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16

Ilkar weinte. Er wusste nicht warum, aber Hirad lebte noch. Die Wunde in seinem Bauch war tief und tödlich, und trotzdem lebte er noch. Und jetzt musste Ilkar bei ihm sitzen und zusehen, wie er langsam verblutete, weil Travers ihm die Fähigkeit genommen hatte, den Freund zu retten.

Selbst wenn er und Denser ein Dutzend Stunden lang hätten ununterbrochen schlafen können, wären ihre gemeinsamen Kräfte wahrscheinlich nicht ausreichend genug gewesen, um ihn zu heilen, so übel waren sie alle drei verletzt.

Er kniete neben Hirad, hatte die Hände auf die schreckliche Wunde gelegt und ignorierte die eigenen Schmerzen, während er das Mana direkt in den geschundenen, glücklicherweise bewusstlosen Körper des Freundes fließen ließ. Tränen liefen ihm über die Wangen und tropften auf den kalten Steinboden. Hirad blieb auf diese Weise vorübergehend am Leben, doch Ilkar war zu geschwächt und wusste, dass es letzten Endes hoffnungslos war.

Er spürte eine Hand auf seiner Schulter.

»Ilkar, ich teile deinen Schmerz.« Er hatte Denser nicht kommen hören. Er hatte angenommen, der Magier liege bereits in tiefem Schlaf und erhole sich.

»Ich kann ihn nicht retten, Denser«, sagte Ilkar. Seine Stimme zitterte vor Müdigkeit, seine Worte wurden von Schluchzen unterbrochen. »Er stirbt, und ich kann ihn nicht retten.«

»Vielleicht gibt es einen Weg.« Auch Densers Stimme war kaum noch zu verstehen. Sein zerschundenes Gesicht machte es ihm schwer, die Worte zu formen.

»Was schlägst du vor, Xetesk-Mann? Wir können hier nicht mit dem Zauberstab herumfuchteln.« Ilkar spuckte die Worte aus, dann hustete er und spuckte Blut.

»Aber es ist noch eine andere Magierin hier auf der Burg.«

»Erienne«, sagte Jandyr.

»Die Hexe, die uns verraten hat«, knurrte Ilkar.

»Nein«, erwiderte Jandyr entschieden. »Sie wurde gezwungen. Travers hat auch ihre Söhne entführt. Wir wollten sie alle befreien.«

»Erienne Malanvai?«, fragte Denser. »Die Hüterin der Dordover-Magie?«

»Ja.«

»Das könnte wirklich ein sehr glückliches Zusammentreffen sein.« Er runzelte die Stirn. »Was, zum Teufel, wollte er mit ihr?« Er schüttelte den Kopf und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Elf. »Wie lange, bis du stirbst?« Ilkar schaute zu Denser auf und schüttelte den Kopf. »Wie lange, Ilkar?«

Der Elf zuckte mit den Achseln. »Drei Stunden, vielleicht etwas länger.«

Denser grunzte, setzte sich sofort hinter Ilkar und nahm den Julatsa-Magier zwischen die Beine.

»Lehne dich an mich«, befahl er. Ilkar legte sich zurück. Denser drehte sie beide herum, bis sie in die gleiche Richtung schauten wie Hirad. Ilkar musste den Arm nach rechts strecken, um die Wunde des Barbaren zu berühren.

»Jetzt mach deine Beine lang«, sagte Denser. Ilkar zuckte zusammen, doch er schaffte es.

Jandyr sah verwirrt zu. Da saß also Denser, die Hände auf Ilkars Schultern gelegt, Ilkar selbst ruhte auf Densers Schoß und tastete ruhelos über Hirads Bauch.

»Was macht ihr da?«, wollte er wissen.

»Ich erkläre es später«, sagte Denser. »Hole einen Stuhl. Stelle ihn so auf, dass er meinen Rücken stützt. Und jetzt Ilkar, sage mir, was genau dich tötet?«

»Mehrere Dinge. Meine rechte Lunge ist durchbohrt, sie füllt sich mit Blut und könnte zusammenfallen. Meine Nieren sind zerschlagen und arbeiten nicht mehr richtig, und ich glaube, auch meine Leber blutet.«

»Nun gut.« Denser veränderte die Position seiner Hände. Eine kam in Ilkars Nacken, die andere auf die rechte Seite der Brust. »Überlasse mir die Kontrolle. Gib du dein Mana an Hirad weiter.«

»Und du?« Ilkars Dankbarkeit wurde durch eine Spur echter Sorge um den Zustand des Xeteskianers gedämpft.

Denser schaffte es zu kichern. »Sie haben jeden Zoll meines Körpers mit Prügeln eingedeckt, aber abgesehen von Zehen und Fingern ist kaum etwas gebrochen. Ich schwebe nicht in Lebensgefahr.«

»Danke.« Ilkars Stimme zitterte.

»Es dient ja dem großen Ziel.«

»Trotzdem danke.«

Denser schwieg und drückte mit der Hand leicht auf Ilkars Hals, ehe er sich wieder an Jandyr wandte. »Wir brauchen die andere Magierin. Es kommt auf jede Sekunde an.«

Jandyr nickte. »Die anderen müssten sie inzwischen gefunden haben. Ich hole sie.« Er wollte gehen, doch in diesem Augenblick wurde die gegenüberliegende Tür geöffnet, und Travers kam herein. Auf seinem Kopf hockte die Katze. Die Augen des Hauptmanns waren glasig, er ging gebückt und gebeugt, als sei er in den letzten paar Minuten, seit er den Raum verlassen hatte, um zwanzig Jahre gealtert.

Denser lächelte. »Wie ich sehe, habt Ihr mein Haustier gefunden.«

Travers kam zu sich, als die Katze auf den Boden sprang und zu Denser trabte. Der Hauptmann nahm die Szene in sich auf, er betrachtete Ismans Leiche und den seltsamen Anblick, den das Raben-Trio ihm bot. Er runzelte die Stirn.

»Ich dachte …«

»Ihr seid nicht mehr wichtig, Travers. Ihr seid nichts. Doch die Kette, die Ihr tragt, ist alles.« Travers tastete nach seinem Hemd, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich noch. Denser bemerkte Jandyrs Blick. »Ich glaube, du solltest draußen warten. Du wirst es nicht sehen wollen.« Jandyr zögerte, sein Gesicht verriet seinen Zweifel, dann verließ er den Raum und legte vorsichtshalber einen neuen Pfeil ein.

»Bitte …« Travers machte einen Schritt hin zu Denser, der ihn ignorierte und die Katze ansah.

»Töte ihn.« Die Katze verwandelte sich, und Travers’ Flehen war nur noch ein unverständliches Stammeln. Denser sah ihn ein letztes Mal an.

»Ihr dachtet, Ihr könntet den Raben zähmen. Das dachte ich auch. Doch es ist nicht möglich. Ich aber werde immerhin überleben und meinen Irrtum wiedergutmachen können.« Sein Hausgeist geiferte schon. »Gott sei Dank haben wir Euch besiegt. So hat Balaia wenigstens noch eine Chance, sich selbst zu retten.«

Densers Dämon überwand die Entfernung zu Travers mit einem einzigen Sprung.

»Schließe die Augen, Ilkar«, sagte Denser.

Der Hauptmann schrie.

 

Jandyr kämpfte gegen das Verlangen an, die Tür zu öffnen. Travers’ Schreie zeugten von einer Angst, die tiefer war, als ein Mensch sie ertragen konnte, doch zum Glück brachen sie rasch ab. Der Elf hörte ein Geräusch, das so klang, als sei eine Melone auf den Boden gefallen, und musste sich sehr beherrschen, um sich nicht zu übergeben.

Als er eilige Schritte die Treppe herunterkommen hörte, drehte er sich um. Er spannte den Bogen, ließ aber sofort wieder los, als er eine Frau sah, bei der es sich um Erienne handeln musste. Sie wurde von Thraun und Will begleitet.

»Aus dem Weg«, rief Erienne und wollte sich an ihm vorbeischieben. Jandyr packte ihre Oberarme und hielt sie fest.

»Ihr könnt dort nicht hinein. Noch nicht.« Er sah an ihr vorbei zu Thraun. »Halte sie fest, während ich nachsehe, was drinnen vor sich geht.« Thraun übernahm Erienne, die nur einen halbherzigen Versuch machte, sich seinem Griff zu entwinden.

»Ihr könnt Travers nicht ewig schützen«, knirschte sie. Das Feuer in ihren Augen brannte hell und heftig.

»Glaubt mir, wir beschützen ihn keineswegs«, sagte Jandyr.

»Was ist denn los, Jan?«

»Der Rabe ist da drin, oder drei von ihnen. Travers war auch da, aber ich glaube, er ist tot.«

»Ihr glaubt es?«, zischte Erienne.

»Sie wollten mich nicht zusehen lassen.« Jandyr hielt inne. »Hirad ist verletzt. Er liegt im Sterben. Der Raben-Magier braucht Eure Hilfe.« Er nickte Erienne zu und drehte sich zur Tür um. »Wartet einen Augenblick.«

Er lugte hinein. Alles war ruhig, nur unter der Decke, die jetzt Travers’ Kopf und Oberkörper bedeckte, kam eine sich langsam ausbreitende Blutlache zum Vorschein. Denser und Ilkar waren nicht von Hirads Seite gewichen, und die Katze hatte sich auf dem Stuhl zusammengerollt, der Densers Rücken stützte. Sie putzte sich die Pfoten und den Schnurrbart.

Der Elf betrat den Raum und hielt den anderen die Tür auf. Sie traten ein und blieben sofort wieder stehen, um aufzunehmen, was sie sahen. Nur Erienne begriff es sofort. Sie ging langsam zu Denser, hielt inne und erkundete die Bewegungen des Mana.

»So etwas auch. Ein Julatsaner und ein Xeteskianer leiten gemeinsam Mana zu einem sterbenden Mann. Ich glaube, ich wundere mich über gar nichts mehr.« Ihre Stimme war kalt, doch die feuchten Spuren auf ihrem Gesicht verrieten, was wirklich in ihr vorging.

»Ich wünschte, wir wären uns unter angenehmeren Begleitumständen begegnet«, sagte Denser.

»Unter angenehmeren Begleitumständen?«, kreischte sie. »Meine Kinder sind tot, du Bastard! Sie sind tot. Ich sollte euch auf der Stelle in die Hölle schicken, alle zusammen, die ihr da sitzt.«

Denser schaute auf und drehte sich um, bis er Thraun entdeckte. Der Mann nickte.

»Es ist wahr«, sagte er. »Einer der Wächter hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten.«

»Und das alles, weil deine Leute dich retten wollten«, brachte Erienne hervor, während heftiges Schluchzen ihren ganzen Körper beben ließ. »Mein Leben wurde mir genommen, und ich konnte nichts dagegen tun.« Sie ließ sich von Thrauns starken Armen umfangen. Er stützte sie und führte sie zu einem Stuhl. »Ich war nicht einmal bei ihnen … sie sind allein gestorben.«

»Lasst Euch Zeit, Erienne«, sagte er. »Lasst Euch Zeit.« Er streichelte ihr Haar.

»Bitte«, sagte Denser. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Hirad stirbt.« Erienne nahm die Hände vom Gesicht und sah ihn aus roten, verquollenen Augen scharf an.

»Und warum sollte mich das interessieren?« Sie stand auf, ging zu ihm und blickte angewidert auf ihn hinab. »Weißt du, warum ich entführt wurde? Weil Xetesk mit der Suche nach Dawnthief begonnen hat, und weil Travers dachte, ich könnte ihm helfen, den Spruch zu kontrollieren. Wegen dir und deines Kollegs sind meine Jungen gestorben. Nun, Denser, du großer Dawnthief-Magier, ich könnte mich einfach hierhersetzen und zusehen, wie dein Freund stirbt. In diesem Punkt habe ich immerhin die Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen, was ich bei meinen Kindern nicht konnte.« Sie schob das Kinn vor, und frische Tränen strömten in ihre Augen. Sie wandte sich ab.

Denser wollte eine Entschuldigung formulieren, doch alles, was ihm einfiel, wäre schrecklich unangemessen gewesen. So sagte er nur: »Xetesk will Dawnthief nicht für sich selbst.«

»Der Blitz soll dich treffen, Denser. Ich glaube dir kein Wort.« Erienne ging zu ihrem Stuhl und setzte sich.

Denser holte tief Luft, obwohl seine geschundenen Muskeln protestierten. »Du musst mir glauben. Die Wytchlords sind aus dem Mana-Gefängnis entflohen und nach Parve zurückgekehrt. Dawnthief ist der einzige Weg, sie zu vernichten und achtzigtausend Wesmen davon abzuhalten, unser Land in Stücke zu reißen.«

Mit gerunzelter Stirn sah sie ihn an.

»Bitte, Erienne«, fuhr er fort. »Niemand kann ermessen, wie sehr du leidest, doch du kannst Hirad retten. Wenn wir die Wytchlords besiegen wollen, dann brauchen wir ihn.«

»Warum?«

»Weil er den Raben anführt, und weil wir den Spruch in unseren Besitz bringen wollen. Ohne ihn sind wir nicht stark genug.« Denser hustete, und ein Blutfaden lief ihm aus dem Mundwinkel.

Erienne hätte beinahe laut gelacht. »Das ist aber eine ausgefallene Geschichte. Und was sagst du, Ilkar? Ich nehme doch an, du bist Ilkar, der Magier des Raben?«

»Ich glaube ihm«, sagte Ilkar. Seine Stimme war leise und schwach.

Erienne zog die Augenbrauen hoch. »Wirklich? Nun, das ist beeindruckend.« Sie ging steifbeinig zur Tür und machte sich nicht mehr die Mühe, ihre Tränen wegzuwischen. »Ich hatte nicht die Macht, über das Leben meiner Kinder zu entscheiden, aber ich habe diese Macht in Bezug auf euch. Und ich habe Macht über euren Tod. Meine Kinder brauchen mich.«

»Denk doch nach, Erienne«, rief Denser ihr nach. »Und ruhe dich aus. Erhole dich. In diesem Augenblick liegt das Schicksal Balaias in deinen Händen.«

Erienne hielt inne und wandte sich an Denser, der ihren Blick erwiderte. »Es ist mein Ernst«, sagte er.

Sie verließ den Raum. Thraun begleitete sie und ließ sie keine Sekunde aus den Augen.

»Es wird eine lange Nacht«, sagte Denser.

Ilkar bewegte sich und zuckte sofort zusammen. Er öffnete die Augen und sah sich mit glasigen Augen um.

»Wo sind die anderen?«, sagte er.

»Wer denn?« Will kam zu ihm herüber.

»Talan und Richmond.«

Will warf einen kurzen Blick zu Denser und biss sich auf die Unterlippe. Denser spürte eine neue Last auf seinem Herzen.

»Ich habe Talan fallen sehen. Ich weiß nichts über Richmond, aber, nun ja, er ist nicht hier. Es tut mir leid.« Will zuckte mit den Achseln.

Ilkar schüttelte langsam den Kopf und konzentrierte sich wieder auf Hirad. Der Atem des Barbaren ging flach, aber sein Zustand hatte sich wenigstens für den Augenblick stabilisiert. Ilkar konnte nur hoffen, dass all dies überhaupt einen Sinn hatte. Denser konnte ihn und er konnte Hirad für schätzungsweise weitere zwölf Stunden am Leben halten, doch das war auch schon alles, was sie tun konnten. Die Prügel, die Travers’ Männer ihm verpasst hatten, verfehlten ihre Wirkung nicht. Früher oder später versiegte das ganze Mana, die letzten Tropfen, die ihnen nicht einmal Travers hatte nehmen können. Wenn sie keine Unterstützung bekamen, dann wurden die letzten Nägel in den Sarg geschlagen, und der Rabe gehörte der Vergangenheit an.

Denser drückte seine Schulter. »Sie wird uns helfen. Warte einfach ab.«

»Ich kann sonst nichts mehr tun«, sagte Ilkar. »Er ist alles, was ich habe.« Er sah Hirads ruhiges, regloses Gesicht an. »Nur du und ich, alter Freund. Wage es ja nicht, ohne mich zu sterben.«

Er wollte sich wieder in die leichte Trance fallen lassen und mit seinem Bewusstsein Hirads verletzten Bauch heilen und die Stelle suchen, wo sein Rinnsal von lebenserhaltendem Mana die größte Wirkung entfalten konnte, doch in diesem Moment wurden die hinteren Türen geöffnet.

Etwas unsicher auf den Beinen, aber sonst völlig lebendig, betrat Talan den Raum. Will und Jandyr entspannten sich, Will lächelte sogar. Auch Ilkar lächelte einen kleinen Augenblick. Doch seine Freude verflog so rasch, wie sie gekommen war. Auf Talans Armen lag Richmond mit schlaffen Beinen, pendelndem Kopf und hängenden Armen. Talans bekümmertes Gesicht verriet genug. Der Kämpfer legte den toten Freund auf den nächsten Tisch.

»Das ist mir eine Totenwache zu viel«, sagte er. »Es muss doch …« Dann wanderte sein Blick, der bisher auf Ilkar geruht hatte, zu Hirad, und der Kummer in seinem Gesicht wich schierem Entsetzen. »Oh, nein«, sagte er tonlos. »Bitte, Gott, nein.« Er wollte sich in Bewegung setzen, doch Denser hielt ihn auf.

»Er lebt noch«, erklärte der Xeteskianer. »Und wir können nur hoffen, dass er vorläufig am Leben bleibt.«

Die Erleichterung, die ihm durch die Worte des Magiers zuteilwurde, raubte seinen Beinen die letzte Kraft, und er setzte sich schwer.

»Und dann?« Talan hatte Densers Unsicherheit bemerkt.

»Dann wird hoffentlich Erienne helfen. Sie ist Hirads einzige Chance.«

»Was meinst du damit, dass sie hoffentlich hilft?« Talan betastete seinen Hinterkopf und erforschte die Schwellung, das verkrustete Blut und das verklebte Haar.

»Ihre Söhne sind tot, und damit, so glaubt sie, sei ihr Leben vorbei. Sie gibt dem Raben die Schuld.«

»Und wenn sie nicht hilft?« Talans Gesicht machte deutlich, dass er die Antwort bereits kannte. Ilkar bestätigte nur noch, was er ohnehin schon fürchtete. Und es kam noch schlimmer.

»Hirad wird sterben«, sagte er. »Und ich fürchte, ich werde ebenfalls sterben.« Der Julatsaner zog die Augenbrauen hoch, dann konzentrierte er sich wieder auf den sterbenden Hirad.

Talan legte eine Hand an den Mund und knetete zwischen Daumen und Zeigefinger seine Unterlippe. Der pochende Schmerz im Hinterkopf war völlig vergessen, während er über die schlimmen Neuigkeiten nachdachte. Alles lag offen vor ihm, und doch weigerte er sich, es zu glauben. Zugleich wusste er aber auch, dass es keinen Zweifel geben konnte. Ilkar beschrieb die Dinge stets so, wie er sie sah, und er hatte gerade erklärt, dass das Ende nahte. Möglicherweise. Erienne war der Schlüssel. Sie musste es verstehen. Er stand auf.

»Wohin willst du?«, fragte Denser.

»Wo ist Erienne?«, fragte Talan.

»Du wirst uns nicht helfen, wenn du sie unter Druck setzt«, warnte Denser.

»Was weißt du denn schon?«, rief Talan. »Sind es deine Freunde, die vor deinen Augen sterben? Ich glaube nicht. Der Rabe wurde zum ersten Mal überhaupt geschlagen, und es kann noch schlimmer kommen. Sie muss die Konsequenzen verstehen …«

»Sie weiß es.« Ilkars Stimme war schwer vor Erschöpfung. »Wir müssen darauf vertrauen, dass ihre Magier-Instinkte ihren Kummer verdrängen, bevor es zu spät ist. Wir haben alles getan, was wir tun konnten.« Er atmete ein, flatternd und voller Schmerzen. »Bitte, mach keinen Lärm mehr. Es ist auch so schon schwer genug.«

»Wir könnten wohl alle etwas zu essen gebrauchen«, sagte Denser. »Die Küche ist …«

»Ich weiß, wo sie ist.« Teilweise, um Densers Bitte zu entsprechen, teilweise aber einfach auch, um möglichst schnell aus dem Raum herauszukommen, zog Jandyr los und suchte etwas Essbares. Der Kummer und die Verlustgefühle waren fast körperlich greifbar. Er fand die Atmosphäre bedrückend, und sobald die Tür hinter ihm zufiel, konnte er wieder frei atmen. Er stieg über die beiden Leichen hinweg und ging in die Küche.

Ilkar forschte mit seinem Bewusstsein und seinen Fingern, er ließ das Mana in Wellen fließen und hielt Hirad am Leben. Ismans Schwert war tief eingedrungen und hatte Hirads Eingeweide an einem halben Dutzend Stellen aufgerissen und durchschnitten. Die Spitze hatte die Wirbelsäule angekratzt, doch sonst war das Rückgrat nicht verletzt. Das größte Problem nach dem aufwärts geführten Stich war der Magen, den die Klinge ebenfalls getroffen hatte. Das Verdauungssystem war völlig zusammengebrochen, die vielen inneren Verletzungen erforderten ständige Zuwendung, und dabei konnte Ilkar schon den Zeitpunkt kommen sehen, an dem die Nieren versagen würden.

Eine Warme Heilung allein würde nicht ausreichen. Vielleicht zwei oder drei, wenn man sie sorgfältig ausrichtete, doch er war nicht sicher, ob Hirad überhaupt noch so viel Zeit blieb. Die schlichte Wahrheit war, dass Hirad einen Körperspruch brauchte. Ilkar kannte nur drei Magier, die diesen Spruch mit einer gewissen Zuverlässigkeit wirken konnten. Keiner von ihnen befand sich hier auf der Burg.

Hirad war im Augenblick so gut wie möglich versorgt, und Ilkar konnte sich auf sich selbst konzentrieren. Er spürte, wie das Mana von Densers Händen in ihn floss und tröpfelte. Der sanfte Strom hatte die Blutung in der Lunge gestillt und seinen Atem erleichtert. Von seinem Halsansatz flossen Wellen des Manas über seine Blutgefäße in den Körper, um die am stärksten beschädigten inneren Organe zu heilen.

Ilkar schickte ein Dankgebet dafür zum Himmel, dass die Kollegien wenigstens in dieser Hinsicht ewig geeint sein würden, denn jeder Magier hatte die Fähigkeit, winzige Mengen von Mana auszusenden, um einen Verletzten am Leben zu halten, egal, in welchem Zustand er sich befand, und jeder Magier war moralisch verpflichtet, seine Fähigkeiten auch einzusetzen. Dennoch war Ilkar zunächst überrascht gewesen, als Denser auf diese Weise half. Vielleicht hätte er nicht überrascht sein sollen.

Die Zeit verstrich langsam. Ilkar bemerkte am Rande seines Bewusstseins, dass zwischen den schweren Vorhängen Tageslicht hereinfiel, und irgendwann wurde ihm Suppe eingeflößt. Doch als die Stunden vergingen, brauchte Hirad immer mehr Konzentration, und die Welt ringsum verblasste.

Er wurde müde, und er wusste es. Die Schmerzen im Rücken, in Armen und Beinen waren wieder da. Denser konnte das alles nicht abdecken. Sein Mana sorgte dafür, dass Ilkar am Leben blieb. Doch der Julatsaner hatte seine Mana-Reserven erschöpft, und als sich seine Kraft dem Ende zu neigte, forderte er einen immer größeren Zustrom von Denser.

Der Zeitpunkt rückte näher, an dem sie die Schmerzen im eigenen Körper nicht mehr unterdrücken konnten, weil ihr ganzes Mana weitergeleitet wurde. Dann war das Ende nah. Dann musste Erienne helfen, oder er und Hirad mussten sterben.

 

Styliann entspannte sich und lächelte in sich hinein, als er sich aus der Kommunion löste. Er stellte sich Selyn vor, sah ihren sich vor Lust windenden Körper und glaubte beinahe, ihre Lippen und ihre zärtlichen Hände zu spüren. Ihre Rückkehr sollte eine Veränderung einleiten. Er brauchte einen Sohn.

Im Augenblick aber war sie tief im Land der Wesmen in Richtung Parve unterwegs und würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Befürchtungen bestätigen, die die vier Kollegien seit der Verbannung der Wytchlords gehabt hatten. Eine Rückkehr. Eine Rückkehr sogar zu einer Macht, die viel größer war als jemals zuvor, schwerer aufzuhalten und kaum zu besiegen. Ganz gewiss nicht ohne den Dawnthief. Weil die Kollegien nicht mehr so stark und ihre Heere nicht mehr so groß wie früher waren. Ohne den Spruch würden sie alles verlieren.

Selyn hielt sich unterdessen tagsüber versteckt, bewegte sich in der Nacht zum Teil mit Schattenschwingen und kam rasch und sicher in Richtung Torn-Wüste voran. In drei Tagen sollte sie deren Grenze erreichen, Parve etwa in vier Tagen. Er konnte damit rechnen, die nächste Kommunion mit ihr in ungefähr fünf Tagen zu halten. Schwere Zeiten standen ihnen bevor. In so großer Gefahr hatte sie noch nie geschwebt. Und er wollte dafür sorgen, dass es nie wieder so weit kommen musste.

Seine Gedanken irrten ab, und er sah müßig aus dem Fenster seines Arbeitszimmers zu den Türmen von Nyer und Laryon hinüber. Nyers Mann war in Septerns Werkstatt eingedrungen, doch er hatte seitdem mit seinem Meister keine Kommunion mehr gehalten. So sah es angeblich aus. Styliann hatte freilich das Gefühl, nicht in alles eingeweiht zu werden. Dies erzürnte ihn sehr.

Wieder lächelte er. Alle vertrauten Laryon. Der Arbeiter, das Genie, der Freund. Vielleicht war es an der Zeit, das neue Mitglied des Kreises etwas stärker einzubeziehen. Styliann konnte Nyers Aktivitäten nicht genauer verfolgen, und er konnte ihm keine eindringlichen Fragen stellen, ohne Verdacht zu erregen. Laryon dagegen hatte kein Problem damit. Styliann streckte den Arm aus und zog an der Kette neben dem Feuer. Der Wein, den er bestellte, sollte mit zwei Gläsern serviert werden.

 

Die Zeit war, schon lange bevor Hirads Nieren versagten, eine irrelevante Größe für Ilkar. Die beiden Nieren stellten unmittelbar nacheinander den Dienst ein und zwangen den Julatsaner, die Beruhigung seines eigenen Körpers völlig aufzugeben, als der Kampf um Hirads Leben in seine letzte, verzweifelte Phase trat.

»Denser«, murmelte er.

»Ich weiß«, sagte Denser.

»Wo ist sie?«

»Sie kommt. Halte durch.« Denser schickte Mana durch Ilkars verletzten Rücken, doch die Linderung verstärkte zugleich auch die Wahrnehmung seiner eigenen Schmerzen.

So weit war es also gekommen. Hirad lag im Sterben und wurde zusehends schwächer. Ilkar schickte alles, was er hatte, in den sterbenden Körper des Barbaren. Er musste eine Niere ignorieren und sie bluten lassen und sich auf die zweite konzentrieren. Die ganze Zeit über schrie sein eigener geschundener, schmerzender Körper um Hilfe. Sein gebrochener rechter Arm sandte Wellen von Schmerz aus, dass ihm übel wurde, und sein Kreuz brannte, als liege er in einem Feuer. Die Beine fühlten sich an, als seien sie auf der ganzen Länge harten Hammerschlägen ausgesetzt.

Doch er konnte sich selbst keine Linderung verschaffen, sonst würde er Hirad sterben lassen. Auch Denser konnte er nicht darum bitten. Der Xeteskianer war mit seinem ganzen Manastrom bereits damit beschäftigt, ihn am Leben zu halten. Ilkar war nicht entgangen, dass Denser immer öfter keuchte und nach Luft schnappte. Es war klar, dass er nicht ganz ehrlich über seine eigene Verfassung berichtet hatte.

»Wie lange noch, Ilkar?«

»Er oder ich?«, knirschte Ilkar.

»Ist das nicht das Gleiche?« Auch Densers Stimme klang entsetzlich müde.

»Nicht ganz. Er hat weniger als eine Stunde. Seine Nieren.« Und dann auf einmal, so plötzlich, dass Ilkar beinahe den Manafluss zum Barbaren unterbrochen hätte, durchströmte ihn eine lindernde Wärme, und er wusste, dass sie gekommen war. Die Wärme folgte seinen Mana-Fühlern und strömte weiter zu Hirad.

»Du bist großzügig.« Eine Frauenstimme, nahe an seinem Ohr. »Er hat weniger als eine halbe Stunde. Du übersiehst, wie ernst dein eigener Zustand ist.«

So plötzlich, wie sie gekommen war, verschwand die Wärme wieder, und Ilkar sah sich von Schmerzen überflutet.

»Nun?«, fragte Denser.

»Es ist möglich.« Wieder die Frauenstimme.

»Alle beide?«

»Wenn du den Julatsaner halten kannst. Falls es das ist, was du willst.«

»Es ist das, was ich will.«

»Es gibt einen Preis dafür.«

»Ich verstehe.«

»Das hoffe ich sehr.«

Ilkar schüttelte den Kopf. Ein Preis, zu zahlen von einem Xeteskianer an eine Dordovanerin. Dennoch. Wie Denser zuvor schon selbst gesagt hatte, es gab ein größeres Ziel. Die Wärme war wieder da und strömte in Hirads Körper.

»Überlasse ihn mir, Ilkar«, sagte Erienne.

»Ich …«

»Du musst«, drängte sie ihn. »Sonst kann Denser dich nicht retten.«

Ilkar wusste, dass sie Recht hatte. Nach einem letzten Impuls zog er sich von Hirad zurück, nahm die Hände vom Bauch des Barbaren und konzentrierte sich auf die Verletzungen seines eigenen Körpers.

Er blendete die Schmerzen aus und spürte, wie Denser ihm eine Hand auf die Stirn legte. Langsam wurde es dunkel und friedlich um ihn, und er fühlte sich, als schwebte er.

Erienne erforschte Hirads Körper und seufzte. Sie sollte den Mann sterben lassen. Vor ihr lag einer der Gründe dafür, dass ihre Söhne tot waren. Der Anführer des Raben. Es wäre nur gerecht, wenn sie ihn sterben ließe. Das würde das Gleichgewicht ein Stück weit wiederherstellen.

Doch Denser hatte tief in sie geblickt, als er sie um Hilfe bat. Er wusste, dass sie die Aussicht auf den Dawnthief viel zu faszinierend finden würde, um seine Bitte abzuschlagen. Außerdem wusste er, dass sie ihre Berufung nicht verleugnen konnte. Doch der Kodex der Heiler hielt sie nicht davon ab, für das Leben derjenigen, die sie retten sollte, einen Handel anzubieten. In diesem Fall konnte der Handel ihr sogar einen Grund zum Weiterleben geben. Das gleiche Ziel, eine neue Ausrichtung, und Densers Anregung war ideal. Es wäre natürlich alles umsonst, wenn Hirad und Ilkar sterben sollten. Sie konzentrierte sich auf das unmittelbar vor ihr liegende Problem. Hirads einzige Hoffnung war ein Körperspruch. Sie benötigte mehr als zwanzig Minuten, um sich vorzubereiten. Als sie begann, konnte sie nur beten, dass er so lange durchhalten würde.

 

Inmitten seiner schlimmen Qualen versuchte Hirad, sich wieder nach oben zu kämpfen. Irgendwo weit über ihm gab es eine Wärme, die ihn anzog. Ihm war gar nicht klar, dass er schon so tief gestürzt war, und er wusste nicht, ob er den Rückweg schaffen konnte. Versuche es, Hirad, versuche es. Eine Stimme drang zu ihm vor, durchbrach seinen Dämmerzustand. Eine Frauenstimme. Er versuchte es.