieder zu ihm um. »Ich gebe Farbe in den Kegel, damit ihr ihn sehen könnt, und wenn ich den Spruch wirke, dann müsst ihr schnell sein. Wenn ihr auf Höhe der Dorfbewohner seid, lasse ich den Kegel wieder fallen, und dann liegt es bei euch.« Ilkar schloss die Augen und formte das Mana. Als er beim ersten Versuch nichts spürte, erschrak er, doch dann fuhr zu seiner Erleichterung der vertraute Ruck durch seinen Körper, als der magische Rohstoff die Dimensionsbarriere durchbrach und sich aus der statischen Kraftquelle nährte, die auch den Riss an Ort und Stelle hielt.

Ilkars Beine gaben vor Erschöpfung nach, doch dann hatte er den Kraftkegel geformt und hielt ihn stabil; er beschleunigte ihn und gab etwas hinzu, das seiner Ansicht nach als wirbelndes Grün erscheinen sollte. Eine kurze Anrufung folgte, dann öffnete Ilkar die Augen und suchte sich einen Bereich aus, der auf der linken Seite der Plattform lag.

Schließlich sprach er das Befehlswort, stieß die Hände nach vorn, und der Kegel krachte zwischen die anrückenden Dorfbewohner. Drei wurden beim Aufprall zerschmettert, so dass ihre Knochen in alle Richtungen flogen. Der Kegel pflügte weiter durch die Reihen der wandelnden Toten, stieß sie zur Seite und richtete große Schäden an. Links und rechts kippten Skelette um wie Dominosteine. Knochenflügel flatterten nutzlos, als die Beine von fallenden Kameraden weggeschlagen wurden. Am Rand der Plattform glitten sogar einige Dorfbewohner aus und stürzten ab.

Der Kegel hielt. Ilkar zog ihn ein wenig zurück, als die Dorfbewohner sich neu formierten und weiter vorrückten. Hirad wandte sich an Talan und Richmond.

»Riskiert nicht zu viel, passt gut auf und lasst ihn nichts Dummes tun.« Er deutete mit dem Daumen auf Ilkar. Die Kämpfer sagten nichts, gaben aber mit leichtem Nicken zu verstehen, dass sie es gehört hatten.

Hirad legte Denser eine Hand auf die Schulter. »Lass uns gehen. Bleib hinter mir.« Der Barbar hob sein Schwert und rannte durch den klar umgrenzten Kegel. Als er nahe genug war, boten die Dorfbewohner ein erschreckendes Bild. Eigenartige Ansammlungen von Knochen waren es, die da anrückten. Einigen fehlten Hände, anderen die Rippen. Hüftknochen und Schultern waren zerschmettert, und allenthalben war das Weiß der Knochen von schwarzen Schmutzstreifen bedeckt. Doch es waren die leblosen Köpfe, die sich nie bewegten, die Hirad zusammenzucken ließen, als er in die leeren Augenhöhlen starrte.

Im Innern der Schädel war nichts. Kein Licht, kein Leben, nichts. Und trotzdem bewegten sie sich. Sie hatten immer noch ein Ziel. Wenn einer von ihnen gesprochen hätte, dann hätte der Barbar auf der Stelle kehrtgemacht und wäre geflohen.

Als sie fünf Schritt von der vordersten Reihe der Dorfbewohner entfernt waren, richtete Ilkar den Kraftkegel neu aus und schuf eine Lücke, durch die sie rennen konnten. Hirad zog das Schwert, hielt es vor sich und rannte los, Denser folgte ihm dichtauf. Die Katze raste zwischen seinen Beinen hindurch, an den Skeletten vorbei und ins Dorf hinein. Einen Augenblick lang liefen die Toten weiter, als sei der Kegel noch wirksam, doch als Hirad die ersten Reihen hinter sich hatte, schloss sich die Lücke schon wieder. Er schauderte, während er rannte, er schrie, als Knochenhände sich in seiner Lederrüstung verfingen, und er hackte wild um sich, als ein Kopf rechts vor ihm auftauchte. Sein Schwerthieb trennte den Schädel vom Hals, und der Körper brach zusammen.

Es war knapp. Denser keuchte laut und fluchte schnaufend. Hirad schwang das Schwert mit beiden Händen wieder und wieder in Brusthöhe. Er konnte fühlen, wie Knochen zerschmettert und die Flügelmembran, Köpfe und Schultern durchschnitten wurden. Kein einziges Mal hob ein Dorfbewohner die Hand, um nach ihnen zu schlagen.

Sie brachen durch die Linien und stolperten dahinter ein Dutzend Schritte weiter, ehe sie stehen blieben. Dann drehten sie sich um und betrachteten, was sie gerade hinter sich gelassen hatten. Die Lücke hatte sich wieder geschlossen. Die Dorfbewohner liefen weiter zum Riss, ohne sich umzudrehen, und rückten gegen das Raben-Trio vor. Die drei standen mit dem Rücken zur wirbelnden Schwärze des Dimensionstors und hielten die Schwerter bereit. Ilkar winkte, und Hirad winkte kurz zurück, ehe er sein schweißüberströmtes Gesicht Denser zuwandte.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte der Dunkle Magier. »Sobald die drei durch den Riss verschwinden müssen, werden die Dorfbewohner wieder zurückkommen, und dann können wir nur noch abstürzen oder durch den anderen Riss springen.« Hirad zog die Augenbrauen hoch und nickte nervös.

Die beiden Männer liefen ins Dorf, wo sie abermals stehen blieben, um die verfallene Siedlung zu betrachten. Ringsum konnten sie die Überbleibsel einer untergegangenen Zivilisation erkennen. Gebäude, zerstört und geschwärzt, versengt und zu Schutt verfallen. Große Töpfe, Krüge und Kessel waren überall verstreut. Möbel, Tische, Stühle und Podeste lagen in den Ruinen herum. Tuch war verrottet und zu Staub zerfallen, Töpferwaren hatten Risse und waren angeschlagen, Holz war gesplittert und verbrannt, und alles bildete ein heilloses Durcheinander.

»Wie haben sie hier oben nur leben können?«, fragte Hirad. Er hob den Griff eines zerbrochenen Kruges auf. »Ich meine, hier ist so wenig Platz.« Er starrte in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und betrachtete noch einmal die kahle Erde. Von der Siedlung aus konnte er Quadrate mit dunklerem Boden sehen, über die ein Gitter von helleren Linien gelegt war. Felder und Wege. Bei den Göttern, sie waren Bauern gewesen. Bauern, die fliegen konnten. »Und was ist da unten?« Er warf den Krug zum Rand des Plateaus. Er zerschellte auf dem Boden, lange bevor er sein eigentliches Ziel erreichte.

»Nichts, würde ich sagen«, sagte Denser. »Ich vermute, deshalb sind sie hier herauf umgezogen, um hier zu leben.« »Das verstehe ich nicht. Warum sollte da unten denn nichts sein?«

»Du kannst Balaia nicht als Bezugspunkt nehmen, um dies hier zu erklären. Mann, ich kann doch auch nur blind herumstochern. Wir wissen nur, wo sie am Ende gelandet sind. Zieh deine eigenen Schlüsse daraus.«

»Aber warum sind sie gestorben?«

Denser zuckte mit den Achseln und wandte sich ab. Sein Blick wanderte über das Dorf. »Ich habe keine Ahnung, und wir haben im Augenblick nicht die Zeit, es uns zu überlegen. Sieh dich um.«

Hirad schaute in eins der Gebäude und entdeckte in dem vom Alter gezeichneten Inventar einen Mikrokosmos des Dorfs. Knochen lagen auf dem Boden herum, ein Schädel hing im großen ovalen Loch in der Decke, schwarzer Ruß bedeckte alle Flächen.

»Was suchen wir denn nun eigentlich?«

»Wie oft willst du das noch fragen?« Denser versuchte es aufs Geratewohl in einer andere Richtung. »Ich weiß es nicht. Hör mal, wir sollten uns trennen und uns umsehen, ob wir etwas Außergewöhnliches finden. Ich weiß auch nicht. Ich nehme an, dass es sich von diesem verdammten Schutt hier deutlich unterscheidet. Etwas, das hergebracht und nicht hier gemacht wurde.«

Hirad sah sich kurz um, dann entfernte er sich in die entgegengesetzte Richtung. Die Dorfbewohner marschierten noch, und der Rabe hielt die Stellung. Sie hielten aus. In diesem Augenblick war er sehr stolz. Diese Männer, seine Freunde und Gefährten, würden sich niemals wie Feiglinge benehmen.

Er bahnte sich einen Weg durch die Ruinen, doch ein Schutthaufen schien wie der nächste zu sein. Zerstörte Gebäude, vergammelte Möbel, zerstörte Töpferwaren. Alles verbrannt, als hätte eine gewaltige Feuersbrunst das ganze Dorf ausgelöscht. Er streifte durchs Dorf und sah sich auf der entfernten Seite der Plattform um, wo der zweite Riss in der Luft schwebte. Als er sich zu überlegen begann, was wohl dahinter liegen mochte und als ihm klarwurde, dass er nicht unbedingt versessen darauf war, es herauszufinden, hörte er Denser rufen. Er blickte nach links und sah den Magier zu einem Gebäude am Rand des Dorfs laufen.

Der Barbar eilte durch den Schutt und stürzte ein paar Schritte hinter dem Xeteskianer durch die Öffnung eines weiteren halbzerstörten Gebäudes. Und da, beobachtet und langsam umkreist von der Katze, saß ein kleines Mädchen. Ein Tupfer von Licht und Farben, der sehr lebendig wirkte.

Sie trug ein blaues Kleid, und das lange blonde Haar war mit einem passenden Tuch zusammengebunden. Ihre Augen waren groß und blau, unter der winzigen Nase war ein Mund zu sehen, der kein Lachen kannte. Sie starrte die Katze an, beobachtete deren langsame Bewegungen und umklammerte mit nackten Ärmchen eine kleine Kiste.

»Töte es, Hirad«, zischte Denser. »Mach es sofort und beeile dich.«

»Was?«, sagte Hirad. »Nein! Nimm doch einfach das Kästchen an dich, und dann verschwinden wir.« Er wollte einen Schritt zum Mädchen hin tun, aber Denser legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Es ist nicht das, was es zu sein scheint«, sagte der Dunkle Magier. »Öffne die Augen, Hirad. Glaubst du wirklich, sie könnte hier so leben, wie sie ist?«

Das Mädchen wandte den Blick von der Katze ab und fasste die beiden Männer in der Tür, die es erst jetzt zu bemerken schien, ins Auge.

»Halte dein Schwert bereit«, sagte Denser. Er zog seine eigene Klinge und trat einen kleinen Schritt zur Seite.

Hirad beobachtete das Gesicht des Magiers. Denser war konzentriert, hatte den Blick auf das Mädchen gerichtet, und er hatte Angst. Der Barbar hob seine Klinge.

»Kannst du nicht einen Spruch wirken oder so?«

Ein Kopfschütteln. »So lange wird es nicht warten.«

»Wer ist sie?«, fragte Hirad.

»Ich bin nicht sicher. Nichts Gewöhnliches jedenfalls. Septern muss sie geschaffen haben. Behalte das Kästchen im Auge. Wir dürfen es nicht verlieren, und es darf nicht beschädigt werden.«

»Wie du meinst.«

Das Mädchen lächelte. Es war ein Gesichtsausdruck ohne jedes Gefühl, der die Augen nicht erreichte. Hirad schauderte. Als sie dann sprach, klang die Stimme zwar nach einem neunjährigen Mädchen, doch der Tonfall und die Macht dahinter jagten ihm einen Schauder über den Rücken.

»Ihr seid die Ersten«, sagte sie. »Und ihr sollt die Letzten und die Einzigen sein.«

»Und was bist du?«, fragte Denser.

»Ich bin euer Alptraum. Ich bin euer Tod.« Sie bewegte sich. Sie sprang mit irrsinniger Geschwindigkeit los. Und während sie sich bewegte, verwandelte sie sich. Hirad schrie.

 

Die Dorfbewohner kamen näher. Ilkar, Talan und Richmond waren zurückgewichen und standen nur noch ein halbes Dutzend Schritte vor dem Riss. Die Flanken der Dorfbewohner bewegten sich nach innen, und der Druck der Skelette, die sich nur noch ein paar Fuß vor ihnen drängten, wurde größer.

Hinter den Reihen lagen verstreut die Knochen von ungefähr vierzig wandelnden Toten, Opfer der hackenden und stechenden Schwerter des Raben-Trios. Jetzt aber waren ihre Gesichter schweißüberströmt, und sie keuchten schwer. Die Niederlage war nahe.

»Wir haben sie nicht einmal verlangsamen können«, keuchte Talan, während er einem Skelett die Beine wegtrat und ihm mit dem Schwertknauf den Schädel einschlug.

»Es macht ihnen keinerlei Eindruck«, stimmte Ilkar zu, und so war es auch. Unmittelbar vor sich sahen die Männer zuckende Arme und Beine und die Überreste von Flügeln. Alles, was sie hören konnten, waren das dumpfe Scharren der fleischlosen Füße auf der festgetretenen Erde und das Klappern von Knochen.

»Wie viele sind es denn wohl?«, sagte Richmond. Er richtete sich nach einem Schlag auf, der drei Wirbelsäulen auf einmal zerteilt hatte.

»Hunderte.« Talan zuckte mit den Achseln. »Die Frage, woher sie kommen, ist natürlich ein ganz anderes Kapitel.«

Wieder wichen sie einen Schritt zurück, bis sie die Kante des Risses hinten an ihren Schenkeln spürten. Sie schlugen noch einmal zu, ließen Knochensplitter in alle Richtungen fliegen und Dorfbewohner gegeneinander krachen. Doch die Toten bedrängten sie weiter. Keiner von ihnen hob die Arme zu einem Angriff, doch das war auch nicht nötig. Sie drängten von allen Seiten heran, und ihre Zahl allein machte schon das Ende unausweichlich.

»Wir sehen uns auf der anderen Seite«, sagte Ilkar. Er wurde rückwärts in den Riss gestoßen, und noch während er fiel, folgten Talan und Richmond, und er konnte sehen, wie die Skelette kehrtmachten und zum Dorf zurückkehrten.

 

Die Beine des Mädchens, auf einmal braun, mit Fell bedeckt und mit dicken Muskelsträngen ausgestattet, streckten sich, und sie richtete sich auf. Mit Krallen bewehrte Füße kratzten über den Boden, ein dorniger, ledriger Schwanz wuchs in ihrem Kreuz, das Kleid löste sich auf und wurde durch einen schwer atmenden mächtigen Brustkorb mit kräftigen Rippen über einem straffen, unbehaarten Bauch ersetzt. Die Arme wuchsen und wurden kräftiger, Bizeps und Trizeps schwollen an, und die zierlichen Hände wurden größer und dicker und streckten sich. Die Finger liefen in rasiermesserscharfen Klauen aus.

Und der Kopf erst. Es war der Kopf, der Hirad den Schrei entlockt hatte. Das Gesicht des Mädchens fiel in sich zusammen, als würde Wasser in ein Loch gezogen. Nur die Augen blieben, sie waren blau bis ganz zuletzt, bis sie schließlich durch schwarze Schlitze ersetzt wurden. Darunter wuchsen Reißzähne in einem breiten Maul, aus dem Speichel rann. Das blonde Haar blieb, die Stirn war breit, das Kinn ragte vor, die Kiefer schnappten. Eine schmale Zunge schoss aus dem Maul des Wesens hervor, als es fauchend zuschlug.

Hirad hob instinktiv sein Schwert vors Gesicht, und die Tatze des Wesens prallte davon ab. Es zog sich eine kleine Verletzung zu und heulte vor Schmerzen auf. Es wich einen Schritt zurück. In einer Klauenhand hielt es immer noch das kleine Kästchen.

»Verdammter Mist!«, spuckte Hirad. Er zitterte am ganzen Körper und wechselte die Position, um Denser zu decken.

»Sei vorsichtig, Hirad.«

»Was glaubst du denn?«

Wieder griff das Wesen mit rudernden Armen und peitschendem Schwanz an. Hirad machte einen Schritt zur Seite und antwortete mit einem Hieb, der den Körper treffen sollte. Er konnte nur beten, dass er traf, bevor die Reißzähne ihn zerfetzten oder durchbohrten. Seine Klinge traf auf Holz und dann auf Fleisch, als der wuchtige Schlag sein Ziel fand. Es gab ein schrilles Heulen, ein Geräusch wie von einer knallenden Peitsche, und ein lautes Krachen. Holzsplitter flogen in alle Richtungen davon.

Hirad richtete sich auf und versuchte, die Lage einzuschätzen. Denser lag auf dem Rücken in der Tür, halb drinnen und halb draußen. Er bewegte sich nicht. Das Wesen hatte sich zur hinteren Wand des Raumes zurückgezogen und umklammerte den Stummel, wo die linke Hand gewesen war. Vergebens versuchte es, die aus der Wunde schießenden Blutfontänen zum Versiegen zu bringen. Die abgetrennte Hand lag vor Hirads Füßen auf dem Boden, und inmitten der Trümmer der zerstörten Holzkiste lag ein einzelnes Stück Pergament, zusammengefaltet, vergilbt und mit Eselsohren.

Als er das Blatt näher ins Auge fassen wollte, verstummte das Wimmern. Der Barbar schaute auf und sah die wilden, jetzt gelb leuchtenden Augen des Wesens. Es kam gerade wieder auf die Füße, und aus dem heilenden Arm wuchs eine neue Hand.

»Bei den Göttern«, murmelte Hirad.

Das Wesen taumelte leicht und hielt sich an einem Regal fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Hirad riss einen Dolch aus seinem Gürtel und warf ihn, bevor er sich auf das Wesen stürzte. Die funkelnde Klinge wirbelte durch die Luft und erregte die Aufmerksamkeit des Wesens. Es beobachtete den Flug des Messers und kniff die Augen zusammen, bis sie fast unter der Stirn verschwanden.

Hirad überwand die paar Schritt, die sie trennten, und schlug nach dem Hals des Wesens, als es die Aufmerksamkeit wieder auf ihn richten wollte. Der Dolch knallte harmlos gegen die Wand des Gebäudes. Das Ungeheuer wich Hirads Schwerthieb aus und schlug mit dem Schwanz nach seinen Beinen. Der Barbar verlor das Gleichgewicht, stürzte, rollte sich ab und saß gleich darauf schon wieder in der Hocke. Immer noch schwankend ging das Tier auf ihn los. Hirad richtete sich auf, und die beiden standen voreinander.

Das Wesen brüllte und blies dem Barbaren seinen heißen, stinkenden Atem ins Gesicht. Hirad wich einen Schritt zurück, als er das Geräusch hörte, das viel zu tief und mächtig war für den kleinen Körper. Er wechselte dreimal die Klinge zwischen den Händen, bis er sie schließlich in der linken Hand hielt. Dann legte er die rechte Hand über die linke und versuchte einen schräg von links unten nach rechts oben geführten Schlag. Das Wesen erfasste die Bewegung nicht, seine Hände waren zu langsam, um zu seiner Verteidigung beizutragen, und die Klinge traf das spitze Kinn. Hirad schrie, als er die Klinge durch das ganze Gesicht trieb, bis sie am linken Auge wieder austrat. Blut und Schleim spritzten aus dem gespaltenen Gesicht, als der Kopf nach oben gerissen wurde und hilflos auf den Hals sank. Das Wesen kreischte, stürzte rückwärts zu Boden und presste die Hände auf die Schnittwunde.

Hirad trat näher heran, betrachtete es einen Augenblick, schauderte und trieb ihm das Schwert durchs Herz. Noch ein Kreischen, das Wesen zuckte, verkrampfte sich und blieb reglos liegen.

»Verbrenne es.«

Hirad fuhr herum. Mühsam, gegen den Türrahmen gelehnt, kam Denser gerade wieder auf die Beine. Er massierte sich seine Seite, und die Katze, die auf seiner Schulter hockte, stupste mit der Nase sein Gesicht.

»Verbrennen?«

»Jetzt gleich. Es wird sich erholen, wenn du es nicht tust.«

Der Barbar drehte sich wieder zu dem Wesen um und sah sofort, dass es schon wieder zu atmen begonnen hatte.

»Ich kann es nicht glauben«, sagte er. Er steckte das Schwert in die Scheide und suchte in seinen Gürteltaschen nach einem Fläschchen mit Öl. Er zog einen winzigen Behälter, den Feuerstein und den Stahl heraus.

»Hier, nimm das«, sagte Denser. Eine erheblich größere Flasche rollte vor Hirads Füßen klappernd über den Boden.

»Das wird aber nicht sehr gut brennen. Es ist Lampenöl, oder?«, sagte der Barbar, der die Flasche sofort aufgehoben hatte.

»Vertrau mir, es wird brennen.«

Hirad zuckte mit den Achseln und lief zu dem Wesen hinüber. Er spritzte das Öl auf den pelzigen Körper, breitete auf dem Brustkorb neben dem tödlich getroffenen Herz etwas Zunder aus und schlug direkt daneben den Feuerstein mit dem Stahl an. Sofort entstand eine Flamme, die den Körper einhüllte. Hirad sprang zurück und wischte sich das heiße Gesicht ab.

Das Wesen öffnete unsicher die Augen. Ein Arm zuckte.

Hirad schüttelte den Kopf. »Zu spät.« Er zog das Schwert und stach ein zweites Mal ins Herz des Wesens, bis es still liegen blieb. Dann trat er wieder zurück und sah zu, wie sich das Feuer ausbreitete. Holz knirschte unter seinen Füßen. Er blickte nach unten und bemerkte, dass er auf das größte Stück des zerbrochenen Kästchens getreten war. Sein Fuß stand direkt neben dem Pergament. Er bückte sich und hob es auf.

»Ist es beschädigt?«, fragte Denser.

»Nein, ich glaube nicht. Wie geht es dir?«

»Alles in Ordnung, nur etwas außer Atem.« Der Magier rieb sich die Seite. »Wir hatten Glück, dass es ein Pergament war und kein Kristall oder so. Dein Hieb hätte unser Vorhaben recht abrupt beenden können.«

Hirad zog die Augenbrauen hoch, schlurfte hinüber und gab Denser das Pergament, bevor er dem dunklen Magier auf die Beine half. Denser sah sich über die Schulter um und nickte.

»Was war das?«

»Eine intelligente Beschwörung«, sagte Denser. »Man braucht lange, um sie zu wirken, und ich habe mich nicht sehr intensiv damit beschäftigt. Offenbar im Gegensatz zu Septern.« Er konzentrierte sich auf das Pergament.

»Aber was war das Mädchen?«

Denser unterbrach seine Lektüre. »Nun, eine intelligente Beschwörung wird zu einem bestimmten Zweck geschaffen. In diesem Fall, um das Pergament zu bewachen. Solche Wesen sind nicht im üblichen Sinne lebendig, doch sie können in einem gewissen Ausmaß eigenständig denken, und dies erlaubt es ihnen, Situationen einzuschätzen und entsprechend zu handeln. Meiner Ansicht nach war das Mädchen, das wir gesehen haben, das Abbild einer Verwandten von Septern. Wenn der Magier klare Erinnerungen hat, dann erfordert es erheblich weniger Mana, das Bild aufzubauen und zu halten.«

»Aber warum …«

»Warte, ich weiß, was du fragen willst. Das Mädchen war gewissermaßen die Ruhefunktion der Manifestation. Das Tier – dem Aussehen nach ein Wesen aus seinen Alpträumen  – ständig aufrechtzuerhalten, würde zu viel Mana erfordern, verstehst du?«

»Irgendwie schon, aber trotzdem, dreihundert Jahre …«

»Ja, das ist eine enorme Leistung. Ich kann kaum glauben, dass selbst ein so mächtiger Magier wie Septern fähig sein sollte, eine intelligente Beschwörung zu schaffen, die länger als vierzig Jahre existieren kann. Wahrscheinlich hat die Erscheinung über die Risse genügend statisches Mana bekommen, um sich zu halten.« Denser konzentrierte sich wieder auf das Pergament, und Hirad lief unterdessen ein paar Schritte in Richtung des Risses zurück. Alles war ruhig. Er runzelte die Stirn und lief noch ein Stück weiter.

»Ilkar?«, rief er. »Ilkar!« Nichts. Keine Antwort, aber auch die Dorfbewohner waren nirgends zu entdecken. Als er bis zum Rand des Dorfs ging, konnte er den Grund sehen. Sie waren etwa achtzig Schritt vor dem Dorf hingefallen, und ihre Knochen bildeten einen Teppich auf der Erde. Hirad lief es kalt über den Rücken. Wenn es dem Raben gelungen war, sie alle niederzumachen, wo waren dann die Gefährten? Und wenn nicht, warum waren die Skelette dann gestürzt?

Er drehte sich rasch einmal um sich selbst, und ihm wurde erneut bewusst, wie einsam es hier war. Über ihm brodelten die dunklen Wolken, gejagt von einem schrecklichen Wind, den er nicht hören konnte. Drunten wetterleuchtete es, als wollten die Blitze das Land förmlich überschwemmen. Am Horizont erhoben sich wie alte, bedrohliche Wächter die anderen Plateaus. Die Umrisse hoben sich undeutlich von der Schwärze ab, und ihre Gegenwart nahm ihm den Mut. Wo war der Rabe? Er betete, dass sie durch den Riss zurückgekehrt waren. Die Alternativen waren zu grauenhaft, um weiter darüber nachzudenken.

»Denser?« Im Laufschritt kehrte er zu der Stelle zurück, wo er den Dunklen Magier lesend zurückgelassen hatte, doch der war nicht mehr da. Panik ließ seinen Atem stocken, bis er den Xeteskianer entdeckte, der sich in die andere Richtung entfernte. Er war zum Riss am anderen Ende der Plattform unterwegs.

»Denser!« Der Magier drehte sich um. Hirad konnte die gemächlich qualmende Pfeife sehen. Die Katze saß im Mantel und steckte aufmerksam den Kopf heraus, und Denser kraulte ihren Kopf. Vom Pergament war nichts zu sehen. »Hast du es gelesen?«

Denser nickte.

»Und?«, rief Hirad, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.

»Ich konnte nicht alles entziffern. Ilkar muss es auch noch versuchen.«

Als er Denser fast erreicht hatte, fiel ihm auf, dass irgendetwas nicht stimmte. Densers Blick irrte ständig ab, und er sah sich hin und wieder nervös über die Schulter zum Riss um.

»Alles in Ordnung? Der Rabe ist verschwunden, die Skelette liegen am Boden. Bist du sicher, dass das Ding nicht deinen Kopf erwischt hat?«

Denser zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin sicher, dass mir nichts passiert ist.« Er hielt inne. »Hirad, ist es schon einmal vorgekommen, dass du etwas ganz Bestimmtes einfach tun musstest? Du weißt schon, irgendetwas, das deine Neugierde so erregt hat, dass du nicht anders konntest?«

Hirad zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich. Ich weiß es nicht. Was meinst du denn?«

Denser drehte sich um und ging weiter zum Riss. Einen Moment lang war Hirad verwirrt. Aber nur einen kleinen Moment lang.

»Du machst Witze.« Er folgte dem Magier.

»Ich muss es wissen. Das hier ist so eine Sache.« Denser ging schneller.

»Was ist nur in dich gefahren?« Hirad begann zu traben. »Du kannst das nicht machen, Denser. Du kannst es dir nicht erlauben. Wir müssen doch …« Er legte Denser eine Hand auf die Schulter. Die Katze hieb mit einer Tatze danach, verfehlte aber die rasch zurückgezogene Hand des Barbaren. Der Dunkle Magier wandte sich ihm zu, und sein Gesicht war entschlossen. Die Augen aber blickten in weite Fernen, während er angestrengt über irgendetwas nachdachte.

»Fass uns nicht an, Hirad«, sagte er. »Und versuche nicht, uns aufzuhalten.« Er wandte sich ab, marschierte zum Riss und sprang hinein.

Ein paar Sekunden später war die Katze wieder da. Sie stürzte als höchst unelegantes Fellknäuel aus dem Riss, schlug auf dem Boden auf, rannte los, dass die Erde und der Kies nur so spritzten, und schien sich hinter Hirad verstecken zu wollen.

Der Barbar starrte die Katze an, deren Fell zerzaust und mit Staub gepudert war. Das Tier war aufgeregt und atmete schwer, der Schwanz war zwischen die Hinterbeine gezogen, und die Augen blickten wie gebannt zum Riss. Die Katze zitterte am ganzen Körper und schien auf etwas zu warten.

»Oh, nein«, schnaufte Hirad. Er machte einen Schritt hin zur wirbelnden braunen Masse, dann ließ ihn ein Flimmern der Oberfläche innehalten. Denser stürzte heraus und fiel flach in den Staub. Sein Gesicht war kreidebleich.

»Den Göttern sei Dank«, murmelte der Barbar und half Denser mit zornig zusammengepressten Lippen, sich aufzusetzen. Er spürte, wie der Magier zitterte, und klopfte ihm etwas Staub vom Mantel ab.

»Bist du jetzt zufrieden?«

»Es war schwarz«, sagte Denser. Er machte eine Geste, ohne aufzuschauen. »Ganz schwarz.«

»Das verstehe ich nicht, Denser.« Jetzt erwiderte der immer noch verängstigte Magier seinen Blick.

»Verbrannt und immer noch brennend. Alles war zerstört, zerklüftet und schwarz. Die Gegend hat ausgesehen, als sei sie lebendig. Der Boden war ganz verkohlt, und der Himmel war voller Drachen.«

Es war, als beschriebe der Magier Hirads Traum. Der Barbar richtete sich auf und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Er schluckte schwer und starrte zum Riss. Dahinter lebte sein Alptraum.

Dann wurde ihm wieder bewusst, wie leichtsinnig Denser gewesen war. Er richtete den Blick auf den Magier, der inzwischen aufgestanden war.

»Geht es dir jetzt besser?«

Denser nickte und bekam sogar etwas wie ein Lächeln zustande. Der Schlag des Barbaren traf ihn am Kinn, und er ging zu Boden.

»Was, zum …«, wollte er sagen.

Hirad beugte sich über ihn, packte seinen Kragen und zog ihn nahe an sich.

»Wie konntest du so etwas machen?«, keuchte der Barbar vor Wut kochend. Seine Stirn war wie eine Gewitterwolke. »Du hättest alles vermasseln können.«

»Ich …«, begann Denser hilflos.

Hirad schüttelte ihn. »Halt den Mund! Halt den Mund und höre mir zu. Du hast das Pergament mitgenommen. Was, wenn du nicht zurückgekommen wärst? Deine angeblich so wichtige Mission wäre vorbei gewesen, und meine Freunde …« Er holte tief Luft. »Meine Freunde, die für dich gestorben sind, wären für rein gar nichts gestorben.« Er ließ den Magier wieder auf den Boden fallen und setzte ihm einen Fuß auf die Brust. »Wenn du noch einmal so etwas tust, dann drehe ich dir den Hals um. Hast du das verstanden?«

Hirad hörte ein Flüstern hinter sich. Denser sah an ihm vorbei, riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. Hirad drehte sich um und nahm den Fuß vom liegenden Magier. Densers Katze starrte ihn hasserfüllt an. Er zuckte zusammen, dann grunzte er.

»Ach, deine Katze wollte mich angreifen, was?«

»Du hast Glück gehabt, Hirad.«

Der Barbar fuhr herum. »Nein, Denser. Du bist derjenige, der Glück hatte. Ich sollte dich töten. Das Problem ist nur, dass ich dir zu glauben beginne.« Er stakste durchs Dorf zum ersten Riss. Hoffentlich, so dachte er, war der Rabe noch da. Oder das, was von ihm übrig war.